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Eine Woche lang lebte Alice wie in Trance. In der darauffolgenden Woche war sie wie gelähmt vor Angst. Danach akzeptierte sie ihr Schicksal auf eine merkwürdig gelassene Art und fand ihre Ruhe wieder.

Sie ging jeden Tag zur Arbeit, vertraute sich niemandem an und versuchte, so geschickt wie möglich ihren Zustand zu verbergen. Die anderen Verkäuferinnen hatten ihr gegenüber von Anfang an eine ablehnende Haltung eingenommen, was sich Alice nicht erklären konnte, denn sie war den Mädchen – die größtenteils aus Irland stammten – stets mit Freundlichkeit begegnet. Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich Engländerin bin und für hochmütig gehalten werde, hatte sie oft resigniert gedacht. Der wahre Grund hatte allerdings nichts mit Politik zu tun. Die jungen Frauen waren einfach eifersüchtig auf Alice, beneideten sie um ihre Schönheit, ihren Charme, ihre gebildete Ausdrucksweise und ihr damenhaftes Auftreten. Mr. O’Hares offensichtliche Zuneigung für Alice vertiefte diesen Neid nur noch. Als die Verkäuferinnen hinter ihrem Rücken zu flüstern begannen und ihr hämische Blicke zuwarfen, wußte sie, daß sie ihr Geheimnis nicht länger bewahren konnte.

Nächtelang quälte sie sich mit dem Problem herum, wie sie Mr. O’Hare über ihren Zustand aufklären sollte. Er war ein aufrichtiger, anständiger Mann, und wenn sie ihm erzählte, daß sie als unverheiratete Frau schwanger war, würde er bestimmt zutiefst enttäuscht sein.

»Könnte ich Sie bitte kurz sprechen, Mr. O’Hare?« fragte sie schließlich im fünften Monat ihrer Schwangerschaft.

»Miss Tregowan, es ist mir stets ein Vergnügen, Ihnen ein paar Minuten meines langweiligen Lebens zu widmen«, antwortete er lächelnd und betrachtete sie über den Rand seines Kneifers hinweg.

Alice holte tief Luft und sagte: »Es tut mir leid, Mr. O’Hare, aber ich kann nicht länger für Sie arbeiten.«

»Miss Tregowan, das kann nicht sein!«

»Leider doch.«

»Fühlen Sie sich nicht mehr wohl bei uns? Hat man Sie schlecht behandelt?«

»Nein, nein, keineswegs. Ich war sehr glücklich hier und werde nie Ihre Freundlichkeit und Ihr verständnisvolles Entgegenkommen vergessen.«

»Kann ich Sie nicht überreden zu bleiben?«

»Nein. Ich muß gehen.«

»Nun gut, Miss Tregowan. Ich werde nicht nach dem Grund fragen, aber ich lasse Sie wirklich nur schweren Herzens gehen.«

»Entschuldigen Sie mich bitte ...« stammelte Alice, floh aus dem Büro und suchte im Aufenthaltsraum für die Verkäuferinnen Zuflucht. Dort setzte sie sich zwischen Einkaufstaschen und Mänteln auf eine Bank und schlug schluchzend die Hände vors Gesicht. Ein Rascheln ließ sie aufblicken. Paula, die Verkäuferin für Hutbesatz, stand vor ihr und betrachtete sie hämisch.

»Na, jetzt sitzt du schön in der Patsche, wie?« höhnte sie. »Wie bitte?« Alice wischte sich die Tränen ab.

»Ach, tu doch nicht so, Alice. Wir alle wissen es, wissen es seit Wochen. Schließlich sind wir nicht blind.« Paula öffnete ihre Handtasche, nahm einen Spiegel heraus und betrachtete ihr grobschlächtiges Gesicht. »Die meisten hat’s überrascht, dir schien doch niemand gut genug zu sein. Aber ich habe hochnäsigen Dämchen wie dir nie getraut.«

»Was habe ich Ihnen getan, daß Sie sich die Frechheit herausnehmen, so mit mir zu reden, Paula?« Alice stand auf und starrte das Mädchen wütend an.

»Deinen Hochmut kannst du dir jetzt abschminken«, sagte Paula mit einem gehässigen Lachen. »Bist auf die Schnauze gefallen, wie? Kannst nicht einmal ein paar Zahlen zusammenzählen und bist O’Hares Liebling geworden. Es ist doch immer dasselbe – mit einer hübschen Fratze kriegt man die besten Jobs. Aber das wird dir jetzt auch nichts mehr nützen. In deinem Zustand will dich keiner mehr.«

»Entschuldigen Sie mich bitte, ich muß wieder an die Arbeit.« Alice war schockiert über die unverhohlene Gehässigkeit, die Paula ihr entgegenbrachte.

»Nein, das ist jetzt vorbei. Der Alte hat mich gebeten, dir das zu geben. Er will dich wohl nicht mehr sehen. O’Hare ist ein guter Katholik und hat kein Verständnis für gefallene Mädchen.« Paula gab ihr einen Umschlag. Alice stopfte ihn in ihre Handtasche, schlüpfte in ihren Mantel und ging mit gesenktem Kopf durch den Laden auf die Straße.

Ihre Hand zitterte so heftig, daß sie kaum den Schlüssel ins Schloß der Haustür stecken konnte. Wie ein gehetztes Tier suchte sie Zuflucht in der Sicherheit dieses Hauses, das ihr zur Heimat geworden war. Im Flur lehnte sie sich erschöpft und verzweifelt gegen die Wand.

»Alice, meine Liebe, Sie sehen aus, als wäre Ihnen ein Geist begegnet. Kommen Sie ins Wohnzimmer. Sie brauchen jetzt einen Tee und einen Schnaps.«

»Danke, Mrs. Feinstein. Es geht mir gleich wieder besser – es ist recht warm für April. Die Hitze macht mir zu schaffen.«

»Tstst, Ihnen geht es miserabel. Setzen Sie sich ins Wohnzimmer, und ich bringe Ihnen Tee. Sie müssen jetzt an Ihr Baby denken.« – »Wie dumm ich bin. Ich hätte wissen müssen, was mich erwartet.«

»Wovon sprechen Sie?« fragte Mrs. Feinstein, erschreckt über Alice’ verängstigten Gesichtsausdruck.

»Eine der Verkäuferinnen im Geschäft hat mich beschimpft ...« Alice preßte wie schützend ihre Hand gegen ihren Bauch. »Es war entsetzlich. Mit welcher Häme sich diese Frau an meinem Unglück geweidet hat ...«

»Weil sie eifersüchtig auf Ihre Schönheit und Ihren Charme ist, meine Liebe. Achten Sie einfach nicht darauf, was böse Menschen sagen.«

»Ich weiß, daß die Meinung dieser Frau nicht zählt. Aber es hat mich sehr mitgenommen, Mr. O’Hare sagen zu müssen, daß ich nicht länger für ihn arbeiten kann. Paula hat mir die Augen geöffnet, was ich in Zukunft zu erwarten habe. Den ganzen Weg nach Hause habe ich mich geschämt und spürte förmlich die gehässigen Blicke der Menschen, denen mein Zustand nicht verborgen geblieben ist. Wahrscheinlich sagen sie hinter meinem Rücken schreckliche Dinge über mich.« Alice war den Tränen nahe.

»Wenn Leute schlecht über Sie reden, dann nur, weil sie nicht Ihre Freunde sind. Jene, die Sie kennen, haben Mitleid mit Ihnen. Sie hatten nur Pech und sind auf einen skrupellosen Mann hereingefallen. Das kann jedem Mädchen passieren.«

»Sie sind so nett zu mir, Mrs. Feinstein. Aber ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte nicht tun dürfen, was ich getan habe. Jetzt muß ich für diese Sünde bezahlen.«

»Sünde? Ein Baby ist keine Sünde. So dürfen Sie nicht denken. Es ist eben passiert, basta.«

»Ich dachte, er würde mich heiraten.«

»Ach, die Männer!« Mrs. Feinstein hob empört die Hände. »Ich werde von hier wegziehen. Ich kann das Getuschel nicht ertragen – die Leine auf dem Markt, in den Geschäften ... In einem anderen Viertel, wo mich niemand kennt, kann ich sagen, ich sei Witwe.«

»Was ist denn mit Ihrer Familie, Alice? Haben Sie denn niemanden, zu dem Sie in dieser Notlage gehen können?«

Alice blickte Mrs. Feinstein offen an. »Ich habe keine Familie.«

»Keine Familie!« rief Mrs. Feinstein entgeistert. »Ihr Engländer seid ein merkwürdiges Volk. Ihr ehrt die Familie nicht. Na gut, dann haben Sie eben nur noch mich. Und Sie bleiben hier! Was machen Sie sich Sorgen um den Klatsch? Ich stehe zu Ihnen.«

»Ach, Mrs. Feinstein ...« Jetzt fing Alice an zu weinen und wurde sofort an Mrs. Feinsteins weichen Busen gedrückt.

Etwas später, gestärkt vom Tee, einem Schnaps und einem großen Stück Apfelstrudel, saß Alice in ihrem Zimmer. Plötzlich erinnerte sie sich an den Umschlag, den Paula ihr gegeben hatte, und holte ihn aus ihrer Handtasche. Hastig riß sie ihn auf. Er enthielt nicht nur ihren ausstehenden Lohn, sondern noch einen Zwanzig-Dollar-Schein. »Ein Bonus« stand auf dem beigefügten Zettel. Alice schüttelte gerührt über Mr. O’Hares Großzügigkeit den Kopf.

Aus der Kommode nahm sie die ihr verbliebenen Schmuckstücke, die in ein Stück Veloursleder eingewickelt waren. Nachdenklich betrachtete sie die Kamee, den schmalen Ring mit dem Granat, das Halsband aus Bernstein und das Goldkettchen mit dem Kreuz. Was ist dieser Schmuckwohl wert, dachte sie. Sie würde Mrs. Feinstein fragen, die sicher einen Juwelier kannte, der sie nicht betrügen würde. Aus der Pralinenschachtel nahm sie ihre Ersparnisse und legte ihren letzten Lohn und die zwanzig Dollar dazu. Wenn sie sparsam damit umging, konnte sie davon vielleicht ein Jahr leben.

Ihre Überlegungen wurden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Daniel, der Pole, der nie sprach und irgendeiner geheimnisvollen Tätigkeit nachging, stand im Flur. Er drehte nervös seine Mütze in den Händen und räusperte sich. »Entschuldigung. Wir sprechen?«

»Gern«, antwortete Alice lächelnd.

»Sie keine Arbeit?«

»Stimmt.«

»Sie meine Lehrerin.« Daniel deutete zuerst auf Alice und dann auf sich.

»Lehrerin?«

»Ja, für Englisch. Sie Engländerin, ich lernen Englisch.«

Alice betrachtete Daniels ehrliches, ernstes Gesicht. »Ja, das wäre möglich«, antwortete sie zögernd.

»Ich zahle. Ich zahle gut.«

Daniel sah sie mit seinen klaren, grauen Augen fragend an. »Also gut. Morgen früh um neun«, sagte sie entschlossen.

»Gut, um neun«, antwortete Daniel, verneigte sich höflich und ging auf sein Zimmer.

Alice strahlte vor Erleichterung. Das bedeutete die Lösung ihrer Probleme. In dieser Stadt gab es bestimmt Tausende wie Daniel, die der englischen Sprache nicht mächtig waren. Sie konnte zu Hause bleiben, Sprachunterricht geben und sich um ihr Kind kümmern. Freudestrahlend lief sie nach unten. »Mrs. Feinstein«, rief sie und stürmte in die Küche. »Ich werde Lehrerin.«

»Ja, das ist ein Beruf, auf den Sie stolz sein können.«

»Daniel hat mich gebeten, ihm Englischunterricht zu geben. Vielleicht kann ich noch andere Schüler finden.«

»Das wird nicht schwierig sein. Mrs. Heiners Sohn und Mr. Lectors Tochter werden auch kommen«

»Es war Ihre Idee, nicht wahr? Sie haben Daniel zu mir geschickt ...«

Mrs. Feinstein lächelte verschmitzt. »Ich würde doch nie wieder eine Mieterin wie Sie finden.«