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Obwohl sich ihre Produkte erfolgreich verkauften und Mr. Osborn ständig neue Bestellungen aufgab, kämpfte Alice weiterhin ums Überleben.

Abgesehen vom chronischen Geldmangel, kam ihr Erfolg zu plötzlich. Sie hätte dringend mehr Geräte und Helferinnen gebraucht, konnte sich aber beides nicht leisten.

In ihrem kleinen Zimmer konnte sie sich kaum noch bewegen. Jeder Zentimeter war mit ihren Koch- und Backutensilien vollgestellt. Auf dem Boden standen Säcke mit Gemüse für ihre Pasteten. Da auf dem Herd ständig Gerichte in Töpfen brodelten, mußte Grace in ihrem Gitterbettchen bleiben, das Alice gekauft hatte, Der Anblick des kleinen geduldigen Gesichts zwischen den Stäben betrübte Alice zutiefst. Ihre Tochter kam ihr wie eine Gefangene vor.

Nach vier Monaten Arbeit machten sich bei Alice die ersten Anzeichen unendlicher Erschöpfung bemerkbar. Sie stand jeden Tag um fünf auf und fiel selten vor ein Uhr morgens todmüde ins Bett. Ihr Gesicht zeigte eine krankhafte Blässe, und ihr wurde bewußt, daß dieses Leben Grace der letzten Freude beraubte. Früher hatte sie wenigstens Zeit gehabt, mit ihrer Tochter zu spielen und spazierenzugehen. Jetzt beschränkten sich ihre Ausflüge auf die Einkäufe und die Fahrten zu Mr. Osborns Geschäft in der Innenstadt. Voller Entsetzen ertappte sich Alice öfter dabei, wie sie Grace ausschimpfte und sich manchmal kaum zurückhalten konnte, ihrer Tochter eine Ohrfeige zu geben.

»Sie sehen müde aus, Mrs. Tregowan. Ein Urlaub würde Ihnen guttun.«

»ich kann mir keinen Urlaub leisten, Mr. Osborn.« Alice merkte den scharfen Unterton in ihrer Stimme.

»Dann nehmen Sie sich wenigstens eine Helferin, die Ihnen einen Teil der Arbeit abnimmt.«

»Ich kann mir auch keine Helferin leisten«, konterte Alice schroff.

»Setzen Sie sich, Mrs. Tregowan ... bitte ...«

Widerstrebend nahm sie Platz, setzte Grace auf ihre Knie und spähte nervös auf die Uhr. In einer Stunde mußte sie mit den Vorbereitungen für die morgige Lieferung beginnen.

»Ich habe keine Zeit ...« begann Alice und zwang sich zu einem Lächeln.

»Mrs. Tregowan, Sie sehen völlig erschöpft aus und scheinen mit den Nerven am Ende zu sein.«

»Ich komme schon zurecht. Halte ich etwa meine Liefertermine nicht ein? Entspricht die Qualität meiner Produkte nicht mehr Ihren Anforderungen?« fragte sie herausfordernd.

»Nein, nein, alles ist in bester Ordnung. Aber irgendetwas stimmt an dieser ganzen Sache nicht. Vor ein paar Monaten kamen Sie zu mir. Damals waren Sie eine junge Frau voller Tatendrang und Entschlußkraft. Davon ist nichts mehr übriggeblieben, Mrs. Tregowan. Sie verdienen mittlerweile recht gut, und wenn Sie sich noch immer keine Helferin leisten können, dann packen Sie irgendetwas verkehrt an. So können Sie auf keinen Fall weitermachen.«

Alice fiel auf dem Stuhl förmlich in sich zusammen. Sie sah Mr. Osborn mit einem derart verzweifelten Blick an, daß er sich in seiner Sorge bestätigt fühlte.

»Ich weiß nicht, was ich falsch mache, Mr. Osborn. Ich hatte gehofft, mir endlich eine Helferin und einen größeren Herd leisten zu können, damit ich eine größere Anzahl auf einmal backen kann ...«

»Wo kaufen Sie Ihre Zutaten?«

»In einem Geschäft an der Ecke, wo ich wohne. Der Besitzer sorgt immer dafür, daß er vorrätig hat, was ich brauche.«

»Und das Fleisch?«

»Nun, beim Metzger natürlich, wo denn sonst?«

»Bei einem Großhändler, Mrs. Tregowan«, antwortete er geduldig. »Kein Wunder, daß Sie nicht genügend Profit machen.«

»Aber ich habe kein Geld für größere Bestellungen und außerdem keinen Platz, um Vorräte zu lagern.« Sie dachte an die Ratten und erschauerte.

»Die Großhändler räumen Ihnen Kredit ein, meine liebe Mrs. Tregowan. Sie bezahlen die Rechnungen, nachdem Sie Ihre Produkte verkauft haben. So werden Geschäfte gemacht.«

»Wirklich?« entgegnete Alice ungläubig und schöpfte allmählich wieder Hoffnung.

»Da der Umsatz ihrer Produkte ständig steigt, sollten Sieden Gedanken in Betracht ziehen, in größere Räumlichkeiten umzuziehen, damit Sie Ihr Geschäft erweitern und Helferinnen einstellen können. Ich gebe Ihnen gerne jede Referenz die Sie brauchen Mrs. Tregowan.«

»Ach, Mr. Osborn, was würde ich ohne Sie anfangen?« Alice schenkte ihm ein derart erleichtertes und strahlendes Lächeln, daß Mr. Osborn ziemlich aus der Fassung geriet, denn er hatte in seinem ganzen Eheleben nie einer anderen Frau Beachtung geschenkt. Er merkte, daß er für Alice’ Charme nicht unempfänglich war.

»Ich glaube, jetzt wird uns eine Tasse Tee guttun,« sagte er, räusperte sich und drückte auf den Klingelknopf. »Und ich glaube, wir sollten zusätzliche Absatzmärkte für Sie suchen. Es gibt viele Delikatessengeschäfte und Kaufhäuser in New York ...«

»Würde es Ihnen denn nichts ausmachen, wenn ich meine Ware auch an andere Geschäfte verkaufen würde?«

»Nun, vielleicht könnten wir Etiketten mit der Aufschrift GWENFER & OSBORN drucken lassen? Vielleicht möchten Sie einen Partner haben?« sagte er mit einem verschmitzten Lächeln.

Alice war fassungslos. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, stammelte sie schließlich.

»Denken Sie darüber nach, Mrs. Tregowan. Ach, hier ist der Tee ...«

An diesem Tag kehrte Alice in ihre elende Bruchbude so leichtherzig zurück wie nach ihrer ersten Begegnung mit Mr. Osborn. Während der langen Fahrt im Pferdewagen ertrug sie geduldig Grace’ Geplapper und kaufte ihr eine Tüte Bonbons. Dann setzte sie sich für eine halbe Stunde in den kleinen Park nahe ihrer Behausung. Während Grace glücklich umherlief, dachte sie über Mr. Osborns Vorschlag nach. Natürlich wäre sie am liebsten völlig selbständig und von niemandem abhängig gewesen, doch das konnte sie sich nicht leisten. Außerdem mochte sie Mr. Osborn, der ihr stets ein guter Ratgeber in allen geschäftlichen Dingen gewesen war. Eine Partnerschaft bedeutete auch eine Teilung des Risikos und der Sorgen.

Ihre gute Laune war von kurzer Dauer. Als sie beide in ihr Zimmer zurückkehrten, hatten die Ratten den Pastetenteig, den sie in der Eile nicht weggeräumt hatte, gefressen. Die Ratten waren auch schuld an ihrer totalen Übermüdung, denn sie wagte nachts kaum ein Auge zuzutun, aus Angst, diese Biester könnten irgendwie an die in Büchsen aufbewahrten Kuchen und Pasteten herankommen.

In ihrer Wut und Empörung schnappte sie sich Grace und stürmte aus dem Zimmer. Von einem Mieter erfuhr sie schließlich, wo der Hausbesitzer wohnte. Wild entschlossen hielt sie eine Kutsche an und ließ sich zu der angegebenen Adresse fahren. Die Kutsche hielt vor einem eleganten Haus in der Fifth Avenue. Zornig stapfte Alice die Treppe hinauf, läutete an der Tür und rauschte an einem fassungslosen Lakaien vorbei, der sie nicht aufhalten konnte.

»Holen Sie Ihren Herrn«, befahl sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Sie stand in der Halle eines Hauses, das jenen nicht unähnlich war, in denen sie früher gelebt hatte. Damals hätte sie sich die Zeit damit vertrieben, die luxuriöse Ausstattung zu bewundern, doch heute schürte diese verschwenderische Pracht nur ihren Zorn, der ihren Mut stärkte, dem Hausbesitzer unverblümt die Meinung zu sagen.

Alfred van Hooven, ein Selfmade-Millionär, dessen korpulente Leibesmitte eine schwere Goldkette zierte, empfing Alice im Salon.

Sie ging sofort zum Angriff über. »Das Mietshaus, in dem ich wohne und das Ihnen gehört, ist mit Ratten und anderem Ungeziefer verseucht. Ich erwarte, daß Sie etwas dagegen unternehmen.«

»Was sagten Sie da eben, Madame?« fragte van Hooven gelangweilt.

»Sie haben mich sehr wohl verstanden, Mr. van Hooven. In Ihren Mietshäusern herrschen unerträgliche Zustände. Ich verlange, daß Sie etwas dagegen unternehmen.« Alice’ Zorn übertrug sich auf Grace, die zu weinen begann.

»Wie ist Ihr Name?« fragte der Hausbesitzer.

»Tregowan. Alice Tregowan.«

»Würden Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen, Mrs. Tregowan. Nehmen Sie doch Platz ...« Gemächlich und völlig unbeeindruckt von Alice’ Empörung, ging Mr. van Hooven aus dem Salon und kehrte kurz darauf zurück. »Ich habe in meinem Mieterbuch nachgesehen, Mrs. Tregowan. Sie bezahlen pünktlich Ihre Miete, das gefällt mir.« Er lächelte Alice an, was ihren Zorn etwas besänftigte. »Das berechtigt Sie jedoch keineswegs, irgendwelche Forderungen zu stellen, junge Frau. Niemand hat Sie gebeten, in diesem Mietshaus zu wohnen. Wenn es Ihnen dort nicht gefällt, können Sie ja ausziehen. Viele warten darauf, Ihren Platz einzunehmen.«

»Damit wollen Sie mir doch nur den Mund verbieten. Aber ich werde nicht schweigen. Die anderen Mieter haben zuviel Angst, um sich gegen die unmenschlichen Zustände zu wehren. Wenn Sie nichts dagegen unternehmen, werde ich die Behörden verständigen.«

»Ach ja?« Mr. van Hooven lächelte spöttisch. »Welche Behörden denn?«

»Nun ich werde beim Polizeikommissar des Bezirks Beschwerde einlegen«, sagte sie ohne Überzeugung, denn sie wußte, daß dieser Mann überall seine Spitzel hatte und nichts für das Wohl der Bürger unternahm.

»Niemand wird Sie daran hindern, Madame. Sie sollten jedoch wissen, daß dieser Mann für mich arbeitet ... alle wichtigen Politiker dieser Stadt sind käuflich ... nun, das führt zu weit. Werden Sie ruhig beim Bürgermeister vorstellig, Mrs. Tregowan. Sie werden nichts erreichen. Sparen Sie sich die Mühe ... ach, wo wir gerade von Verstößen sprechen ... mein Hausverwalter teilte mir mit, daß Sie Ihr Zimmer gewerblich nutzen. Das ist laut Mietvertrag verboten.«

»Ich besitze keinen Mietvertrag.«

»Oh, doch, Mrs. Tregowan. Ab sofort sind Sie im Besitz eines Mietvertrages.« Mr. van Hoovens perfides Lächeln jagte Alice einen eisigen Schauder über den Rücken.

»Schämen Sie sich denn nicht, Ihre Mitmenschen auf derart unwürdige Weise dahinvegetieren zu lassen?« machte Alice einen letzten mutigen Versuch, diesen eiskalten Mann umzustimmen.

»Nein, keineswegs. Ich trage nicht die Verantwortung für das Elend dieser Menschen, die im Leben versagt haben. Mich interessiert nur, ob sie regelmäßig ihre Miete bezahlen. Ich will Sie nicht länger aufhalten, Mrs. Tregowan«, sagte er mit vor Hohn triefender Stimme.

Entmutigt trat Alice den Heimweg an. Grace war quengelig und weinte während der ganzen Fahrt in der Pferdebahn. Vor dem Mietshaus, in dem sie wohnte, hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die aufgebracht durcheinanderschrie. Verängstigt näherte sie sich der Gruppe. Alle ihre Nachbarn beschimpften in ihren unterschiedlichen Sprachen zwei bullige Männer, die ungerührt und mit verschränkten Armen vor der Haustür standen.

Über den ganzen Bürgersteig verstreut lagen Alice’ Habseligkeiten. Ihre kostbaren Töpfe und Pfannen lagen zerbeult im Dreck. Ihre und Grace’ Kleider lagen auf einem Haufen an der Hauswand.

»Das sind meine Sachen«, schrie sie einen der Männer an.

»Sind Sie Mrs. Tregowan?«

»Ja.«

»Befehl vom Hausbesitzer. Sie sind hier als Mieterin unerwünscht.«

»Er kann mich doch nicht einfach hinauswerfen und mein Eigentum zerstören lassen«, protestierte Alice aufgebracht und wurde von lautstarken Protesten ihrer Nachbarn unterstützt.

»Das ist gerade geschehen«, antwortete der Mann.

Zu seinen Füßen entdeckte Alice eines ihrer Bilder von Gwenfer. Das Glas und der Rahmen waren zerbrochen, der Schmutzfleck eines Stiefelabdrucks verschandelte das Bild. Und dieser Anblick ließ Alice zusammenbrechen.

»Oh, nein!« weinte sie vor Schmerz auf und sank zusammengekrümmt zu Boden.

»Mami.« Grace legte ihre kleine Hand tröstend auf die Schulter ihrer Mutter. Alice schluchzte nur noch verzweifelter.