Alice’ Leben in der neuen Umgebung war ein Alptraum. Dieses heruntergekommene Viertel mit seinen verwahrlosten Mietshäusern war ein Schmelztiegel aller Nationalitäten. Hier gab es keine bürgerliche Mittelschicht, sondern nur die untersten Bevölkerungsschichten hausten dort, die entweder vor der Armut in ihrer Heimat oder als politisch Verfolgte nach Amerika geflohen waren. Niemand hatte Geld und nur noch wenig Hoffnung auf ein besseres Leben.
Alice lebte in diesem Völkergemisch völlig isoliert, denn es gab niemanden, der Englisch oder Französisch sprach. Neben der Sprachbarriere gab es noch die unüberwindbare Schranke ihrer vornehmen Herkunft. Auch in dieser Situation gereichten Alice ihre Schönheit und ihr Auftreten zum Nachteil, denn die verhärmten Frauen, die in ihrem Leben nur Not und Elend kennengelernt hatten, begegneten ihr voller Haß und Neid.
Ehe Alice hierhergezogen war, hatte sie gehofft, ihren Lebensunterhalt wieder mit Sprachunterricht verdienen zu können. Aber diese Menschen kämpften nur ums nackte Dasein und besaßen keinen Ehrgeiz mehr, aus dem Ghetto auszubrechen.
Nach Einbruch der Dunkelheit wagte sich Alice nicht mehr auf die Straße, denn es war zu gefährlich. Abends saß sie zusammengekauert auf der Matratze in ihrem schlecht beleuchteten Zimmer und lauschte angstvoll auf die Geräusche. Durch die dünnen Wände hindurch hörte sie ihre Nachbarn streiten. In den Gassen trugen Gangsterbanden ihre Kämpfe aus. Es wurde gemordet, vergewaltigt und geraubt. Sie schämte sich ihrer Feigheit, konnte aber nicht dagegen an.
An manchen Tagen hatte sie hilflos mit angesehen, wie ganze Familien vom Hausverwalter auf die Straße gesetzt wurden, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Die Schreie der Frauen, die vergeblich um Aufschub, um Verständnis, um Mitleid bettelten, verfolgten sie bis in ihre Träume. Aber Alice hatte schnell gelernt, daß in diesem Milieu als oberstes Gesetz galt, sich nicht einzumischen.
Es war Winter geworden. Trotz der Zusage des Hausverwalters war die Fensterscheibe in Alices Zimmer nicht ersetzt worden, deshalb mußte sie den Glaser selbst bezahlen. Ihre letzten Ersparnisse hatte sie für Bettwäsche, Handtücher, eine Waschschüssel, etwas Geschirr und eine Pfanne ausgegeben. Danach hatte sie ihren Schmuck verkauft, davon die Miete bezahlt und Vorräte angelegt. Da sie niemanden kannte, in dessen Obhut sie Grace hätte geben können, fand sie auch keine Arbeit.
Nachdem sie fünf Monate in dieser erbärmlichen Umgebung gelebt hatte, fühlte sie sich zutiefst erschöpft. Der Lärm und ihre ständige Angst raubten ihr den Schlaf. Nur ihr verzweifelter Kampf, ihr Zimmer wenigstens sauberzuhalten, gab ihr ein wenig Auftrieb.
Draußen war es so kalt, daß sie nicht einmal mehr tagsüber mit Grace spazierengehen konnte. Ihr Wintermantel war zu dünn und schützte kaum vor der Kälte. Grace’ Bewegungsdrang mußte sich auf das winzige Zimmer beschränken, und sie konnte nur auf dem nackten Fußboden spielen. Aus ihren Unterröcken hatte Alice Kleider für Grace genäht. Die Pullover, die Mrs. Feinstein für sie gestrickt hatte, trennte sie auf und strickte warme Kleidung für das Kind.
Alice verbrachte Stunden damit, geistesabwesend ihre Bilder von Gwenfer anzustarren. Es gab Tage, da glaubte sie, ihr Leben in England wäre nur ein Traum gewesen und sie hätte schon immer in diesem Elend und dieser Verzweiflung gelebt.
Es gab Tage, da starrte sie den Gasofen an und betete darum, eines Tages die Kraft aufzubringen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nur der Gedanke an Grace hielt sie von dieser Verzweiflungstat zurück. Sie hätte niemals ihr Kind töten können.
Es war Ende November. Alice schlief auf der Matratze und Grace in der Wiege neben ihr. Ein Schrei von draußen weckte Alice, und sie setzte sich erschreckt auf. Da spürte sie eine Bewegung an ihren Füßen und tastete nach der Lichtschnur, die über dem Bett hing. Im trüben Licht der Lampe sah Alice einen Schatten durchs Zimmer huschen – eine riesige Ratte. Zu Tode erschrocken beugte sie sich über Grace, um nachzusehen, ob ihr Kind unverletzt war, denn es gab Horrorgeschichten von Ratten, die kleine Kinder getötet hatten. Grace schlief friedlich. Alice sprang hastig auf und stopfte in das Loch in der Mauer, in dem die Ratte verschwunden war, alles Papier, das sie zusammenraffen konnte, und schob eine Holzkiste davor. Die ganze Nacht saß sie aufrecht auf der Matratze, hatte sich die Decke um die Schultern gehüllt und bewachte Grace.
In der Morgendämmerung stand sie auf, setzte sich an den Tisch und stützte verzweifelt den Kopf in ihre Hände. Wie tief bin ich gesunken, dachte sie deprimiert. Ich hause in einer Bruchbude zusammen mit Ratten und ergebe mich in mein Schicksal. Energisch schüttelte sie den Kopf. So konnte es nicht weitergehen. Sie mußte etwas unternehmen, das war sie Grace schuldig. Was, um alles in der Welt, hatte sie eigentlich in den vergangenen Monaten gedacht? Warum hatte sie nicht versucht, aus diesem Morast herauszukommen? Ihr Stolz war ihr Problem. Sie war zu stolz gewesen, mit Mrs. Feinstein nach Kalifornien zu gehen. Sie war zu stolz gewesen, Mr. O’Hare um Hilfe zu bitten. Sie war zu stolz, um ihrem Vater zu schreiben, ihn um Verzeihung zu bitten und zu fragen, ob er sie wieder aufnehmen würde. Was würde sie ihrer Tochter antworten, wenn diese ihr eines Tages Fragen stellte? »Nun, meine liebe Tochter, es war mein Stolz, der uns in dieses Elend getrieben hat, verstehst du?« Wo war die Alice Tregowan geblieben, die für die Minenarbeiter gekämpft hatte? Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst und zwang ihre Tochter dazu, in diesem Elend aufzuwachsen. Die ersten schwachen Wintersonnenstrahlen drangen durch den dünnen Vorhang, den sie selbst genäht hatte. Alice schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. Ich muß eine Lösung finden! Ich muß Grace hier herausbringen! Mein Kind hat ein Recht auf ein besseres Leben! Jetzt war sie der Ratte beinahe dankbar, die sie aus ihrem Selbstmitleid gerissen hatte.
Sie griff nach ihrer Geldbörse. Sie besaß noch zwei Dollar und dreißig Cent. Sie mußte einfach eine Lösung finden. In Gedanken machte sie eine Liste ihrer Qualifikationen. Vor allem mußte sie ihren Optimismus wiederfinden, diese lebensnotwendige Eigenschaft, die sie nun verloren hatte.
Um neun Uhr waren sie und Grace angezogen und fuhren mit der Pferdebahn in die Innenstadt. Zielbewußt marschierte sie den Broadway entlang, am Barnum’s Theatre und den neuen Hotels vorbei und hielt Ausschau nach geeigneten Geschäften.
Erst im fünften Delikatessengeschäft zeigte der Besitzer – ein Engländer – Interesse für Alice’ Vorschlag und bat sie in sein Büro.
»Mrs. Tregowan, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
»Ich hoffe sehr, Mr. Osborn«, antwortete Alice. »Wissen Sie«, begann sie nervös, merkte aber zu ihrer Erleichterung, daß dieser Mann positiv auf ihren englischen Akzent reagierte und ihr aufmunternd zulächelte. »Ich habe nachgedacht ...« sprach sie verlegen weiter und räusperte sich. »Es gibt doch so viele ethnische Gruppen in New York, und jede hat ihre eigene Küche. Obwohl sicher auch viele Engländer in dieser Stadt leben, werden kaum englische Spezialitäten angeboten.«
»Wie recht Sie haben! Es gibt weder Crumpets noch Dundee cakes«, sagte er lachend.
»Genau. Und für das bevorstehende Weihnachtsfest fehlen Plumpudding und Kuchen.« Alice sah ihn eindringlich an. »Ich vermisse sie sehr – meine Frau ist Amerikanerin schwedischer Abstammung«, erklärte er.
»Es muß Hunderte von Engländern geben, denen es so ergeht wie uns. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich stelle die Spezialitäten her, und Sie verkaufen sie in Ihrem Geschäft.«
Mr. Osborn rieb sich nachdenklich das Kinn und musterte gleichzeitig die schöne junge Frau mit dem Baby auf dem Schoß. Ihre schäbige Kleidung nahm ihr nichts von ihrer Ausstrahlung und Würde, und ihre Ausdrucksweise ließ eindeutig auf eine Abstammung aus der englischen Oberschicht schließen. »Ihr Vorschlag ist interessant.«
»Dabei habe ich noch nicht einmal an Dundee cake gedacht, sondern an Orangenmarmelade. Ich habe nirgends welche gesehen.«
»Wir importieren sie von Keillers.«
»Oh«, sagte sie enttäuscht.
»Diese Importwaren sind sehr teuer. Es wäre viel billiger, sie von einem Hersteller in Amerika zu beziehen.« Er wollte sie nicht entmutigen.
»Dann sind Sie also interessiert?« fragte Alice atemlos
»Mehr als das«, antwortete er zu ihrer Erleichterung.
»Natürlich ist es jetzt schon zu spät für den Plumpudding und die Kuchen – unsere Köchin hat sie immer ein Jahr zuvor gemacht. Aber ich könnte eine ausreichende Anzahl für dieses Jahr machen und einen Vorrat, zum Einlagern sozusagen – wie guten Wein, für nächstes Jahr.« Alice lachte kurz auf. Es war ihr erstes Lachen seit Monaten. »Dann könnten wir alle anderen Spezialitäten anbieten.«
»Wir müßten mit einer kleinen Menge beginnen – bis wir sehen, wie der Verkauf läuft«, wandte Mr. Osborn hastig ein.
»Natürlich, Mr. Osborn. Das verstehe ich. Würden Sie einen Versuch wagen?«
»Ich freue mich schon darauf, Ihre ersten Produkte anzubieten, Mrs. Tregowan.«
»Da ist nur eins: Ich brauche Geld.«
»Geld?«
»Ich habe alles genau ausgerechnet: Ich brauche Geräte und die Zutaten. Mein Gasherd ist zu klein, deswegen werde ich zwei Primuskocher kaufen. Hinzu kommen Kasserollen, Kochtöpfe, Kuchenformen und Puddingschalen von unterschiedlicher Größe, um das Angebot vielfältiger zu gestalten. Eigentlich würde ich den Herd gern ganz austauschen, aber ...« Alice verstummte, denn sie hatte Angst, die Liste könnte Mr. Osborn erschrecken. »Ich brauche das Geld nur als eine Art Anleihe, um anfangen zu können.«
»Könnten Sie nicht zu einer Bank gehen und einen Kredit beantragen?«
»Vermutlich, aber ich habe keine Sicherheiten zu bieten. Ich besitze überhaupt nichts, wissen Sie.« Sie betrachtete ängstlich Mr. Osborn, der skeptisch die Stirn runzelte. »Um die Wahrheit zu sagen, Mr. Osborn, ich bin am Ende. Ich habe meinen letzten Schmuck verkauft, und wenn Sie mir nicht helfen, weiß ich nicht weiter.« Alice stellte zu ihrer Überraschung fest, daß es sie keine Überwindung gekostet hatte, ihren Stolz hinunterzuschlucken und diesem Mann die Wahrheit zu gestehen.
»Wieviel brauchen Sie?« fragte er argwöhnisch.
»Vierzig Dollar«, sagte Alice hastig.
Er lachte. »Gütiger Himmel, Mrs. Tregowan, ich dachte, Sie wollten mich um zweihundert Dollar bitten.«
»Großer Gott, nein! Soviel Geld brauche ich nicht.«
»Na gut, abgemacht, wie die Amerikaner sagen würden. Ich leihe Ihnen vierzig Dollar, und Sie zahlen mir die Summe aus dem Verkauf Ihrer Produkte zurück.«
»So hatte ich es mir vorgestellt.«
»Es ist eine merkwürdige Art, Geschäfte zu machen, aber ich bin auch ein merkwürdiger Geschäftsmann. Wollen wir unsere Abmachung mit einem Handschlag besiegeln?« Er streckte ihr die Hand hin, und Alice schüttelte sie mit ernstem Gesichtsausdruck. Dann nahm er eine Kassette aus seinem Schreibtisch und gab ihr vierzig Dollar.
Alice ging so leichtfüßig wie seit Monaten nicht aus dem Geschäft. Erst als sie schon in der Menschenmenge auf dem Broadway verschwunden war, merkte Mr. Osborn, was er für ein Narr gewesen war. Er hatte Alice nicht einmal nach ihrer Adresse gefragt.
Eine Woche später machte Mr. Osborn gerade seine morgendliche Inspektionsrunde durch das Geschäft, als Alice Tregowan, beladen mit Grace und zwei großen Körben, zur Tür hereinkam. Mr. Osborn schämte sich seines Mißtrauens, eilte herbei, nahm ihr die schweren Körbe ab und trug sie in sein Büro. Er war von ihren Produkten beeindruckt. Vor ihm aufgereiht waren ein Dutzend Plumpuddings, die Schalen in Leinen eingewickelt und mit Etiketten versehen, auf denen in bestechend schöner Handschrift das Rezept stand. Außerdem hatte Alice sechs Kuchen gebacken, deren Marzipanüberzug glasiert war. Jeder Kuchen war mit Weihnachtswünschen verziert.
»Davon habe ich nur einen gemacht, Mr. Osborn. Der ist für Sie.« Mit einer eleganten Handbewegung zog sie das Tuch von einem perfekt gebackenen Dundee cake.
»Meine Güte, Mrs. Tregowan, Sie waren aber fleißig.«
»Ja, es hat länger gedauert, weil ich seit Jahren nicht mehr gebacken habe und mich erst wieder an die Rezepte erinnern mußte.«
»Hatten Sie denn keine Rezepte?«
»Nein, aber ich habe ein gutes Gedächtnis und habe unzählige Male zugesehen, wie diese Spezialitäten angefertigt wurden. Bis zum nächsten Mal kann ich leicht die doppelte Menge herstellen. Weil der Plumpudding und die Kuchen so frisch sind, habe ich mehr Brandy als gewöhnlich zugefügt, um sie feucht zu halten. Und hier«, sie stellte zwölf kleine Töpfe, wieder mit zierlichen Etiketten versehen, auf denen BRANDY BUTTER stand, vor sich auf den Tisch. »Plumpudding ohne Butter schmeckt doch nicht«, sagte sie und lächelte schüchtern.
»Haben Sie eine Kostenaufstellung gemacht?«
»Eine was?«
»Ich kann Ihnen keinen fairen Preis zahlen, wenn ich nicht weiß, wieviel die Herstellung gekostet hat, und dann müssen Sie noch Ihren Gewinn einkalkulieren.«
»Ja, natürlich. Ich habe alles aufgeschrieben.«
Mr. Osborn studierte die Liste. »Sie haben weder Ihre Arbeitszeit noch die Transportkosten berücksichtigt, Mrs. Tregowan.«
»Macht man das?«
»Natürlich. Alle Ausgaben müssen bei der Preisberechnung einkalkuliert werden«, erklärte Mr. Osborn und kam sich etwas töricht vor. Er fragte sich, ob er für eine weniger schöne Frau ebensoviel Geduld und Verständnis aufgebracht hätte.
Alice war sehr zufrieden mit dem Betrag, den ihr Mr. Osborn für ihre erste Lieferung aushändigte. Als sie ihm die Hälfte der Summe als erste Rate ihrer Rückzahlung wiedergeben wollte, protestierte er.
»Nein, Mrs. Tregowan. Jeder Anfang ist schwer, und ich möchte nicht, daß Sie jetzt Geldsorgen haben. Mit der Rückzahlung wollen wir warten, bis wir sehen, wie sich unser Geschäft entwickelt.«
»Sie sind überaus freundlich zu mir, Mr. Osborn. Es war wohl mein Glückstag, als ich zu Ihnen kam. Außerdem habe ich meine Pläne erweitert. Nach Weihnachten kann ich Fleisch- und Nierenpasteten, Wildpasteten und komische Pasteten anfertigen. Es gibt so viele Delikatessen, die die Engländer bestimmt vermissen, wenn sie sie nicht selbst herstellen können oder keine englische Köchin haben.«
»Wir wollen erst abwarten, wie sich diese Produkte verkaufen, einverstanden?« Er drückte auf einen Klingelknopf an seinem Schreibtisch. »Harry, plaziere diese Spezialitäten als Blickfang in der Mitte des Geschäfts. Dann laß ein großes Schild anfertigen ...« Mr. Osborn dachte angestrengt nach. »Wie wär’s mit: ENGLISCHE SPEZIALITÄTEN FÜR ENGLÄNDER?« Alice war begeistert über das Arrangement. Sie trödelte eine Weile im Geschäft herum, täuschte Interesse für die anderen Produkte vor, während sie mit ängstlicher Erwartung ihren Stand nicht aus den Augen ließ, dem zunächst niemand Beachtung schenkte. Dann hielt sie den Atem an, denn eine stämmige Frau, deren arrogantes Auftreten typisch englisch war, blieb davor stehen. Der junge Verkäufer wartete geduldig. »Davon nehme ich vier«, dröhnte die Stimme in makellosem Englisch, und der Verkäufer notierte die Bestellung.
An diesem Tag machte sich Alice frohen Herzens und voller Hoffnung auf den Nachhauseweg.
Am folgenden Morgen kam ein Bote von Mr. Osborn und brachte einen Auftrag über die doppelte Menge – Alice war im Geschäft.