An einem heißen Junimorgen, nachdem Ia eine große Schale Erdbeeren mit Sahne verzehrt hatte, setzten plötzlich die Wehen ein. Für den Rest des Tages und bis in die späte Nacht hinein schaffte Ia etwas Unvorstellbares – sie brachte Blossoms Etablissement völlig durcheinander. Zwischen den Männerbesuchen eilten die Mädchen schnell in Ias Zimmer, erkundigten sich nach ihrem Befinden, hielten während der Wehen ihre Hand und wischten ihr die schweißnasse Stirn ab. Auch Blossom – obwohl sie vorgab, verärgert über die Vernachlässigung der Kunden zu sein – verbrachte viel Zeit an Ias Seite. Zwischen den Wehen dachte Ia, welche Ironie es doch war, daß die Geburt eines Kindes in einem Haus, in dem Schwangerschaft den Ruin der Karriere bedeutete und in das eher die Engelmacherin als die Hebamme gerufen wurde, eine derartige Aufregung bewirken konnte.
Ia schrie und fluchte während der Wehen. Sie haßte, was Männer Frauen antaten.
Das Baby war ein Mädchen. Es wurde geherzt und geküßt, wobei manche Träne vergossen wurde. Ia betrachtete das Geschehen völlig distanziert und war über ihre Reaktion enttäuscht. Sie hatte geglaubt, dieses kleine Wesen vom ersten Augenblick an zu lieben, statt dessen weckte das Baby keinerlei Gefühle in ihr. In ihren Augen war es das häßlichste Kind, das sie je gesehen hatte, das Geschrei ging ihr auf die Nerven, und sie würde nie die Schmerzen vergessen, die sie bei der Geburt erlitten hatte. Als ihr die Hebamme das Baby an die Brust legte, empfand sie nur Widerwillen und Ablehnung. Den einzigen Trost, den sie in dieser merkwürdigen Einstellung fand, war der Gedanke, daß es ihr nicht schwerfallen würde, das Kind wegzugeben.
Eine Woche später hatte sich alles geändert. Völlig unvermutet war in Ia Mutterliebe erwacht. Sie war absolut vernarrt in ihr Kind, das sie Francine genannt hatte. Sie hütete es Tag und Nacht wie eine Glucke und konnte sich nicht satt an ihr sehen.
Ursprünglich war vereinbart worden, daß das Kind nach zwei Wochen zu den Pflegeltern gegeben werden und Ia nach einer vierwöchigen Erholungszeit mit der Arbeit im Salon beginnen sollte. Jetzt flehte sie Blossom an, ihr ein paar Wochen mehr Zeit zu lassen. Blossom hätte es ihr aufgrund ihrer eigenen bitteren Erfahrung verwehren müssen, doch sie gab nach. Ia behielt Francine drei Monate und verbrachte mit ihr die glücklichste Zeit ihres Lebens.
Das war ein schwerwiegender Fehler. An dem Tag, als Francine zu der Familie nach Blackheath gebracht werden sollte, verbarrikadierte sich Ia in ihrem Zimmer und weigerte sich zu öffnen. Zwei Lakaien verschafften sich gewaltsam Zutritt. Ia lag zusammengekrümmt auf dem Bett, hielt ihr Kind umklammert und starrte die Eindringlinge wie ein gehetztes wildes Tier an. Sie schrie und trat nach Blossom. Francine brüllte aus Leibeskräften. Die Mädchen hatten sich im Flur versammelt und flehten mit Tränen in den Augen Blossom an, Ia das Baby zu lassen. Mit steinernem Gesicht entriß Blossom Ia das Kind, wickelte es in einen Schal und eilte aus dem Zimmer. Ias Schreie hallten ihr in den Ohren nach.
Eine Woche lang weigerte sich Ia, jemanden zu sehen, ihr Zimmer zu verlassen und zu essen. Wie erstarrt lag sie auf dem Bett, blickte zur Decke und fühlte, wie ihr Herz zu Stein wurde. Blossom wartete geduldig. Am Ende dieser Woche stellte sie Ia zur Rede.
»So geht es nicht weiter, Ia. Steh auf, zieh dich an und komm nach unten.«
Ia drehte ihr Gesicht zur Wand.
»Ia, ich möchte nicht böse mit dir werden, aber du hast meine Geduld über alle Maßen strapaziert. Entweder du kommst nach unten und fängst an zu arbeiten, oder du verläßt mein Haus.«
»Sie würden mich nicht fortjagen.«
»Doch, das werde ich tun. Als du hier ankamst, sagte ich dir, daß ich kein Wohlfahrtsinstitut leite. Ich habe lange genug gewartet. Wenn du ohne dein Kind nicht leben kannst, bitte, hier ist die Adresse.« Ia riß ihr den Zettel aus der Hand und prägte sich die Adresse ein. »Geh und hol sie. Was wirst du dann tun? Wo wirst du heute nacht schlafen? Wie willst du sie ernähren? Wer wird dich, mit dem Kind im Arm, aufnehmen? Die Entscheidung liegt bei dir, Ia. Bei dir allein.« Blossom machte auf dem Absatz kehrt und ging entschlossen aus dem Zimmer. Sie hatte Mitleid mit Ia, durfte es aber nicht zeigen.
»Ich hasse dich, du miese alte Kuh!« schrie ihr Ia verzweifelt nach.
Ia las die Adresse so oft, daß der Zettel schließlich in ihrer Hand zerfledderte. In ihrem Herzen brannte ein unsäglicher Haß auf Blossom und die Grausamkeit des Lebens, ein Haß, der sie völlig auszehrte. Ihre Gedanken und Gefühle waren nur von Wut und Haß besessen ... dann stand sie plötzlich auf, stellte sich vor den Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. Was war mit ihr geschehen? Sie haßte Blossom nicht, wie könnte sie jemanden hassen, der so freundlich und gütig zu ihr war und ihr nur helfen wollte? Blossom hatte recht. Wenn sie das Kind zu sich nahm, drohte ihnen beiden ein verhängnisvolles Schicksal. Wenn sie sich weiterhin in Selbstmitleid erging, würde sie nie genug Geld verdienen, um eines Tages wieder mit ihrem Kind vereint zu sein.
Nachdem sie gebadet hatte, nahm sie aus dem Schrank das Kleid, das Blossom für sie hatte anfertigen lassen. Sie bat eines der Dienstmädchen, das den Flur putzte, ihr beim Ankleiden zu helfen. Sie zog weder Korsett noch Schlüpfer an – sie wollte nackt unter der Seide des Kleides sein. Sie bürstete ihr Haar und ließ es locker auf die Schultern fallen. Ihr Aussehen sollte sich entschieden von dem der anderen Mädchen abheben, die ihre Figur in enge Korsetts zwängten und ihr Haar kunstvoll auftürmten. Sie zwickte sich in die Wangen, bis sie gerötet waren – keine grelle Schminke für ihr Gesicht. Aus einer Schuhschachtel nahm sie die roten Pumps, die sie bestellt hatte, und zog sie über ihre zierlichen Füße. Dann stellte sie sich vor den Spiegel und betrachtete skeptisch das Resultat. Der Anblick gefiel ihr. Das mattgraue Seidenkleid unterstrich das Grau ihrer Augen. Es schmiegte sich eng um ihre vollen Brüste und fiel dann in weichen Falten auf ihre Knöchel. Es hatte einen erbitterten Kampf mit Blossom gegeben, bis diese zustimmte, auf Spitzen und Rüschen zu verzichten. Ia wußte instinktiv, daß ein schlichtes Kleid ihre Schönheit vorteilhaft hervorhob. Es unterstrich die Aura der Unschuld, die ihr Gesicht trotz allem ausstrahlte. Als sie vor dem Spiegel stand, erinnerte sie sich an ihr erstes neues Kleid, an ihre erste Verwandlung vor so vielen Jahren. Sie grinste ihrem Spiegelbild zu und sagte: »Sehe ich nicht verdammt hübsch aus?« Mit einer trotzigen Geste warf sie ihr Haar in den Nacken, ging aus dem Zimmer und schritt die Treppe hinunter in den Salon. Gäste waren noch keine da, aber alle Mädchen und Blossom waren versammelt. Ihrem Auftritt folgte zunächst atemloses Schweigen, und dann war bewunderndes Raunen zu hören.
»Guten Abend, Blossom. Welch ein wunderschöner Abend«, sagte sie lächelnd.
»Ia! Ich wußte, du würdest Vernunft annehmen. Du bist also bereit?«
»Ja, Blossom. Ich möchte so viele Männer, wie Sie für mich arrangieren können, denn ich möchte meine Tochter eines Tages zurückholen.«
Ia wurde über Nacht zur Sensation des Hauses. Alle Mädchen, die für Blossom arbeiteten, waren Schönheiten, doch keine besaß diese unschuldige Schönheit, die der Kind-Frau. Innerhalb eines Monats hatte Ia unzählige Stammkunden, die nur sie verlangten.
Doch ihr Erfolg verursachte auch Probleme. Sie verlor die Freundschaft der Mädchen. Solange sie keine Konkurrenz gewesen war, hatte man sie gemocht, doch jetzt verloren die anderen etliche Kunden an Ia. Dieses Verhalten hatte Ia zuerst verletzt, und sie hatte sich bemüht, den alten, freundschaftlichen Umgangston wiederherzustellen. Als sie sah, daß ihre Bemühungen vergeblich waren, wurde sie unglücklich. Dann gewann die professionelle Seite in ihr die Oberhand – mit einem mißmutigen Gesicht konnte sie weder Kunden noch Geld gewinnen.
Aber sie hatte Blossom. Blossom war stolz auf sie und genoß ihre Gesellschaft. Die beiden wurden Freundinnen. Ia erledigte weiterhin Blossoms Schreibarbeiten und notierte sorgfältig jeden Besuch von Lady Tregowan.
Es war Ia gleichgültig, ob ihre Kunden jung oder alt, schlank oder dick waren – ihr Aussehen spielte keine Rolle. Nach dem Verlust von Francine schienen ihr Geist, ihre Seele und ihr Körper in einen Zustand völliger Gefühlslosigkeit verfallen zu sein. Die Männer waren für sie nur Objekte, die sie zur Verwirklichung ihrer ehrgeizigen Pläne benutzte. Während des Aktes gab sie eine perfekte Vorstellung der leidenschaftlichen Hingabe, täuschte Gefühle und Wonnen vor und dachte dabei an ganz andere Dinge. Jedem Mann gestand sie seufzend, er sei der beste Liebhaber, den sie je gehabt habe. Doch kaum war sie allein im Zimmer, notierte sie ihre Einnahmen in einem kleinen Buch. Sie badete nach jedem Kunden, schrubbte ihren Körper, bis auch der letzte Hauch der Erinnerung verschwand. Sie wollte nichts mit diesen Männern zu tun haben. Dann zog sie ein neues Kleid an, schritt mit strahlendem Gesicht die Treppe hinunter und hielt im Salon Ausschau nach dem nächsten Opfer, das sie ihrem Ziel näher bringen würde.
So war Ia zu einer vollendeten Schauspielerin geworden.
Und dann verliebte sie sich.
Der Abend hatte begonnen wie viele andere auch. Ia schlenderte durch den Salon und taxierte die Kunden. Sie hatte sehr schnell ein Gespür für wohlhabende Gäste entwickelt und Blossom gesagt, daß sie nur die Reichen, von denen sie auch ein hohes Trinkgeld erwarten konnte, interessierten. Blossom war bereitwillig auf ihre Forderung eingegangen, denn Ia steigerte den Umsatz gewaltig, und außerdem war Blossom von las buchhalterischen Fähigkeiten abhängig.
Da öffnete sich die Tür, und eine Gruppe angeheiterter Männer, die den Abend im Theater und danach bei einem ausgedehnten Souper verbracht hatte, strömte herein. Blossom ließ ihren ganzen Charme spielen, denn Männer in angetrunkenem Zustand wurden leicht streitsüchtig. Der Graf von Holt hatte die ganze Gesellschaft zu einem Besuch ihres Etablissements eingeladen, deshalb befanden sich unter den Gästen viele Fremde.
Ia musterte die Gruppe interessiert. Im Gegensatz zu Blossom hatte sie nichts gegen angetrunkene Männer einzuwenden, sondern wählte den betrunkensten aus, zögerte das Vorspiel so lange hinaus, bis er einschlief und den Preis für eine ganze Nacht bezahlen mußte, während sie ungestört schlafen konnte. Am Morgen danach verführte sie ihren Freier und konnte noch einmal eine Einnahme für sich verbuchen.
Normalerweise mischten sich die Männer plaudernd und scherzend unter die Mädchen, bis sie ihre Wahl getroffen hatten. Nur ein Mann stand abseits, lehnte mit verschränkten Armen an einer Säule und betrachtete das Geschehen mit einem ironischen Lächeln. Merkwürdigerweise schienen die anderen Gäste im Salon neben ihm zu verblassen. Ann und Faith versuchten, ihn in eine Unterhaltung zu verwickeln. Er verneigte sich, er lächelte, er plauderte, doch nach einer Weile zogen die Mädchen mit enttäuschten Gesichtern ab. Auch Flora und Iris versuchten vergeblich, seine Anteilnahme zu wecken. Ia beobachtete ihn mit wachsendem Interesse. Er war von einer Aura der Überlegenheit umgeben, die wie eine Herausforderung auf sie wirkte. Ia merkte, daß er sie beobachtete, und wandte den Blick ab. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen zeigte sie ihm die kalte Schulter, musterte ihn nur heimlich aus den Augenwinkeln. Er war schlank und groß, nicht im üblichen Sinne gut aussehend, sondern wirkte durch eine gewisse Schwermut attraktiv. Sein dunkles Haar war kaum gelockt. Das gebräunte Gesicht zierten weder Schnurrbart noch Koteletten und wurde von großen, dunkelbraunen Augen beherrscht, die das Leben mit seinen Schwächen und Eitelkeiten amüsiert betrachteten.
Sie merkte voller Überraschung, daß sie in ihm nicht den Kunden, sondern, den Mann sah. Das war ihr noch nie passiert. Mit wachsender Besorgnis spürte sie, daß sie mit diesem Mann reden, ihn kennenlernen und von ihm gewählt werden wollte. Hastig trank sie einen Schluck Champagner und wandte ihm den Rücken zu. Laß dich nicht darauf ein, dachte sie. Gefühle kannst du dir nicht leisten. Durch ihre Reaktion verwirrt, zwang sie sich dazu, mit einem kleinen, häßlichen Mann zu flirten.
»Bei dem finden Sie keine Befriedigung.« Sie wußte, daß die tiefe, ausdrucksstarke Stimme ihm gehörte, so wie sie gewußt hatte, daß er sie ansprechen würde.
»Vielleicht suche ich keine Befriedigung«, antwortete sie obenhin, wagte aber nicht, ihn anzusehen, aus Angst, auf seinem Gesicht denselben gelangweilten Ausdruck zu sehen, mit dem er die anderen Mädchen betrachtet hatte.
»Das wäre schade. Schönheit sollte Befriedigung finden« In seiner Stimme lag kein spöttischer Unterton. Jetzt drehte sie sich um und sah ihn an. Dabei wurde ihr bewußt, welche Sehnsucht dieser Mann in ihr weckte.
»Komm«, sagte er, reichte ihr die Hand und führte sie die Treppe hinauf.
Ia würde diese Nacht ihr ganzes Leben lang nicht vergessen. Er liebte sie mit einer Sinnlichkeit, einer Sanftheit, einer Einfühlsamkeit und Leidenschaft, die sie zum erstenmal die körperliche Liebe bis zur Ekstase erleben ließ. Er verführte sie, er umschmeichelte ihren Körper, er spielte mit ihr, er forderte sie. Aber er hielt sich jedesmal zurück und wartete, bis ihr die Sinne fast schwanden.
la, die gelernt hatte, Ekstase vorzutäuschen, verlor sich jetzt in echter Leidenschaft. Als ihr Körper wieder im Zustand höchster Erregung war, rief sie: »Ich liebe dich.«
Später, als sie in wohliger Erschöpfung in den Kissen lag, saß_ er am Bettrand und beobachtete sie aufmerksam. Sie hoffte, Zärtlichkeit in seinen Augen zu sehen, aber er musterte sie nur mit amüsierten Blicken.
»Zufrieden?«
»Hm ...« Sie kuschelte sich ins Kissen, streckte sehnsüchtig die Hand nach ihm aus.
»Du hast gesagt, du liebst mich.« Er legte sich neben sie.
Lächelnd breitete sie die Arme aus.
»Ich weiß.«
»Sagst du das immer?«
»Niemals.« Sie reckte sich genüßlich.
»Ich wußte nicht, daß Huren lieben können«, konstatierte er und goß Champagner in das Glas auf dem Nachttisch. Ia, die zum erstenmal Erfüllung in der Sexualität gefunden hatte, spürte, wie ihr flüchtiges Glück zusammenbrach. Sie war eine Hure. Er war nur für diese Nacht ihr Mann. Wie hatte sie nur so töricht sein können, sich von Gefühlen überwältigen zu lassen, von deren Existenz sie bis jetzt keine Ahnung gehabt hatte? In ihren Augen brannten Tränen, und ihre Haut prickelte vor Anspannung. Mit ihrer ganzen Kraft kämpfte sie gegen ihre Tränen und ihre Enttäuschung an. Sie griff nach ihrem Morgenmantel, hüllte ihn eng um ihren Körper. Ein eisiger Schauder überlief ihren Rücken.
»Als ich es sagte, habe ich mich nicht als Hure gefühlt. Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Vergessen Sie, was ich gesagt habe.« Mit einem gezwungenen Lachen hob sie ihr Champagnerglas und fühlte, wie ihr Herz zerbrach.
»Ich habe es als Kompliment aufgefaßt.« Er lächelte sie an, und sie wünschte sich, sie könnte dieses Lächeln einfangen und für immer in ihrem Inneren aufbewahren.
»Ich wünschte, ich wäre keine Hure ...« hörte sie sich flüstern.
»Ich auch«, hörte sie ihn antworten.
Am folgenden Morgen sagte sie Blossom, daß sie gehen würde.
»Peter wer?«
»Peter Willoughby. Er kam gestern abend mit den Gästen des Grafen von Holt.«
»Es ist mir verdammt gleichgültig, mit wem er gekommen ist. Wer ist er?«
»Ich habe ihn nicht gefragt.«
»Ia! Ia, hast du völlig den Verstand verloren? Du platzt hier rein, erzählst mir, daß du gehst, daß dich irgendein Mann gebeten hat, seine Mätresse zu werden, und du weißt nicht einmal, wer oder was er ist.«
»Ich liebe ihn.«
Blossom stapfte wütend auf und ab, ließ sich dann in einen Sessel fallen, hob fassungslos die Hände und rief: »Liebe! Huren lieben nicht, du Närrin. Hast du das hier nicht gelernt?«
»Er gibt mir das Gefühl, keine Hure zu sein.«
»Und natürlich hat er dir gesagt, daß er dich liebt«, fauchte Blossom.
»Nein, das hat er nicht. Aber ich weiß, daß er mich mag. Er möchte nicht, daß ich hier arbeite. Er möchte mich allein für sich haben.«
»Was bezahlt er dir?«
»Über Geld haben wir nicht gesprochen. Er besitzt ein Haus, in dem ich leben werde. Ich bekomme eine Zofe und eine eigene Kutsche. Mehr will ich nicht von ihm.«
Blossom betrachtete Ia voller Verzweiflung. »Und was passiert, junge Frau, wenn er deiner überdrüssig wird? Was geschehen wird. Ich gebe dir ein Jahr, dann wird er sich nach neuen aufregenden Frauen umsehen. Dann bist du ein Jahr älter, und er sucht sich ein neues, jüngeres Mädchen.«
»Ich habe meine Ersparnisse«, antwortete Ia eigensinnig. »Und wie lange werden die reichen? Wie willst du je Francine zu dir holen, wenn deine Ersparnisse aufgebraucht sind? Ach, Ia, von all den Mädchen, die in den vergangenen dreißig Jahren für mich gearbeitet haben, schienst du mir die intelligenteste und vernünftigste zu sein. Ich habe beobachtet, wie du mit Männern umgehst, welch professionelle Einstellung du hattest, wie du zielstrebig deine ehrgeizigen Pläne verfolgt und dein Geld gespart hast. Schau dich jetzt an. Du siehst aus wie ein liebeskrankes Mondkalb.«
»Ich kann nichts dagegen tun, Blossom. Es ist einfach passiert. Ich wollte es nicht, aber ich kann nicht mehr ohne ihn leben. Wenn ich bleibe, werde ich es den Rest meines Lebens bedauern.«
»Na, wenn das so ist! Du bist ein undankbarer Fratz. Mach doch, was du willst!« Blossom stand auf und starrte Ia zornig an. »Ich habe dich von der Straße geholt. Ich habe dir ein Dach über dem Kopf gegeben, während du dein Kind ausgetragen hast. Ich habe dir sogar noch drei Monate Zeit gegeben ...«
»In den vergangenen neun Monaten haben Sie sehr gut an mir verdient. Außerdem habe ich Ihre Bücher geführt und keinen Penny dafür verlangt«, antwortete Ia verärgert.
»Du bist ein undankbares, egoistisches Miststück. Glaub ja nicht, du kannst hierher zurückkommen, wenn er dich wieder auf die Straße setzt.«
»Er wird mich nicht rauswerfen.«
»Du verdammte Närrin, natürlich wird er das.«
»Ich dachte, Sie haben etwas gegen Vulgarität«, fauchte Ia.
»Wage nicht, so zu mir zu sprechen! Verschwinde und laß dich hier nie mehr blicken.« Ia trat einen Schritt näher und wollte etwas sagen. »Verschwinde aus meinen Augen ...« schrie Blossom.
»Wie Sie wünschen.« Ia zuckte die Schultern und ging. In ihrem Zimmer packte sie hastig ihre Sachen. Blossoms Reaktion hatte sie traurig gestimmt. Sie hatte mit ihr eine gute Freundin verloren. Sie verabschiedete sich von niemandem, sondern verließ das Bordell durch die Hintertür. Die Koffer neben sich, wartete sie auf dem Bürgersteig auf Peter. Einen flüchtigen Augenblick lang fürchtete sie, alles nur geträumt zu haben. Doch da preschte ein eleganter Zweispänner um die Ecke, hielt vor ihr, Peter sprang heraus, nahm sie in die Arme, küßte sie, und Ia lachte vor Erleichterung und Glück.
Blossom beobachtete die Szene von ihrem Fenster aus. Sie weinte. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil ihr Ia so ans Herz gewachsen war. Nie hatte sie sich einem ihrer Mädchen so nahe gefühlt. Sie liebte Ia und bangte um sie wie um ihr eigen Fleisch und Blut.
Peter führte Ia zum Lunch ins Rules. Ia war noch nie in einem Restaurant gewesen. Mit strahlenden Augen betrachtete sie neugierig ihre Umgebung, genoß das hektische Treiben, bewunderte die eleganten, vornehmen Leute und hörte bekannte Namen. Sie nippte von ihrem Champagner, kostete die köstlichen Speisen, und obwohl sie dieses aufregende Abenteuer genoß, sehnte sie sich danach, mit Peter allein zu sein – im Bett.
»Woran denkst du, Ia?«
»Ich möchte mit dir im Bett sein.«
Er lachte schallend. »Hat dir letzte Nacht nicht genügt, mein Liebling?«
»Von dir werde ich nie genug haben«, sagte sie lächelnd. Ihr Herz pochte vor Glück, denn noch nie hatte sie jemand »mein Liebling« genannt. Das konnte doch nur bedeuten, daß auch er sie liebte.
»Bist du nackt unter deinem Kleid?«
»Ja.« Sie merkte zu ihrem Erstaunen, daß sie errötete. Das war ihr seit Jahren nicht mehr passiert.
»Für mich mußt du immer nackt sein.« Seine tiefe Stimme klang etwas heiser. In seinen Augen lag ein sehnsüchtiger Ausdruck voller Leidenschaft. Ia wußte, daß ihr Körper auf den Klang seiner Stimme, auf einen Blick aus seinen Augen reagierte.
Ihr Wunsch wurde nicht sofort erfüllt. Er bestellte einen Brandy und dann noch einen. Ia war frustriert. Er schien ihre Ungeduld zu spüren und zu genießen. Endlich brachen sie auf, doch auf dem Weg durchs Restaurant blieb er an mehreren Tischen stehen, begrüßte Freunde und stellte Ia vor. Trotz ihrer Ungeduld hätte sie dieses Erlebnis um nichts auf der Welt vermissen mögen. Peters Freunde standen auf, reichten ihr die Hand und begrüßten sie mit freundlichen Worten. Ein unendlicher Stolz erfüllte sie. In der Kutsche preßte sie sich eng an ihn. Zu ihrer Enttäuschung befahl er dem Kutscher, in die Bond Street zu fahren.
Er kaufte ihr ein Pelzcape, neue Hüte, Schuhe, Petticoats – keine Korsetts, keine Schlüpfer und keine Nachthemden. Ia wußte, daß die Verkäuferinnen über ihre Nacktheit unter dem Kleid schockiert waren, doch sie warf nur trotzig ihre blonde Mähne in den Nacken. Peter wollte sie nackt, also würde sie nackt bleiben.
Am frühen Abend hielt die Kutsche endlich in einer von Bäumen gesäumten, ruhigen Straße in St. John’s Wood. Auf beiden Seiten standen hübsche Villen mit gepflegten Gärten. Peter öffnete das Gartentor vor einem kleinen, weißgestrichenen Cottage mit vergitterten Fenstern und einem giebelförmigen Dach: In dem kleinen Vorgarten blühten Sommerblumen, Rosen rankten sich an den Hauswänden empor, und betörender Fliederduft hing in der Luft. Peter führte Ia an der Hand über den gepflasterten Pfad zum Haus. Die Tür wurde von einem lächelnden Dienstmädchen; Jennie, geöffnet, die knickste, worauf Ia kichernd errötete. Peter setzte seine würdevolle Miene auf und trug Ia über die Schwelle ins Haus. »Ach, Peter, es ist wundervoll«, sagte sie im Wohnzimmer mit strahlendem Gesicht. Das Haus war geräumiger, als es von außen den Anschein hatte. Die Tapeten zierten Muster in gedämpften Farben, und die Fenster im Parterre säumten weinrote Samtvorhänge. Die dem letzten Modeschrei entsprechenden schwarzen Lackmöbel waren neu. »Ich fürchte, es ist alles ein Traum, und ich werde gleich aufwachen.«
»Es ist kein Traum. Wenn dir etwas nicht gefällt, kannst du es ändern.«
»Alles ist einfach perfekt«, entgegnete Ia und schaute sich voller Bewunderung um. Peter schien ihren Geschmack erraten zu haben – oder hatte eine Frau das Haus eingerichtet? Vielleicht eine Mätresse, die vor ihr hier gewohnt hatte? Was war mit ihr geschehen? War er ihrer überdrüssig geworden? Nahm sie jetzt deren Platz ein?
Er merkte ihren Stimmungsumschwung und fragte grinsend: »Gefällt es dir?«
»Ja, ja. Zeig mir das ganze Haus«, antwortete sie und zwang sich zu einem Lächeln. Ihr wurde bewußt, daß sie ihm nie Fragen stellen durfte. Als seine Mätresse hatte sie nicht das Recht, in sein Leben einzudringen. Er würde ihr nur erzählen, was ihm angemessen erschien. Das mußte sie akzeptieren.
Er führte sie in das Speisezimmer, das klein war, aber Platz für sechs Gäste bot. Wen würden sie hierher wohl einladen? Es gab ein Arbeitszimmer für Peter, das im Gegensatz zu den anderen Räumen nur spärlich eingerichtet war und streng wirkte. Ihr Schlafzimmer hatte rot-weiß gestreifte Tapeten, weiße Seidenvorhänge, ein breites Messingbett mit einer weißen Tagesdecke, Teppiche bedeckten den Boden, und eine Tür führte ins Badezimmer mit fließendem Wasser, das mit Gas erhitzt wurde. Schlafzimmer und Bad nahmen den ganzen ersten Stock ein. Es gab kein weiteres Zimmer. Eine schmale Treppe führte ins Dachgeschoß, wo Jennie schlief.
»Es gefällt dir also?«
»Ich liebe es, Peter. Ich weiß, ich werde hier glücklich sein. Ich werde dich verwöhnen, dir wundervolle Dinners kochen – hoffentlich«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu. »Ich kann nämlich nicht kochen, das habe ich nie gelernt.«
»Jennie wird kochen. Ich möchte nicht, daß du ermüdende Hausarbeiten machst. Du hast eine andere Aufgabe in meinem Leben.« Er führte sie zum Bett und begann sie auszukleiden. »Natürlich werde ich nicht hier wohnen.«
Die Enttäuschung war ihr anzusehen. »Nein?«
»Nein, wie kommst du nur auf den Gedanken?« Er drückte sie sanft aufs Bett und küßte ihren Hals. In ihrer ängstlichen Anspannung fühlte Ia nichts. Sie wollte ihn fragen, wo er wohnte, und vor allem wollte sie wissen, ob er verheiratet war. Aber sie wagte nicht zu fragen. Er sah sie verwirrt an. »Was ist los mit dir? Wo bleibt die Leidenschaft von letzter Nacht, Ia?«
»Es tut mir leid.« Sie berührte sanft sein Gesicht. »Mir ist alles so fremd.«
»Ia, kein Mann lebt mit seiner Mätresse.«
»Das weiß ich natürlich. Ich bin töricht. Die ganze Aufregung hat mich wohl etwas verwirrt.« Sie legte sich zurück, wollte vergessen und ihm die Geliebte sein, die er sich wünschte. Sie mußte lernen, ihre Gefühle zu kontrollieren, und durfte sich nicht in illusorischen Träumen verlieren. Sie war nur seine Mätresse, mehr nicht. Als er sie liebte, preßte sie ihr Gesicht ins Kissen. In ihren Augen brannten Tränen. Sie war seine Mätresse, doch sie wollte seine Frau sein.
»Ia!« Er hörte auf, ihren Körper zu streicheln, und starrte sie mißmutig an. »Ia, du liegst da wie ein Stück Holz. Mach mich nicht wütend, ich erwarte mehr von dir.«
Mit ängstlichen Augen sah sie ihn an und sagte: »Es tut mir leid, Peter. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«
»Vielleicht bist du eifersüchtig?«
»Ich? Eifersüchtig?«
»Ja, du. Ihr Frauen seid alle gleich.«
»Nein, nein, das ist es nicht«, beteuerte sie hastig. »Warum sollte ausgerechnet ich eifersüchtig sein? Ich bin dankbar für alles, was du mir gibst.«
»Ich glaube, du lügst, Ia St. Just. Ich glaube, du fragst dich, wer das Haus eingerichtet und wer vor dir hier gelebt hat.«
»Um Himmels willen, wie kommst du nur auf diese Idee?« sagte sie mit einem kläglichen Lachen.
»Um dich zu beruhigen und damit wir uns endlich der Liebe hingeben können, werde ich es dir sagen. Ich habe dieses Haus fertigmöbliert gekauft. Du bist die erste Frau, die es bewohnt.«
»Und die letzte.« Trotzig warf sie ihr Haar in den Nacken und schaute ihn herausfordernd an.