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»Sie haben mir sechs Cent zuwenig herausgegeben.«

»Tut mir leid, Madame. Es ist meine Schuld.«

»Natürlich ist es Ihre Schuld. Sie haben schon letzte Woche versucht, mich zu betrügen.

»Nein, Madame. Ich versichere Ihnen, es war ein Versehen.«

»Falls Mr. O’Hare seine Kundschaft nicht verlieren will, sollte er Verkäuferinnen einstellen, die rechnen können.« Die Frau mit den groben, harten Gesichtszügen starrte Alice feindselig an und trommelte mit den Fingerspitzen auf den Ladentisch. Alice war verzweifelt. Sie hatte sich entschuldigt, was erwartete die Frau noch von ihr? Sie wickelte ein Band auf die Papprolle. »Sechs Cent«, wiederholte die Frau.

»Ja, natürlich, Madame.« Alice bückte sich hinter dem Tresen nach ihrer Handtasche und nahm sechs Cent aus ihrer Börse. Heute war es ihr dreimal passiert, daß sie verkehrt herausgegeben hatte, und sie wagte nicht noch einmal, Mr. O’Hare ihr Versehen zu gestehen. Sie legte die Münzen in die ausgestreckte Hand der Frau.

»Gibt es hier irgendwelche Probleme?« Mr. O’Hare trat aus seinem winzigen, mit Ordnern vollgestopften Büro und blieb oben an der Treppe stehen, von der aus er den ganzen Laden überblicken konnte. In diesem kleinen, hölzernen Käfig, eingepfercht zwischen Haushaltswäsche und Babykleidern, verbrachte er den größten Teil des Tages. Während der Geschäftszeit spazierte er nur gelegentlich mit auf dem Rücken verschränkten Händen durch sein Reich, zupfte hier ein Stück Spitze zurecht und schob dort einen Karton mit Knöpfen beiseite. In den sechs Wochen, die Alice jetzt für ihn arbeitete, hatte er selten das Wort an sie gerichtet. Er schien ein netter Mann zu sein, denn keines der anderen Ladenmädchen hatte sich über ihn beklagt. Aber er war ihr Arbeitgeber, und deswegen hatte sie Angst vor ihm.

Jetzt stand er neben seiner Kundin. Er hatte glattes, dichtes, kupferfarbenes Haar und ein langes Gesicht mit einem leicht bläulichen Teint voller Sommersprossen. Seine wäßrigen grauen Augen mit den rötlichen Wimpern musterten abwechselnd die Kundin und Alice.

»Ist heute, nicht ein schöner Tag, Mrs. Greenslade?« fragte er lächelnd und wippte auf den Fußballen seiner auf Hochglanz polierten, knarzenden Stiefel vor und zurück.

»Es wäre ein schöner Tag, wenn man nicht versucht hätte, mich zu betrügen«, entgegnete die Frau giftig.

»Ich habe mich geirrt, Mr. O’Hare«, sagte Alice ängstlich und sah ihren Arbeitgeber flehend an. Meinen Job wegen sechs Cent zu verlieren, wäre zu grausam, dachte sie.

»Warum haben Sie mir dann das Geld aus Ihrer Tasche zurückbezahlt? Warum sind Sie nicht zu Mr. O’Hare gegangen und haben ihm Ihren Fehler eingestanden?« keifte die Frau triumphierend.

»Ich wollte ihn nicht belästigen. Sie haben doch jetzt Ihr Geld, und ich habe mich entschuldigt. Sie haben kein Recht, mich als Betrügerin und Diebin zu beschimpfen.« Alice hatte zwar Angst um ihren Arbeitsplatz, aber sie konnte nun ihre Wut nicht mehr unterdrücken.

Mrs. Greenslade warf Alice einen gehässigen Blick zu und sagte höhnisch: »Mr. O’Hare, warum stellen Sie Leute ein, die Sie betrügen und bestehlen?«

»Miss Tregowan ist nicht die tüchtigste Verkäuferin, wie ich gestehen muß, Mrs. Greenslade. Aber betrachten Sie doch einmal ihre Schönheit! Hätte der Herr ihr auch noch mathematisches Können verleihen sollen?« Mr. O’Hare lächelte gutmütig. »Ihr Männer seid doch alle gleich – ein hübsches Frätzchen raubt euch das letzte bißchen Verstand«, schnaubte Mrs. Greenslade.

»Wie wahr, Mrs. Greenslade. Ich bin ein alter Mann, und mir ist es nur noch vergönnt, Schönheit bewundern zu dürfen. Möchten Sie denn wirklich, daß ich mir dieses kleine Vergnügen verwehre?«

»Sie reden dummes Zeug, Mr. O’Hare. Mit dieser Einstellung vertreiben Sie Ihre Kundschaft.«

»Wenn ich die Wahl zwischen Ihren Einkäufen und Miss Tregowans wunderschönem Lächeln habe, dann, Mrs. Greenslade, so leid es mir tut, ziehe ich dieses Lächeln vor.« Mr. O’Hare verneigte sich leicht.

Mrs. Greenslade starrte ihn mit offenem Mund an, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte wutentbrannt aus dem Laden.

»Mr. O’Hare, das hätten Sie nicht sagen dürfen. Jetzt kommt sie bestimmt nie wieder.«

»Na und?« Er hob seine schmächtigen Schultern und lächelte Alice an. »Was hat sie denn gekauft?«

»Fünfundsechzig Zentimeter Satinband und ein Meter und fünfunddreißig Zentimeter Gummiband. Bei den fünfunddreißig Zentimetern habe ich mich wohl verrechnet.«

»Machen Sie sich deswegen bitte keine Sorgen. Seit Jahren kommt diese Frau hierher und kauft im Monat höchstens für zwanzig Cent ein. Ich bin der Mrs. Greenslades dieser Welt überdrüssig, die glauben, das Recht zu haben, andere Menschen wie Dreck behandeln zu dürfen.«

»Aber ich muß gestehen, daß ich Fehler gemacht habe. Mit dem Rechnen stand ich schon immer auf Kriegsfuß. Meine Gouv...« Alice verstummte abrupt. Niemand wußte etwas über ihre Herkunft. Nachdem sie zwei ihrer Kleider umgenäht und gefärbt hatte, paßte sie auch äußerlich in ihre neue Umgebung. Sie wollte weder, daß man sie für überheblich hielt, noch Mitleid mit ihr hatte. »Ich bin nie mit Zahlen zurechtgekommen«, beendete sie den Satz.

»Arme Miss Tregowan. Vielleicht würde es Ihnen mehr Freude machen, die Waren dekorativ zu arrangieren? Die Schaufenster wirken nicht sehr anregend. Auch in meinem Büro herrscht ein heilloses Chaos. Mit Ihrer schönen Handschrift könnten Sie meine Geschäftsbriefe schreiben ...«

»Mr. O’Hare, Sie sind sehr nett zu mir.«

»Nein, das bin ich nicht. Ich meinte, was ich vorhin sagte. Ihr schönes Gesicht, so frisch und lebendig wie der Morgen, gibt einem alten Mann wie mir viel Freude. Und ihre angenehme Stimme klingt wie Musik in meinen Ohren.«

Alice lächelte und errötete. Sie war ungeheuer erleichtert, sich nicht mehr mit Metern und Zentimetern und Cent und Dollar herumschlagen zu müssen.

In den folgenden Wochen war Mr. O’Hare sehr zufrieden mit diesem neuen Arrangement – jedes Schaufenster wurde zum Blickfang, und in seinem Büro herrschte peinliche Ordnung.

Alice dankte täglich dem Himmel für diese Veränderung in ihrem Leben. Da sie jetzt keine Angst mehr haben mußte, beim Berechnen der Waren Fehler zu machen, ging sie jeden Morgen frohen Mutes zur Arbeit. Es war ein Vergnügen, mit Mr. O’Hare zu arbeiten, und er dankte ihr ständig für ihre Hilfe. Mit seinen blumigen Komplimenten brachte er sie zum Lachen, obwohl sie wußte, daß er bewußt lächerliche Redewendungen gebrauchte. Ihre Unterhaltungen waren witzig und amüsant. Aber vor allem war sie glücklich bei Mrs. Feinstein.

Alice’ Metamorphose vom Pensionsgast zur Haustochter hatte sich ganz subtil vollzogen und war von Mrs. Feinstein auf feinfühlige Weise arrangiert worden. Nachdem sich Alice von ihrem Schock über Chas’ schmählichen Verrat erholt hatte, half ihr diese fürsorgliche Frau, in die Normalität zurückzufinden. Sie hatte nie neugierige Fragen gestellt, warum eine junge Engländerin völlig mittellos und ohne Freunde in New York gestrandet war. Sie hatte Alice allmählich aus ihrer Reserve gelockt, indem sie ihr Blumen aufs Zimmer stellte, ein Lavendelsäckchen auf ihr Kissen legte, einen extra Klacks Schlagsahne auf ihren Kaffee tat und ihr stets das größte Stück Apfelstrudel gab, für den sie im ganzen Viertel berühmt war. Neben Alice gab es noch zwei Mieter – einen Polen, der kaum Englisch sprach, und einen Deutschen, mit dem sich Mrs. Feinstein gern in ihrer Muttersprache unterhielt. Doch diese beiden Mieter wurden nie in Mrs. Feinsteins Wohnzimmer eingeladen.

Dieser Raum war außergewöhnlich. Mrs. Feinstein schien eine Vorliebe für alles zu haben, was glitzerte und leuchtete. Man kam sich darin vor wie in einer Schatzkammer. Alle Lampen waren aus buntem Glas, die das Licht in ein brillantes Farbenspiel verwandelten. Die voluminösen Polstersessel mit gedrechselten und vergoldeten Beinen waren mit Brokatstoffen bezogen und mit Spitzendeckchen verziert. Alle Vasen, Schmuckstücke und Kerzenhalter waren anscheinend nach ihrer Farbenpracht und ihrem Goldbelag ausgewählt worden. Der scharlachrote Teppich hatte Muster in grellen Grün- und Blautönen und paßte zu den schweren Tapeten, von denen wenig zu sehen war, da alle Wände mit farbenprächtigen Bildern behängt waren, die Landschaften in glühenden Farben darstellten.

Jeden Abend ging Mrs. Feinstein in diesem warmen, leuchtenden Raum zu einer Glasvitrine in einer Ecke, die vollgestopft mit venezianischen Gläsern war, und wählte jedesmal ein anderes farbiges Glas aus, das sie mit Schnaps füllte. Dann holte sie noch eine Schachtel Pralinen und setzte sich Alice gegenüber in einen tiefen Sessel vor dem Kamin.

»Jetzt haben wir’s gemütlich, nicht wahr? Ein Schwätzchen in der Abendstunde ist meine größte Freude.«

Hier erfuhr Alice vom Leben ihrer Pensionswirtin. Ihr Mann, ein deutscher Einwanderer, hatte rund um die Uhr gearbeitet, um sich in New York als Schneider zu etablieren.

»Es war ein hartes Leben, Alice, mein Gott, was haben wir geschuftet.«

Ihr ganzes Streben hatte dem Kauf eines eigenen Hauses gegolten. Vierzehn Jahre lang hatten sie sich jeden Cent vom Munde abgespart, und zwei Wochen nach dem Kauf ihres Hauses war Mr. Feinstein tot umgefallen.

Allein mit drei Kindern hatte Mrs. Feinstein alles darangesetzt, ihr Haus zu erhalten. Sie war jeden Morgen um vier Uhr aufgestanden, hatte Apfelstrudel gebacken und ihn an die Bäckereien verkauft. Außerdem hatte sie Untermieter aufgenommen. Jetzt, da ihre Kinder aus dem Haus waren, buk sie Apfelstrudel nur noch zu ihrem Vergnügen. Die Mieteinnahmen genügten ihr zum Leben.

Wenn Mrs. Feinstein von ihren Söhnen erzählte, strahlte ihr Gesicht vor Stolz, obwohl sie traurig darüber war, daß beide nach Kalifornien gezogen waren, dort geheiratet und ihr Glück gemacht hatten. Die größte Tragödie ihres Lebens war allerdings, daß ihre Tochter einen Christen aus Brooklyn geheiratet hatte, was für sie eine völlig andere Welt darstellte. Seit fünf Jahren hatte sie ihre Söhne nicht mehr gesehen und wartete jetzt sehnsüchtig darauf, einmal ihre Enkelkinder in Kalifornien besuchen zu können.

Jeden Abend hörte sich Alice Mrs. Feinsteins Geschichten an und bewunderte diese tapfere Frau, die mit Mut und Entschlossenheit ihr Leben gemeistert hatte.

Alice hatte befürchtet, ihre Abende allein und einsam auf ihrem Zimmer verbringen zu müssen, statt dessen fand sie ein warmes, behagliches Haus vor, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam.

Sie mochte das Viertel, in dem sie lebte. Es war laut und hektisch, wie fast jede Straße in New York. Alice gewöhnte sich daran. Sie entdeckte, daß diese riesige Stadt eigentlich aus unzähligen kleinen Dörfern mit eigenen Gewohnheiten und Gerüchen bestand. Der Zufall hatte sie in ein vormals großes deutsches Viertel geführt, dessen Häuser aber allmählich gigantischen Neubauten weichen mußten. Alice erfuhr, daß Mrs. Feinstein enorme Summen für den Verkauf ihres Hauses angeboten worden waren, doch sie hielt unbeirrbar an ihrem Heim fest.

»Ich soll das Haus meines Mannes abreißen lassen? Niemals!« hatte sie wiederholt erklärt. »Dann hätte er ja umsonst gearbeitet.«

Alice liebte vor allem das italienische Viertel mit seinen bunten Märkten und dem fröhlichen Treiben in den Straßen. Es gab auch ein jüdisches Viertel, und die Männer dort in ihren langen schwarzen Mänteln und mit den wuchernden Bärten gaben ihr das Gefühl, in einer Szene aus der Bibel zu leben. Zweifelsohne gab es in dieser Stadt für jede Sprache, die sie auf Ellis Island gehört hatte, ein Ghetto. Alice empfand es als tröstlich, einer dieser Gemeinschaften anzugehören. Sie kannte mittlerweile viele Bewohner ihres Viertels, denn sie erledigte für Mrs. Feinstein, die Beschwerden beim Gehen hatte, .die Einkäufe.

So führte Alice ein zufriedenes und angenehmes Leben bis zu dem Tag, als sie im Lagerraum des Geschäfts von einer Leiter fiel und ohnmächtig wurde. Kurz darauf kam sie wieder zu sich, setzte sich erschreckt auf und war erleichtert, daß niemand den kleinen Zwischenfall bemerkt hatte. Ich esse wohl zuwenig, dachte sie beunruhigt.

Vierzehn Tage später saß sie beim Frühstück und betrachtete angeekelt die heiße Schokolode und die Butterbrötchen, die Mrs. Feinstein aufgetragen hatte. Sie trank einen Schluck Schokolade, betupfte ihren Mund mit der Serviette und sagte zu Mrs. Feinstein, sie habe keinen Appetit.

»Alice, setzen Sie sich einen Augenblick«, sagte Mrs. Feinstein freundlich. »Sie können nicht ohne Essen ins Geschäft gehen. Das ist nicht gesund.«

»Ich habe einfach keinen Appetit im Moment«, entgegnete Alice.

»Alice, möchten Sie nicht mit mir sprechen? Sie wissen, ich mag Sie sehr.«

»Danke, Mrs. Feinstein. Ich mag Sie auch, aber jetzt muß ich mich beeilen, sonst komme ich zu spät zur Arbeit.« Sie stand vor dem Spiegel und setzte sich ihren Hut auf.

»Sie wissen doch, daß Sie ein Baby bekommen, nicht wahr, Alice?«

Alice erstarrte. »Ein was?«

»Ein Baby. Ein nettes junges Mädchen wie Sie ist wohl ziemlich ahnungslos, aber ich weiß Bescheid.«

»Aber, Mrs. Feinstein ...« Alice starrte die Frau entgeistert an.

»Sie können sich mir anvertrauen. Ich kenne die Männer ... Ich verurteile gewiß keine Frau«, sagte Mrs. Feinstein resolut. »Woran merkt man ...« Alices Stimme versagte. Sie ließ sich in einem Anfall von Schwäche auf einen Stuhl sinken.

»Seit wann ist Ihre Periode ausgeblieben?«

Alice errötete, denn in ihren Kreisen sprach man nicht über diese Dinge. »Seit Oktober. Aber was hat das mit einem Baby zu tun?«

»Ach, mein armes Kind. Dachte ich es mir doch. In ihren Augen liegt ein gewisser Ausdruck, und Sie sind in den letzten Wochen dicker geworden. Haben Sie denn keine Ahnung?«

»Nein, Mrs. Feinstein. Ich habe es nicht gewußt«, antwortete Alice. »Was soll ich denn jetzt machen?«

»Sie werden das Kind natürlich bekommen. Ein Baby im Haus, na, das wird mir Freude machen.«