2

»Wie konntest du Jennie eigenmächtig entlassen?« fragte Peter streng, als sie ihm aus dem Mantel half.

»Es tut mir leid, Peter, aber sie mußte gehen.«

»Warum hast du mir nicht gesagt, daß du Probleme mit ihr hast? Ich hätte mit ihr gesprochen. Es ist schwierig, gute Dienstboten zu finden.« Ia folgte ihm ins Wohnzimmer. Das Feuer im Kamin war niedergebrannt. »Es war mir sehr peinlich, als sie plötzlich bei mir zu Hause auftauchte.«

»Ich habe versucht, mit dir über Jennie zu sprechen, aber du hast nur verärgert reagiert. Da wollte ich dich damit nicht mehr belästigen.« Ia fühlte sich ungerecht behandelt, zeigte es aber nicht. Statt dessen stocherte sie heftig mit dem Schürhaken im Feuer herum.

»Wir werden Ersatz für sie finden.«

»Ich brauche kein Dienstmädchen. Ich ziehe es vor, allein zu sein – nur du und ich. Ich kann genausogut für dich sorgen.«

Er setzte sich in den Ohrensessel vorm Kamin.

»Wie willst du das schaffen? Wer hilft dir beim Ankleiden?«

»Dabei brauche ich keine Hilfe. Meine Kleider haben den Verschluß vorne oder an der Seite.«

»Und beim Ausziehen helfe ich dir«, sagte er lachend, beugte sich vor und küßte ihren Nacken. Sein Ärger schien verflogen zu sein.

»Natürlich.«

»Aber wer wird kochen? Und saubermachen?«

»Ich habe dieses Buch in der Küche gefunden. Schau.« Sie legte einen dicken Wälzer auf den Tisch. »Hier drin ist alles genau erklärt. Und putzen kann jede Närrin. Denk nur, wieviel Geld du sparen kannst, Peter. Ich möchte es versuchen. Bitte.«

»Nein«, sagte er nach einer Weile. »Ich möchte nicht, daß du allein im Haus bist.«

»Aber, Peter ...«

»Kein Aber. Ich suche dir ein neues Dienstmädchen. Und heute abend gehen wir aus. Hol deinen Mantel.«

Ia war enttäuscht. Die Fahrt in die Stadt und zurück raubte ihr mindestens zwei Stunden der kostbaren Zeit mit ihm.

»Ich habe das Mädchen von nebenan kennengelernt. Sie hat mich zu sich eingeladen«, erzählte sie ihm in der Kutsche.

Sie sah im trüben Licht der Straßenlaternen den mißmutigen Ausdruck auf Peters Gesicht. »Das halte ich für keine gute Idee.«

»Warum denn nicht?«

»Diese Frau ist wohl kaum eine passende Gesellschaft für dich.«

»Sie ist sehr nett. Dann habe ich wenigstens etwas Unterhaltung, wenn du nicht da bist ... wie so oft ...« Der Satz blieb in der Luft hängen. Er war ihr unwillkürlich über die Lippen gekommen.

»Beklagst du dich etwa?«

»Nein, nein. Natürlich nicht. Aber ich unterhalte mich gern mit netten Leuten. Sie kann uns vielleicht ein neues Dienstmädchen besorgen«, fügte sie hastig hinzu.

»Ich wähle die Dienstboten aus. Auf die Empfehlung einer anderen Nutte lege ich keinen Wert«, sagte er schroff. Ia wandte ihr Gesicht ab, damit er ihre Tränen nicht sah. In einem Atemzug hatte er Florrie als nicht gut genug für sie bezeichnet, um sie im nächsten Augenblick mit ihr in einen Topf zu werfen. Sie konnte seinen Gedankengängen nicht folgen.

Das Dinner zog sich in die Länge und verlief größtenteils schweigend. Ia wäre gern fröhlich gewesen, um ihn aufzuheitern, denn er wirkte geistesabwesend und bedrückt. Zwischen ihnen herrschte eine ungewohnte Spannung. Ia war unruhig und gereizt. Die kurze Unterhaltung mit Florrie hatte ihren alten Kampfgeist geweckt.

Als er sich dann im Schlafzimmer vor dem Gehen anzog, brachte sie das Gespräch auf Weihnachten.

»Ich werde dich erst im neuen Jahr wiedersehen. In drei Tagen reise ich zu meinem Onkel. Warum?«

»Ach, nichts. Ich habe nur darüber nachgedacht.« Sie hielt es für besser, ihm nichts von Florries Einladung zu erzählen.

»Ich schicke dir ein neues Dienstmädchen. Du wirst nicht allein sein.«

»Danke, Peter.«

»Klang das sarkastisch?« fragte er und starrte sie an.

»Nein. Ich habe mich nur bei dir bedankt.«

Er warf ein Päckchen aufs Bett. »Dein Weihnachtsgeschenk.«

»Danke, Peter. Ich habe leider nichts für dich. Ich dachte nicht ... ich gehe nicht gern aus.«

»Macht nichts.« Er ging zur Tür. Sie hatte gehofft, er würde sie zum Abschied küssen.

Am nächsten Morgen klopfte sie an Florries Haustür. Das Mädchen führte sie nach oben. Florrie lag noch im Bett. Ihre Unterlippe war geschwollen und ein Auge blau verfärbt.

»Florrie! Was ist passiert?«

»Dieser Bastard! Weasel, er hat mich verprügelt.«

»Du meinst ...«

»Ja, er ist ein richtiges Arschloch. Wenn sie keinen hochkriegen, lassen sie die Wut an dir aus ...« Sie lachte und krümmte sich gleichzeitig vor Schmerzen. »Ich such mir einen anderen Freier.

»Wie viele hattest du denn schon?«

»Fünf. Der jetzige ist der schlimmste. Er ist gemeiner als die anderen und stinkt. Na, was kann ich für dich tun, Ia?«

»Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich wollte dich nur fragen, ob du mit mir in die Stadt fährst.«

»Ach, breitest du endlich deine Flügel aus? Hörst du also auf mich?«

»Ich habe erfahren, wo Peter wohnt, und möchte mir das Haus anschauen.«

»Zu Weihnachten bin ich wieder auf den Beinen. Du kommst doch hoffentlich zu meiner Party? Nimm meine Kutsche. Ich brauche sie heute nicht. Ich bleibe im Bett und tröste mich mit einem Glas Gin.«

Eine Stunde später saß Ia in Florries Kutsche am Cadogan Square und fragte sich, in welchem Haus Peter wohnte.

»Wollen Sie lange hier warten, Miss? Bei der Kälte frieren mir die Ohren ab.« Florries Kutscher spähte zum Fenster herein. Ia zitterte trotz der dicken Decke und dem Fußwärmer.

»Ich möchte nur rausfinden, in welchem Haus eine bestimmte Person lebt.«

»Ihr Kerl? Hat er Sie verlassen?« Der Kutscher spuckte aus. »Wie heißt er? Ich finde es raus.«

»Willoughby.«

Der Kutscher verschwand im Nebel und kam nach ein paar Minuten zurück. »Er wohnt in Nummer 4, ist ein respektabler junger Mann, kam erst kürzlich aus Indien zurück, mit dem Vizekönig. Lebt mit seiner verwitweten Mutter und einer unverheirateten Schwester. Stinkt vor Geld. Wollen Sie sonst noch was wissen?«

»Mr. Dutton, Sie sind ein Schatz. Wie haben Sie das alles in Erfahrung gebracht?«

»Ich habe in den Ställen gefragt. Die Dienstboten wissen immer alles über ihre Herrschaften. Kutscher sind wundervolle Menschen.« Er lachte über seinen Witz. »Können wir jetzt fahren? Ich erfriere sonst.«

»Würden Sie bitte ganz langsam an dem Haus vorbeifahren?« Ia lächelte ihn an.

»Für Sie, mein Schatz, würde ich nach Timbuktu fahren«, sagte er fröhlich, stieg auf den Kutschbock und trieb pfeifend die Pferde an. Ia spähte aufgeregt aus dem Fenster. Dutton hielt direkt vor dem Haus an. Mit pochendem Herzen schlug Ia ihren Mantelkragen hoch und sah hinter den erleuchteten Fenstern Gestalten, die umhergingen. Als die Haustür geöffnet wurde, lehnte sie sich zurück. Ehe sie sehen konnte, wer herauskam, fuhr Dutton schon weiter.

Ia kuschelte sich tief in ihr Pelzcape. Er ist nicht verheiratet. Plötzlich spürte sie die Kälte nicht mehr.

Am nächsten Tag kam das neue Dienstmädchen. Lizzie war klein, stämmig und vierzig Jahre alt. Ihr Gesicht war mit einem leichten Haarflaum bedeckt, und sie schielte, was ihr einen verschlagenen Ausdruck gab. Sie war weder freundlich noch unfreundlich und erledigte ihre Arbeiten zu Ias Zufriedenheit. Es war wohl töricht gewesen anzunehmen, ich könnte ohne Dienstmädchen auskommen, dachte Ia nach ein paar Tagen. Sie besuchte Florrie, die beschlossen hatte, bis nach Weihnachten bei Weasel zu bleiben, jeden Tag.

»Mit dem blauen Auge schaut mich sowieso kein anderer an. Außerdem könnte er zu Weihnachten eine Anwandlung von Großzügigkeit bekommen. Wer kennt schon sein Glück?«

»Oder er schenkt dir was aus Schuldgefühl.«

»Der Sadist nicht«, brummte Florrie. »Kommst du zu meiner Party?«

»Ja, gern.«

»Gut. Es hat keinen Sinn, allein Trübsal zu blasen, nicht wahr? Ich mag diese Weihnachtsfeiern. Bei uns zu Hause wurde nie gefeiert. Bei dir?«

»Im Waisenhaus ging’s ein bißchen feierlicher zu als sonst. Aber die anderen Weihnachtsfeste ...« Ia verstummte. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an die Feiertage, die sie auf Gwenfer verbracht hatte, und an Alices Geschenke und die Stricksachen von Queenie. Merkwürdig, daß sie sich gerade jetzt daran erinnerte, da sie doch lange – seit ihrer Bekanntschaft mit Blossom – weder an Alice noch an deren Verrat gedacht hatte. Alice hatte sie im Stich gelassen, und sie hatte Blossom enttäuscht. Das Leben ging merkwürdige Wege.

»Welche anderen Weihnachtsfeste?« fragte Florrie.

»Ach, nichts. Mir fiel nur plötzlich etwas ein, was vor langer Zeit war.«

»Ich denke nicht gern an die Vergangenheit ... Was ziehst du zur Feier an?«

Ia war erleichtert, daß Florrie das Thema wechselte.

»Lizzie, haben Sie eine Familie, bei der Sie Weihnachten verbringen möchten?« fragte Ia später am Abend.

»Wie meinen Sie das, Miss?«

»Vielleicht möchten Sie ein paar Tage freinehmen? Mr. Willoughby kommt erst nach Neujahr zurück. In der Zwischenzeit kann ich mich allein versorgen.«

»Ach, ich weiß nicht, Miss. Natürlich würde ich gern meine Mutter besuchen, aber ...«

»Fehlt Ihnen das Fahrgeld?«

»Nein, das ist es nicht, Miss. Ich wohne in Whitechapel. Aber ich habe dem Herrn versprochen, Sie nicht allein zu lassen.«

»Er braucht es doch nicht zu wissen, oder? Ich werde es ihm nicht sagen.«

»Danke, Miss. Ja, ich fahre gern ein paar Tage nach Hause.«

»Whitechapel. Kennst du das Feathers

»Natürlich, Miss. Das Pub ist nur um die Ecke.«

»Kennen Sie zufällig auch Gwen Roberts, die damals mit Johnnie Flocks ging?« fragte Ia beiläufig.

»Natürlich kenne ich Johnnie. Jeder kennt Johnnie. Doch eine Gwen ist mir nicht bekannt. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Aber wie seine Frau heißt, weiß ich nicht.«

»Ich nehme an, sie ist das Mädchen, das ich einmal gekannt habe. Das freut mich«, sagte Ia lächelnd. »Sie war nett zu mir, als ich niemanden hatte. Gut, Lizzie, Sie können jetzt Ihre Sachen packen.«