Am Anfang versprach Florries Party kein Erfolg zu werden. Das Auftreten der Mädchen, ihr überkandideltes Benehmen, das affektierte Gekicher erinnerten an eine schlechte Parodie der vornehmen Gesellschaft. Doch nach dem opulenten, mehrgängigen Dinner, begleitet von vorzüglichen Weinen, entspannte sich die Atmosphäre. Mit jedem Glas Wein, das getrunken wurde, lockerten sich die Sitten. Die Mädchen gaben sich natürlicher, und ihr unverwüstlicher Humor brach sich Bahn. Nach dem Dinner gingen sie auf leicht unsicheren Beinen in das Wohnzimmer und gruppierten sich im Halbkreis vor das prasselnde Kaminfeuer. In lässiger Haltung, die Röcke über die Knie hochgezogen, ein Glas Gin in der Hand, erzählten sie Anekdoten aus ihrem abenteuerlichen Leben, die mit derben Witzen gespickt waren.
Ia lachte Tränen und nuschelte kichernd: »Das ist das schönste Weihnachtsfest, das ich je gefeiert habe.« Dann schüttelte sie den Kopf, denn anstatt der vier Mädchen sah sie mittlerweile acht. »Ich glaube, ich bin betrunken.«
»Du trinkst nicht genug, mein Schatz, das ist dein Problem«, verkündete Florrie.
»Ehrlich gesagt, ich mag das Zeug nicht«, erklärte Ia in einem Ton, als würde sie ein Geheimnis verraten.
»Ohne meinen Gin würde ich nicht überleben«, sagte Doris und schwenkte ihr Glas.
»Champagner mag ich ganz gern«, gestand Ia schüchtern.
»Du, trägst die Nase aber hoch, meine Süße. Seit sechs Monaten wohnst du hier und hast dich nicht bei uns blicken lassen«, sagte Primrose vorwurfsvoll.
»Schimpf nicht, Prim. Es ist nicht ihr Fehler. Ihr Kerl läßt sie nicht ausgehen«, beschwichtigte Florrie sie.
»Warum redet sie denn so hochgestochen?«
»Weiß ich nicht. Frag sie.«
»Na komm schon, erzähl’s uns«, verlangte Primrose.
»Ich habe nicht immer so geredet. Ich hatte mal eine Freundin, Alice, die hat mir beigebracht, mich richtig auszudrücken«, erklärte Ia und bemühte sich, deutlich zu sprechen.
»Pah ... ich würd’s ja noch glauben, daß ein Mann dir was beigebracht hat, aber eine Frau? Welche anständige Frau gibt sich denn mit einer von unserer Sorte ab?« beharrte Primrose, die überzeugt war, daß Ia ihnen etwas vorlog.
»Es ist wahr!« Ia starrte Primrose streitsüchtig an. »Meine Freundin Alice hat in einem Herrenhaus gelebt und mir Lesen und Schreiben beigebracht ...«
»Wenn du so vornehme Freunde hast, warum läßt du dich dann von einem Kerl aushalten?«• giftete Primrose.
»Laß sie in Ruhe, Primrose. Hör auf, an ihr herumzunörgeln. Was hast du nur?« Florrie reichte den Ginkrug herum.
»Sie ist fortgegangen und hat mir nicht geschrieben.« Ia starrte wehmütig ins Feuer. »Das Miststück hat mich verlassen. Ich hasse sie.« Wütend wischte sie ihre Tränen ab.
»Du arme Kleine«, sagte Primrose und brach in Tränen aus. »Dann war sie wohl keine gute Freundin, wie?«
Ia warf mit einer trotzigen Geste ihr Haar in den Nacken. »Nein, Primrose, du hast recht. Sie war mir keine echte Freundin, so wie ihr alle es seid.« Plötzlich lachte sie auf, warf ihre Arme in die Luft, als wollte sie alle umarmen, und verschüttete den Gin auf ihr Kleid. »Du meine Güte, schaut mich nur an.« Sie sprang auf und stand schwankend da. »Ich geh jetzt wohl besser nach Hause.«
»Leg dich aufs Sofa, Ia, mein Schatz. Schlaf deinen Rausch aus, dann geht’s dir wieder besser.« Florrie bettete Ia auf eine Couch und deckte sie zu. Ia schlief sofort ein.
»Armes Ding«, sagte Florrie, als sie sich wieder in ihren Sessel setzte. »Ich glaube, sie liebt ihren Kerl.«
»Diese Närrin. War er ihr erster?«
»Das bezweifle ich. Sie erzählt nicht viel, aber ich glaube, sie geht schon eine Weile auf den Strich.«
»Boris hat sie letzthin gesehen, als er zu mir kam. Er sagt, sie hat bei Blossom December gearbeitet.« Doris hatte schon den ganzen Abend darauf gewartet, den anderen diese Neuigkeit erzählen zu können.
»Bei Blossom!« riefen die Mädchen beinahe gleichzeitig aus. »Ja. Boris sagt, sie sei dort über ein Jahr gewesen.«
»Und sie hat Blossom wegen eines Kerls verlassen? Sie muß verrückt sein. Bei Blossom kann man ein Vermögen verdienen. Ich würde alles darum geben, bei ihr arbeiten zu können.«
»Aber wenn sie sich verliebt hat ...«
»Mein Boris sagt, ihr Kerl sei sehr reich.«
»Es spielt keine Rolle, wie reich er ist. Er wird nicht für sie sorgen, wenn er ihrer überdrüssig ist, stimmt’s?« Primrose hatte völlig ihre ablehnende Haltung Ia gegenüber vergessen und verteidigte sie jetzt vehement.
»Ich klaue, was ich kann«, sagte Florrie. »Mit dem Metzger und dem Weinhändler habe ich gewisse Vereinbarungen getroffen ... Weasel hat keine Ahnung davon. Ich sorge für mein Alter vor ...«
Ia schlief, während die anderen Mädchen genüßlich ihre Erfahrungen mit ihren verschiedenen Liebhabern austauschten.
Der Einfluß der anderen Mädchen machte sich allmählich bei Ia bemerkbar, und sie begann, ihre Beziehung zu Peter in Frage zu stellen. Sie erfuhr, daß die anderen nicht nur großzügige Taschengelder bekamen, sondern auch Ersparnisse vom Haushaltsgeld behalten konnten. Bei Peters nächstem Besuch würde sie ihn bitten, ihr regelmäßig eine gewisse Summe zu geben, damit sie ihre persönlichen Ausgaben bestreiten konnte. Außerdem würde sie auf mehr Freiheit in ihrer Beziehung bestehen, denn er hielt sie praktisch wie eine Gefangene.
Aber als Peter endlich kam, sie in die Arme nahm, küßte und liebte, verflogen ihre Vorsätze, und sie verfiel wieder in ihre Routine des geduldigen Wartens und Hoffens. Sie war überzeugt, daß Lizzie ihr nachspionierte, denn Peter wußte stets, wann sie Florrie besucht hatte. Ihre Reaktion auf diese Erkenntnis war zwiespältig. Ihr anfänglicher Zorn wich einem Gefühl des Stolzes. Es bedeutete doch, daß er sich Gedanken um sie machte, sie vielleicht sogar liebte. Seine Eifersucht war Ausdruck seiner Zuneigung, und sie klammerte sich daran wie eine Ertrinkende an einen Strohhalm. Und sie versank wieder in der Lethargie, die Peter in ihr auslöste. Aus dem hitzigen, leidenschaftlichen Mädchen wurde eine gefügige Mätresse, die furchtsam jede Konfrontation mied, denn sie hatte Angst, den Mann zu verlieren, den sie anbetete.
Ia saß im Garten und las. Sie war Mitglied der Leihbücherei geworden und verschlang gierig jedes Buch, das ihr in die Hände fiel. Es war ein wunderschöner Frühlingsnachmittag. Der Kirschbaum zeigte die ersten zarten Knospen. Ia war glücklich. Am Abend zuvor hatte sie Peter gegenüber zaghaft erwähnt, daß sie gern ihre Tochter gelegentlich bei sich hätte. Statt entschieden abzulehnen, hatte er lächelnd gesagt, daß er nichts dagegen hätte, wenn sie von Zeit zu Zeit die Wochenenden bei ihr verbringen würde, an denen er sie selten besuchte.
»Ein Herr möchte Sie sprechen, Miss«, sagte Lizzie von der Tür her.
Ia sprang auf. »Mr. Willoughby?«
»Nein. Er nannte seinen Namen nicht. Ich habe ihn ins Arbeitszimmer geführt. Ich gehe einkaufen. Brauchen Sie etwas?«
»Ja, bitte tauschen Sie diese Bücher für mich um. Miss Walters, die Bibliothekarin, weiß, was ich gern lese.«
Sie gab Lizzie die Bücher und eilte ins Haus, neugierig darauf, wer der unerwartete Besucher sein könnte. Sie öffnete die Tür zu Peters Arbeitszimmer.
»Hallo, Ia. Du bist immer noch so hübsch wie früher.«
»Frederick!« Ia preßte ihre Hand vor den Mund. Es war für sie ein Schock, diesen Mann aus ihrer Vergangenheit plötzlich wiederzusehen.
»Ich dachte, ich mache dir um der guten alten Zeiten willen einen Besuch. Wir haben doch schöne Stunden miteinander verbracht, nicht wahr, Schatz?«
»Wie hast du mich gefunden?« fragte sie frostig.
»Durch die üblichen Klatschgeschichten beim Personal. Ein gewisser Boris Janovitz hat eine Mätresse hier in der Straße. Sein Diener verkehrt im Grapes, so wie ich. Eines Tages kam das Gespräch auf dich.« Er sah sich im Zimmer um. »Na, Ia, mein Schatz, du hast es gut getroffen. Du lebst in einem schönen Haus, hast hübsche Kleider und siehst sehr hübsch aus.« Er streckte die Hand aus, um sie zu streicheln. Ia wich zurück. »Ich bin dir jetzt wohl nicht mehr gut genug, wie?«
»Bist du noch bei den Tregowans?« Sie setzte sich. Es war wohl besser, ihn in eine Unterhaltung zu verwickeln, als ihn zu verärgern.
»Nicht mehr lange.«
»Gibt es was Neues über Miss Alice?«
»Warum interessierst du dich für sie?«
»Ach, nur aus Neugier. An dem Tag, als sie durchbrannte, war ich noch dort. Ich frage mich manchmal, was aus ihr geworden ist.«
»Sie ist nach Amerika gegangen. Der Alte hat einen Brief von ihr bekommen. Er hat ihn einfach zerrissen und in den Papierkorb geworfen.«
»Arme Alice«, murmelte Ia und war erstaunt über ihre Reaktion.
»Arme Alice«, äffte Frederick sie spöttisch nach. »Gegen ihre Armut hätte ich nichts einzuwenden.« Er setzte sich Ia gegenüber. »Ich werde heiraten«, sagte er plötzlich und warf ihr einen verschlagenen Blick zu, als wollte er ihre Reaktion testen.
»Gratuliere«, sagte sie gleichgültig. Sie sah ihn jetzt mit anderen Augen. Vor ihr saß ein ziemlich gewöhnlicher junger Mann, der zu auffällig gekleidet war. Die Ringe an seinen Fingern wirkten protzig. Verwundert fragte sie sich, wie sie je hatte denken können, ihn zu lieben, und sich danach gesehnt hatte, ihn zu heiraten.
»Ja. Eine nette Witwe, die in Camden eine kleine Imbißstube besitzt. Ich habe es satt, Leute wie diese verdammten Tregowans zu bedienen.«
»Das freut mich für dich, Frederick.«
»Na ja, die Frau ist allerdings nicht nach meinem Geschmack. Sie ist fett und schon über vierzig. Aber man kann im Leben schließlich nicht alles haben, nicht wahr?« Er streckte wieder die Hand nach Ia aus. »Du hast das Kind also bekommen? Ist es ein Mädchen oder ein Junge?« fragte er und beugte sich vor. Ia starrte ihn an und fühlte sich plötzlich bedroht. Er würde eine ältere Frau heiraten, die vielleicht keine Kinder mehr bekommen konnte ... Ia durchschaute plötzlich Fredericks Absichten. Er wollte ihr Kind haben! »Sie ist gestorben«, sagte sie kalt.
»Wie schade! Ich hatte mir gedacht ... Na, macht nichts. Wahrscheinlich wäre ich kein guter Vater.«
»Du warst dir doch so sicher, daß es nicht dein Kind war.«
»Ich hätte meine Stelle verloren, Ia. Du konntest doch nicht erwarten, daß ich das Baby als meins anerkannt hätte, Ia«, jammerte er.
»Hast du dir je Gedanken gemacht, was aus mir geworden ist?«
»Natürlich! Ich konnte aus Sorge um dich nächtelang nicht schlafen.«
»Wie rücksichtsvoll von dir, Frederick«, sagte sie und lächelte ihn an.
»Großer Gott, Ia, dein Lächeln! Das hat mich immer aufgegeilt.« Er beugte sich wieder vor und legte seine Hand auf ihr Knie.
»Rühr mich nicht an!« fauchte sie.
»Das ist aber nicht nett von dir, Schätzchen. Überhaupt nicht nett. Du hast doch in einem Bordell gearbeitet. Wie wär’s mit einem Schäferstündchen mit mir? Um der alten Zeiten willen ...«
Ia sprang auf. »Du gehst jetzt besser, Frederick. Sofort!«
»Ach, die Dame ist zu vornehm geworden. Ich bezahle dich dafür. Genügt ein Shilling?«
Ia ging zur Tür und öffnete sie. »Geh, Frederick! Ich will dich nie mehr sehen.«
Er stand auf und ging langsam auf sie zu. »Nicht so hastig, Ia. Nicht so hastig.« Er packte sie und küßte sie brutal auf den Mund. Sie schlug auf ihn ein und trat ihn gegen das Schienbein. Er hielt sie fest und lachte. »Du warst immer ein hitziger kleiner Teufel. Das gefällt mir ...« Er zerriß ihr Kleid und entblößte ihre Brüste. Dann griff er ihr unter den Rock.
Sie trat nach ihm, doch er drehte sich zur Seite. Er packte sie bei den Haaren, zerrte sie zur Treppe und die Stufen hinauf. Sie schlug um sich, spuckte und kratzte. Oben stieß er die Tür zum Schlafzimmer auf, warf sie aufs Bett, stellte einen Fuß auf ihren Bauch und schnallte seinen Gürtel auf. Als er sich über sie beugte, wandte sie ihren Kopf ab. Da schlug er sie mit aller Gewalt ins Gesicht. »Das ist für deine Unfreundlichkeit«, schrie er und holte wieder aus. »Und das ist für meine beste Samtjacke, die du zerschnitten hast.« Er schlug ihr mit der Faust auf die Brust. »Ich bin dir nicht mehr gut genug, wie? Ich werd’s dir zeigen!« Er riß ihr das Kleid vom Körper, warf sich auf sie und drang brutal in sie ein, während sie vergeblich versuchte, ihn von sich zu stoßen. Schließlich blieb sie reglos liegen und starrte verzweifelt zur Decke.
Da krachte die Tür gegen die Wand. »Du Hure!« brüllte Peter, stürmte herein, riß Frederick von ihr und gab ihm einen Tritt in den Hintern. Frederick, dem die Hose um die Knöchel hing, stolperte hastig zur Tür hinaus.
»Gott sei Dank, daß du gekommen bist, Peter. Ich dachte, er wollte mich umbringen.« Ia raffte ihr zerrissenes Kleid über der Brust zusammen.
»Du verlogene Schlampe! Dir hat’s doch gefallen!«
»Peter, nein! Er hat mich vergewaltigt!« Ia sah ihn entsetzt an.
»Ich hätte dich nie zu mir nehmen dürfen. Eine Hure bleibt eben eine Hure!« Er ohrfeigte sie mit brutaler Gewalt.
»Aber Peter ...« Er schlug sie wieder. Jedesmal, wenn sie versuchte, sich zu wehren, schien das seine Wut nur noch anzustacheln, und er verprügelte sie, bis ihr Gesicht zur Unkenntlichkeit angeschwollen und ihre Lippen aufgeplatzt waren und bluteten.
Dann zerrte er sie vom Bett, riß den Kleiderschrank auf und warf ihr ein Kleid zu. »Zieh das an, du Schlampe!« Schluchzend streifte sie das Kleid über. Während dessen stopfte er wie von Sinnen Kleidungsstücke in eine Reisetasche und warf ihre azurblaue Schale obenauf.
Er trieb sie vor sich her die Treppe hinunter. Als sie hinfiel, trat er nach ihr und schrie: »Steh auf! Verschwinde!«
»Peter ... stöhnte sie und streckte ihre Hand nach ihm aus.
»Ich habe dich geliebt. Gott helfe mir, ich habe dich geliebt«, hörte sie ihn sagen.
Gegen die Wand gelehnt, taumelte sie zur Tür. Als er sie öffnete, streifte die kühle Luft ihr zerschlagenes Gesicht. Er stieß sie hinaus. »Verschwinde!« schrie er noch einmal. Blindlings, die Augen von Blut verklebt, torkelte sie den Pfad hinunter zum Gartentor. Er schleuderte die Reisetasche hinter ihr her.
Ia stand schwankend auf der Straße. Vage war sie sich der neugierigen Blicke der anderen Mädchen bewußt, die aus ihren Fenstern starrten. Rasend vor Schmerz und Wut bückte sie sich nach einem Stein und schleuderte ihn mit aller Kraft ins Wohnzimmerfenster, das klirrend zersplitterte.
»Du Bastard! Warum hast du mir nicht geglaubt?« schrie sie voller Qual und Zorn.