Ia hatte einen Monat lang für Blossom gearbeitet, ohne daß etwas von ihr erwartet oder verlangt wurde, was außerhalb der normalen Pflichten eines Dienstmädchens lag. Im Haus arbeiteten zehn Mädchen, die meisten waren freundlich und zufrieden mit ihrer Stelle, denn sie wurden gut behandelt, das Essen war ausgezeichnet und die Arbeit nicht zu anstrengend.
Ia mußte nicht mehr vor Sonnenaufgang aufstehen, denn sie kam selten vor Mitternacht ins Bett. Wie sie sich den Morgen einteilte, war ihre Sache, solange sie vor elf Uhr im Hauptsalon Staub gewischt hatte. Keine der schwereren Arbeiten wurden ihr zugemutet, die erledigten andere, weniger hübsche Mädchen. Ia half beim Arrangieren der Blumen, was oft Stunden in Anspruch nahm, denn das ganze Haus war mit aufwendigen Bouquets geschmückt. In ihren Aufgabenbereich fiel auch das Decken der Tee- und Kaffeetabletts, und sie lernte die Zubereitung von Kaffee auf französische Weise.
Wenn die ersten Kunden kamen, gewöhnlich kurz nach zwei, wurde die Haustür von zwei Lakaien geöffnet, die gleichzeitig die Funktion von Ordnungshütern hatten und rüpelhafte Gäste auf die Straße beförderten. Ia nahm in der Eingangshalle die Hüte und Mäntel entgegen, denn Blossom hatte ihr gezeigt, wie man respektvoll und gleichzeitig verführerisch knickste. Ihre Uniform bestand aus einem schwarzen Kleid mit weißem Schürzchen, und auf dem Kopf trug sie ein winziges Häubchen mit langen schwarzen Schleifen. Die Blicke mancher Männer verweilten länger als üblich auf diesem hübschen Dienstmädchen, und Ia erhielt oft einen Shilling oder sogar einen Florin als Trinkgeld. Dieses Geld verwahrte sie in ihrer azurblauen Schale.
Am besten gefielen ihr die Abende, wenn sie im Gesellschaftssalon Getränke und Kanapées servieren durfte. Sie liebte diesen Salon. Er nahm das ganze erste Stockwerk ein. Die Wände waren mit goldenen Seidentapeten verkleidet, die kleinen Tischlampen verbreiteten gedämpftes Licht, die Möbel und sogar das Piano waren weiß. Die bequemen zweisitzigen Sofas waren mit schwerem Brokat gepolstert und die vielen Vasen mit weißen und gelben Blumen gefüllt. Dann gab es da noch die Mädchen zu bewundern. Jeden Abend waren sie anders gekleidet, trugen erstaunliche Kreationen aus Seide und Satin. In diesem Salon wurden jeden Abend amüsante Feste gefeiert.
Die Atmosphäre war heiter und entspannt, denn die meisten Männer kamen schon seit Jahren in dieses Etablissement. Blossom plauderte und lachte mit ihren Gästen ganz ungezwungen, doch Ia entging nicht, daß ihre Augen überall waren und sie ihre Mädchen mit Blicken dirigierte. Von Zeit zu Zeit flüsterte sie Ia Anweisungen ins Ohr. Sie lief dann nach oben und sagte den Dienstmädchen, welches Zimmer herzurichten sei. Manchmal half sie auch bei dieser Arbeit, was ihr nichts ausmachte, denn sie wollte alles lernen. In manchen Zimmern wurden duftende Räucherstäbchen entzündet, in anderen kleine Parfümbehälter aufgestellt, die wohlriechende Düfte verströmten. Nach jedem Kundenbesuch halfen die Dienstmädchen den Kokotten beim Baden und Ankleiden. Hier wurde Ia auch die Anwendung der Spülung erklärt, von der Frederick gesprochen hatte. Dann wurden die Betten frisch bezogen, in manchen Zimmern bis zu zehnmal pro Nacht.
Blossom wurde von allen bewundert und verehrt. Nur ein paar der Freudenmädchen kritisierten das Verbot von sadomasochistischen Praktiken, denn das brachte den höchsten Verdienst. Doch in dieser Hinsicht war Blossom unerbittlich. Mittlerweile hatte Ia auch erfahren, daß Jimmy, der junge Mann, der sie im Park aufgelesen hatte, Blossoms Geliebter war. Und wehe dem Mädchen, das Jimmy auch nur einen begehrlichen Blick zuwarf, denn Blossom hatte einen Fehler – sie war in ihrer Eifersucht unberechenbar.
Ia betrachtete diese Monate als Lehrzeit. Sie tat, was man ihr sagte, und beobachtete mit Argusaugen die Kokotten bei der Arbeit – wie sie flirteten, neckten, geschickt die Erregung der Männer steigerten und sie zum Trinken animierten, denn an jeder Flasche Champagner verdienten die Mädchen einen Shilling. Jeden Abend gab es Musik im Salon, manchmal spielte eines der Mädchen, das Pianistin war, doch gewöhnlich bestritt ein professioneller Klavierspieler die musikalische Unterhaltung. Jeden Abend fanden in diesem Salon elegante Parties mit wechselnden Gästen statt. Das Etablissement wurde exzellent geführt und genoß in London einen hervorragenden Ruf.
Ia war inzwischen zwei Monate im Haus. Nach der relativ ruhigen Weihnachtszeit hatte die hektische Betriebsamkeit über Neujahr zu einem gewissen Erschöpfungszustand geführt. Alle waren müde.
Ia trug einen großen Blumenstrauß in Blossoms Arbeitszimmer. Blossom saß an ihrem Schreibtisch und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Sie sah bedrückt aus.
»Blossom, geht es Ihnen nicht gut?«
»Ia, meine Kleine! Nein, ich bin nur traurig.«
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Nein. Es ist wegen Emily. Sie muß uns verlassen, und ich hasse es, eines meiner Mädchen fortzuschicken.«
»Aber warum? Hat sie etwas angestellt?« fragte Ia besorgt.
»Nein. Sie wird zu alt.«
»Zu alt?« fragte Ia erstaunt. Emily war doch höchstens zweiundzwanzig.
»Sie ist jetzt zwanzig und wird nur noch selten von den Kunden verlangt. Männer bevorzugen junge Mädchen. Daher ist es irrelevant, daß Emily eine Schönheit ist. Unglücklicherweise hat sie keinen Gönner gefunden, der nur ihretwegen kommt. Ich hatte einmal ein Mädchen, das bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr bei mir blieb, weil Lord Keble ausschließlich ihretwegen kam und horrende Summen dafür bezahlt hat. Sie ist bei mir geblieben, bis er starb.«
»Daran hatte ich nicht gedacht. Wie lange arbeiten die meisten Mädchen?«
»Wenn sie mit vierzehn zu mir kommen, liegt der Durchschnitt bei vier, in Ausnahmefällen bei fünf Jahren. Um Emily tut es mir besonders leid, ich habe sie sehr gemocht. Jetzt geht sie in ein zweitklassiges Bordell, bis sie in ein paar Jahren unweigerlich auf dem Straßenstrich landet.«
»Hat sie denn keine Ersparnisse?«
»Nicht jede ist wie du, la. Du sparst ja wie ein kleines Eichhörnchen. Emily ist das Geld immer zwischen den Fingern zerronnen. Sie hat eine Vorliebe für schöne Kleider und Schmuck.«
»Warum richten Sie für die Mädchen nicht eine Art Sparfonds ein, in den sie regelmäßig einbezahlen und dann ein Startkapital für einen Neuanfang haben?«
»Das ist gar keine schlechte Idee, Ia. Glaubst du denn, sie würden mir ihr Geld anvertrauen?«
»Alle vertrauen Ihnen, Blossom«, sagte Ia und nahm die verwelkten Blumen aus der Vase. »Sie könnten die Ersparnisse investieren; damit sie Zinsen bringen. Auf diese Weise vermehren Ihre Kunden doch auch ihr Geld.«
»Du erstaunst mich immer wieder, la. Du bist so still und dabei so intelligent.«
»Ich bin still?« Ia lachte. »Nur im Moment, weil ich soviel zu lernen habe.«
»Dann hast du dich also zum Bleiben entschlossen?«
»Ja. Es hat mich schockiert zu hören, daß meine Zeit so begrenzt ist. Ich hatte mit wenigstens sechs Jahren gerechnet. Ich habe mit den Mädchen gesprochen und mir ausgerechnet, wieviel ich in der Zeit verdienen und sparen kann, denn ich möchte eines Tages dasselbe tun wie Sie, natürlich auf einem etwas niedrigeren Niveau.«
»Was? Du willst Puffmutter werden?«
»Ja. Eigentlich mag ich die Männer nicht sehr, verstehe aber ihre Bedürfnisse. Deswegen möchte ich nur noch für die Unterhaltung sorgen, und die Mädchen schlafen mit ihnen.«
Blossom warf ihren Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Und ich hielt dich für die geborene Nutte. Jetzt erzählst du mir, daß du Männer nicht magst! Ich muß verrückt gewesen sein.«
»Ich kann doch vorgeben, sie zu mögen«, sagte Ia hastig.
»Weißt du, Ia, ich stimme völlig mit dir überein. Deswegen bin ich ja auch eine gute Puffmutter. Ich weiß, was Männer mögen, ich sorge dafür, daß sie es bekommen, und lasse mich nicht mit ihnen ein. Sogar als ich noch mit ihnen schlief, hat es mich innerlich nie berührt. Ich lag da und habe an etwas anderes gedacht ... an meine Heimat, an meinen Ruhestand.« Wieder lachte sie schallend. »Du hast recht, Ia. Eine gute Nutte muß vor allem eine gute Schauspielerin und Lügnerin sein.«
Da klopfte es leise. Emily trat mit einem völlig verängstigten Gesichtsausdruck ein. Ia ging in die Halle. Während sie dort die Blumen arrangierte, dachte sie über die Unterhaltung nach. Wie es schien, blieb ihr weniger Zeit, als sie gehofft hatte, um eine Menge Geld zu sparen. Es war unbedingt erforderlich, ein paar Gönner zu finden, die ihr auch treu blieben, wenn sie von hier fort mußte.
Als ein Kunde eine anzügliche Bemerkung über las Rundlichkeit machte, wurde sie für Haushaltsarbeiten eingeteilt. Sie putzte das Silber, übernahm Näharbeiten und alle möglichen leichten Pflichten. Das Personal war sehr nett zu ihr, und die Mädchen brachten ihr kleine Geschenke und Babysachen. Die Geburt des Kindes schien eine unerschöpfliche Quelle des Interesses und der Aufregung zu sein. Ia fand ihre jetzige Arbeit langweilig und sehnte sich in die Salons zurück.
Es geschah rein zufällig, daß sie eines Tages entdeckte, daß Blossom Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hatte. Die Buchführung und den Schreibkram hatte sie ihrem Geliebten, Jimmy, überlassen und ihm völlig vertraut. Anfang März hatte Blossom ihn jedoch mit einem der Mädchen im Bett erwischt, worauf sich beide innerhalb einer Stunde im strömenden Regen auf der Straße wiederfanden.
Ia kam gerade in Blossoms Arbeitszimmer, als diese wütend einen Stapel Blätter auf den Boden schleuderte. Sie war dabei, ihre Buchhaltung zu überprüfen, denn sie befürchtete, von Jimmy auch in dieser Hinsicht betrogen worden zu sein. Als Ia die Blätter aufsammelte, sah sie, wie ungelenk Blossoms Handschrift war.
Ia bot ihr sofort ihre Hilfe an. Alice hatte ihr neben Lesen und Schreiben auch die Grundbegriffe der Arithmetik beigebracht. Jetzt stellte sie zu ihrer freudigen Überraschung fest, daß sie eine natürliche Begabung für den Umgang mit Zahlen besaß. Blossom erklärte ihr die Buchführung, und bald kannte Ia keine größere Freude, als bewundernd ihre Zahlenreihen zu betrachten. Im Handumdrehen hatte sie die Schreibarbeiten organisiert, fertigte pünktlich zum Monatsende die Rechnungen für die Stammkunden aus und führte Listen der Schuldner und der Rechnungen, die zu bezahlen waren. Plötzlich war sie zu Blossoms Assistentin aufgestiegen.
In großen, in rotem Leder gebundenen Büchern waren Blossoms Kunden verzeichnet. Wie oft sie kamen, wieviel sie ausgaben und ihre Eigenheiten. Ia studierte diese Liste mit großem Interesse – wie es schien, frequentierte jede wichtige Persönlichkeit der Londoner Gesellschaft Blossoms Etablissement. Neugierig suchte sie nach dem Namen ihres früheren Arbeitgebers und fand zu ihrem Erstaunen nicht George, sondern Daisy aufgeführt.
»Blossom, hier steht der Name einer Frau!« rief sie überrascht und drehte sich um.
»Wir haben mehrere Kundinnen.«
»Frauen?« sagte Ia ungläubig.
»Gibt es also doch noch etwas, was du nicht weißt?« neckte Blossom sie.
»Offensichtlich«, antwortete Ia grinsend.
»Nun, zwei kommen wegen der Männer her. Sie kündigen ihren Besuch vorher an, und ich besorge ihnen gutaussehende junge Männer. Natürlich erfordert das besondere Diskretion. Die Damen benutzen nur die Hintertreppe, deswegen hast du sie nie gesehen.«
»Und die anderen?«
»Zwei mögen Frauen, und eine schaut gern zu.«
»Sie mögen Frauen?«
»Ja, das ist nicht ungewöhnlich. Eine Menge Nutten bevorzugen Frauen. Das ist doch eigentlich nicht erstaunlich, oder? Vielleicht gehörst du auch dazu«, sagte Blossom.
»Bestimmt nicht. Ich finde das abstoßend«, protestierte Ia heftig.
»Vergiß nicht, Ia, in unserem Beruf gibt es nichts Abstoßendes. Es ist nicht an uns, über andere Menschen zu urteilen.«
»Natürlich, Blossom, Sie haben recht«, lenkte Ia ein, dachte aber das Gegenteil. »Diese Lady Tregowan«, fragte sie möglichst beiläufig, »zu welcher Gruppe gehört sie?«
»Daisy Tregowan? Sie ist eine schwierige Kundin, sehr anspruchsvoll ... sie mag junge Männer, je jünger, desto lieber. Warum interessiert sie dich?«
»Ich bin nur über ihren Namen gestolpert .. ich glaube, ich habe irgendwo mal eine Postkarte gesehen ...«
Als Blossom hinausging, notierte sich Ia die Daten von Daisys Besuchen und die Summen der Rechnungen. Sie wußte nicht, warum sie das tat. Dann faltete sie den Zettel und steckte ihn in ihre Tasche.
Nachdem Ia jetzt auch mit der kaufmännischen Seite des Etablissements vertraut war und sah, welche Summen Blossom verdiente, war sie um so entschlossener, eines Tages ein eigenes Bordell zu besitzen.
Jetzt wartete sie voller Ungeduld auf die Geburt ihres Kindes, damit sie endlich mit der Arbeit beginnen und ihrer beider Zukunft sichern konnte.