Neuntes Kapitel

1

Ia hatte sich darauf gefreut, ein Dienstmädchen zu haben. Endlich würde sie jemandem Anweisungen erteilen können. Aber Jennie hatte darüber eigene Ansichten. In Peters Gegenwart gab sie sich unterwürfig, behandelte Ia respektvoll und befolgte lächelnd und willig jede Anordnung. Kaum war Peter jedoch aus dem Haus, vernachlässigte sie ihre Pflichten und ignorierte Ias Wünsche. Ihre unverschämte Art und ihre Faulheit störten Ia in höchstem Maß. Sie mochte dieses Mädchen nicht.

Sie hatte zwar einen zaghaften Versuch gewagt, Peter auf Jennies Unzulänglichkeiten hinzuweisen. Doch er hatte nur ärgerlich abgewehrt und sie gebeten, ihn nicht mit Personalproblemen zu belästigen. Damit könne sie doch alleine fertigwerden, hatte er kurz angebunden gesagt.

Ia war bewußt, daß sie in gewisser Weise selbst an der Einstellung des Dienstmädchens ihr gegenüber schuld war. Ihre Bekanntschaft mit Peter hatte ihre Persönlichkeit völlig verändert. Früher hatte sie genau gewußt, was sie wollte, und hatte ihr Ziel selbstsicher verfolgt, während sie jetzt von zahllosen Unsicherheiten gequält wurde. Sie war sich sicher, daß er ihrer eines Tages überdrüssig werden würde. Sie war davon überzeugt, daß sie nicht amüsant und attraktiv genug für ihn war. Sie verbrachte Stunden vor dem Spiegel und betrachtete ängstlich ihr Gesicht. Sie aß nur wenig, um schlank zu bleiben. Sie las jedes Buch, das veröffentlicht wurde, auch wenn es ihr nicht gefiel. Sie zwang sich sogar dazu, jeden Tag die Times zu lesen, obwohl die Artikel sie nervten, denn sie hatte Angst, ihn mit ihrer Unterhaltung zu langweilen.

Peter hatte diese Veränderung in ihr verursacht. Er hielt sie nicht nur im ungewissen darüber, wann er sie besuchen würde, sondern verunsicherte sie auch mit seinen wechselnden Stimmungen. Es schien mehrere Peters zu geben. Da war der Peter, den sie liebte, der mit ihr plauderte, lachte und sie leidenschaftlich und zärtlich liebte. Dann gab es den schweigsamen Peter, der grübelnd mit einem Glas Portwein dasaß, blicklos vor sich hinstarrte und ihr nicht zuhörte. War er in dieser Stimmung, ging er nach ein paar Stunden, ohne sie berührt zu haben. Und da war noch der Peter, den sie fürchtete, der an allem herummäkelte – an ihrem Aussehen, ihrer Unterhaltung und den ihm vorgesetzten Mahlzeiten. Bei diesen Gelegenheiten befahl er ihr barsch, ins Schlafzimmer zu gehen, und liebte sie auf eine beinahe brutale Weise, ohne auf ihr Vergnügen Rücksicht zu nehmen.

Sie war sich der Veränderungen ihrer Persönlichkeit bewußt und machte sich Sorgen darüber. Ihr nervöses, schreckhaftes Wesen hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der Frau, die er zur Geliebten genommen hatte, und darin lag die eigentliche Gefahr. Und obwohl Ia die Wahrheit erkannte, konnte sie nichts dagegen tun.

Sie wünschte sich, mehr über ihn zu wissen. Seit Monaten lebte sie in seinem Haus und hatte keine Ahnung von seinem Leben, denn sie stellte nie Fragen. Aus zufälligen Bemerkungen hatte sie erfahren, daß er die vergangenen zwei Jahre in Indien verbracht hatte, wußte aber nicht, ob bei der Armee, im diplomatischen Dienst oder als Geschäftsmann. Sie wußte, daß er Parfüm mit Heliotropduft mochte, und hatte sich sofort eine Flasche davon gekauft. Außerdem wußte sie, daß er in Oxford studiert hatte, den Prinzen von Wales kannte, Zwiebeln haßte und Eiskrem liebte. Aber wo er lebte, mit wem und wie reich er war, blieb ein Geheimnis.

Sie war zuviel allein. Er besuchte sie in ganz unregelmäßigen Abständen. In einer Woche kam er fünfmal, und dann blieb er wieder zehn Tage weg. Er verbrachte nie eine ganze Nacht bei ihr. Da er immer völlig überraschend kam, wagte sie nicht auszugehen. Er hatte ihr eine eigene Kutsche angeboten, doch sie hatte abgelehnt. Es wäre ein Vergnügen gewesen, darin in die Stadt zu fahren, Blossom einen Besuch abzustatten, um ihr zu zeigen, wie gut es ihr ging, oder eine Spazierfahrt durch den Hyde Park zu machen. Aber aus Angst, nicht da zu sein, wenn er kam, verwehrte sie sich jede Freiheit. Sie saß Stunden am Fenster, beobachtete die vorbeifahrenden Kutschen und erfand Spiele – fünf schwarze Kutschen innerhalb von fünf Minuten bedeuteten, daß die nächste Peters Kutsche sein würde. In dieser endlosen Zeit des Wartens entdeckte sie, daß in der Straße noch andere Mädchen ein Leben wie sie führten. Das schloß sie aus der Ankunft der Kutschen, die ein paar Stunden vor den Häusern standen und dann wieder davonfuhren, um am nächsten Tag zur selben Zeit wiederzukommen. Auch sah sie diese Mädchen, für einen Spaziergang, für einen Besuch im Theater oder einen Einkaufsbummel gekleidet, aus dem Haus gehen.

Dann schnaubte Jennie eines Tages verächtlich, als sie ihr eine Anweisung erteilte. Dieses Schnauben drückte so viel Verachtung aus, daß Ia die Beherrschung verlor.

»Ich habe dir befohlen, dieses Kleid zu bügeln.«

»Machen Sie’s doch selbst.«

»Wage nicht, so mit mir zu reden.«

»Sie hätten bitte sagen sollen.«

»Vielleicht hätte ich es getan, wenn du nicht so unverschämt wärst. Bügle jetzt das Kleid.«

»Ich bin mit Mr. Willoughbys Wäsche beschäftigt. Die kommt zuerst.«

»Ich sage dir, was du zu tun hast.«

»Pah!« Jennie stemmte die Fäuste in die Hüften, und ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich, was sie von Frauen in Ias Position hielt.

»Ich schlage vor, du packst deine Sachen und gehst, Jennie. Sofort.«

»Wie bitte?« entgegnete Jennie lachend.

»Du hast mich gehört.«

»Mr. Willoughby hat mich eingestellt. Von Frauen Ihrer Sorte lasse ich mich nicht rauswerfen.«

»Da liegst du falsch. Verschwinde auf der Stelle.«

»Das werde ich, verdammt noch mal, nicht tun.«

Ia war mit ein paar Schritten bei Jennie, gab ihr eine schallende Ohrfeige und drängte das geifernde Mädchen zur Tür hinaus und die Treppe hoch in sein Zimmer. »In fünf Minuten hast du gepackt, sonst werfe ich deine Sachen auf die Straße.«

»Ich werde mich bei Mr. Willoughby über Sie beschweren.«

»Gut. Und wie willst du das anstellen?«

»Ich gehe zu seinem Haus am Cadogan Square.«

»Gut, tu das.« Ia schlug die Tür hinter sich zu. Jetzt weiß ich wenigstens, wo er wohnt, dachte sie und eilte die Treppe hinunter. Endlich bin ich dieses Miststück los. Als Jennie nach zehn Minuten noch immer nicht erschienen war, ging sie wieder hinauf. Das Mädchen lag auf dem Bett und starrte zur Decke.

»Du willst es wohl nicht anders«, sagte Ia schneidend und stopfte Jennies Sachen in eine Reisetasche.

»Das können Sie nicht machen!«

»Du siehst doch, daß ich’s kann.«

Ia packte drei Taschen, schleppte sie hinunter, öffnete die Haustür und schleuderte das Gepäck hinaus. Jennie lief kreischend hinterher.

»Das wirst du mir büßen, du Hure!« schrie Jennie.

»Gibt’s Probleme mit dem Personal?« fragte eine amüsierte Stimme von der anderen Seite der Hecke. Dort stand eine junge Frau in ihrem Alter, die lachend die Szene beobachtete.

»Ich habe sie von Anfang an nicht gemocht. Sie ist unverschämt und faul. Ich mußte sie rauswerfen«, verteidigte sich Ia.

»Mir schuldest du keine Erklärungen, Schatz. Wenn die Mädchen ihre Arbeit nicht machen, kriegen sie einen Tritt in den Hintern. Das ist meine Einstellung. Du wirst bald eine Neue finden.«

»Ich will kein Dienstmädchen mehr. Dauernd schnüffeln sie hinter einem her und lauschen an den Türen.«

»Sei doch nicht dumm. Natürlich brauchst du ein Dienstmädchen. Willst du etwa selbst die Hausarbeit machen? Wie wär’s mit einem Gläschen Gin?«

Ia warf einen ängstlichen Blick die Straße hinauf. »Das geht nicht.«

»Erwartest du deinen Galan?«

»Eigentlich nicht. Ich weiß nie, wann er kommt.«

»Na, dann komm rein. Ich könnte ein bißchen Gesellschaft gebrauchen. Von meinem Fenster aus kannst du genausogut Ausschau nach ihm halten.«

»Ja, warum denn nicht?« Ia folgte der elegant gekleideten jungen Frau durch den Garten in ein Haus, das beinahe identisch mit dem ihren war. »Sind alle Häuser in dieser Straße gleich?« fragte sie beklommen.

»Die meisten. Die Herren kaufen sie möbliert. Nur Bubbles in Nummer 25 ist anders eingerichtet, und Chloe gefielen die Möbel nicht, da hat ihr Kerl ihr neue gekauft. Mir gefällt mein Haus. Es ist besser als alles, was ichgewohnt war. Wie heißt du?« Die Ausdrucksweise des Mädchens war merkwürdig. Sie wechselte ständig zwischen einem starken Cockneyakzent und einem gekünstelt klingenden Tonfall.

»Ia.«

»Ich bin Florrie. Hier ist dein Drink.« Sie reichte Ia mit anmutiger Geste ein Glas Gin. Ia akzeptierte es zögernd. Sie trank zwar gern mal einen Schluck Alkohol, aber nicht in dieser Menge. »Setz dich ans Fenster, damit du die Straße im Auge behalten kannst.« Florrie setzte sich ihr gegenüber.

»Verdammt, sieh dir das Feuer an. Diese faule Kuh ...« Florrie durchquerte das Zimmer, riß die Tür auf und schrie: »Mary, du faules Aas, beweg deinen fetten Arsch hierher, sonst kriegst du Prügel!« Bleich vor Angst huschte gleich darauf ein Mädchen herein und legte Holz aufs Kaminfeuer. »Du mußt ihnen von Anfang an zeigen, wer der Boß ist. Hol dir ein Mädchen, das jünger ist als du. Mit denen hast du’s leichter. Mary, hast du eine Freundin, die Arbeit sucht? Nebenan ist eine Stelle freigeworden.«

»Ach, ich ...« versuchte Ia einzuwenden.

»Mary ist ein nettes Mädchen. Wir verstehen uns großartig. Ich schrei sie manchmal an, aber das macht ihr nichts aus, nicht wahr, Mary?«

Mary nickte kichernd und sagte schüchtern: »Ich habe eine Freundin ... wir waren zusammen im Waisenhaus. Ich sag’s ihr.«

Im Kamin knisterte das Feuer. Mary ging hinaus, die beiden Mädchen nippten von ihrem Gin, und Florrie stellte ihrer Nachbarin neugierige Fragen.

»Ich hatte dich schon für eingebildet gehalten, weil du dich die ganze Zeit so abgesondert hast.«

»Das liegt an Peter. Ich weiß nie, wann er kommt. Deswegen wage ich nicht auszugehen.«

»Ach, von der Sorte ist er. Wahrscheinlich kommt er eine Zeitlang jeden Tag, und dann läßt er dich zwei Wochen lang allein.«

»Ja, das stimmt.«

»Du weißt doch, was das bedeutet, nicht wahr?«

»Nein.«

»Er macht sich was aus dir.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Wenn sie regelmäßig kommen – jeden Montag, Mittwoch und Freitag für drei Stunden –, dann interessieren sie sich nichtwirklich für dich. Dann bist du für sie nur ein Körper zur Befriedigung ihrer Lust. Das finden sie bei jeder. Wenn sie dich aber im ungewissen lassen, wie deiner, dann heißt das, er mag dich – er ist in dich verknallt. Er hält dich auf Trab. Da du nie weißt, wann er kommt, gehst du nicht aus, also kann er sicher sein, daß du keinen anderen Mann kennenlernst. Verstehst du?«

»Ach, ich weiß nicht«, antwortete Ia vage, freute sich aber insgeheim über Florries Worte.

»Darauf gehe ich jede Wette ein.«

»Na ...«

»Was machst du Weihnachten?«

»Er hat nichts gesagt ...«

»Der Nachteil bei diesen Kerlen ist allerdings, daß man keine eigenen Pläne machen kann. Wie sollst du da ein eigenes Leben führen?«

»Ich will ja gar kein eigenes Leben ...«

»Tapp nicht in diese Falle, Schatz. Wenn er deiner überdrüssig wird, stehst du vor dem Nichts.«

»Aber du hast doch gerade gesagt ...«

»Das heißt nicht, daß er bei dir bleibt, Schatz. Es heißt nur, daß er dich im Augenblick für sich alleine haben will«, erklärte Florrie und zerstörte Ias aufkeimende Hoffnung. »Wie auch immer ... nächste Woche ist Weihnachten. Ich gebe eine Party. Unsere Kerle feiern mit ihren Familien. Komm, wenn du Lust hast. Ich glaube ...« Florrie konnte ihren Satz nicht beenden, denn Peters Kutsche hielt vor dem Haus.

»Da kommt er!« rief Ia, sprang auf, bedankte sich hastig für den Drink und lief hinaus.

»Die rennt in ihr Verderben«, murmelte Florrie und schüttelte den Kopf.