»Alice Tregowan! Endlich habe ich dich gefunden.«
Alice blickte fragend von ihrem Abrechnungsbuch auf. Vor ihr stand eine stattliche Frau etwa in ihrem Alter. Über einem dunkelblauen Seidenkleid, das sich eng über ihrem vollen Busen spannte, trug sie einen langen Zobelmantel. Unter dem farblich passenden Hut mit Straußenfedern lugten dunkelrote Locken hervor. Die Frau kam ihr irgendwie bekannt vor. Alice stand auf und blickte in Gertie Granvers dunkelbraune, fröhliche Augen.
»Gertie!« rief sie aus.
»Dieselbe – aber jetzt heiße ich Gertie Frobisher – steht in voller Lebensgröße vor dir, allerdings etwas rundlicher, als du mich in Erinnerung hast. Die Kinder« sagte sie und lachte laut.
»Du hast Basil geheiratet? Wie wunderbar! Aber was machst du in Amerika?«
»Oh, wir kommen regelmäßig hierher«, antwortete Gertie leichthin. »Warum hast du nicht mehr geschrieben? Ich habe dir Dutzende von Briefen geschickt, die alle zurückkamen. Dein Vater tat sehr geheimnisvoll, was deine Adresse betraf.«
»Er weiß nicht, wo ich wohne. Ich habe ihm einmal geschrieben und keine Antwort bekommen. Da habe ich den Kontakt zu ihm abgebrochen. Aber wie um Himmels willen hast du mich gefunden?«
»Es war ein beinahe unmögliches Unterfangen. Können wir uns irgendwohin setzen und reden? Es ist schrecklich heiß hier.«
»Ja, die Öfen strahlen eine mächtige Hitze aus. Laß uns in mein Haus gehen. Dort ist es auch ruhiger.«
Alice holte ihren Mantel, gab ihren Gehilfinnen einige Anweisungen und geleitete Gertie zur Tür. Angeregt plaudernd gingen sie in eine Nebenstraße. Alice blieb vor dem hübschen Haus mit dem kleinen Garten und der Veranda stehen.
»Du wohnst hier?« fragte Gertie verwirrt und konnte ihr schockiertes Erstaunen nicht verbergen.
»Ja, Gertie. Das ist mein Haus. Ist es nicht hübsch?« Alice führte sie stolz lächelnd über den Gartenweg, die wenigen Stufen zur Veranda hinauf und öffnete die Haustür. »Sei mir willkommen«, sagte sie mit einer leichten Verneigung und ließ ihre alte Freundin eintreten. Die Haustür führte unmittelbar in ein kleines Wohnzimmer. Alice ging zu einer zweiten Tür und rief in die Küche: »Merry, ich habe einen Gast. Würden Sie uns bitte Tee ins Wohnzimmer bringen? Gib mir deinen Mantel, Gertie.« Sie hängte ihn zusammen mit dem ihren in einen Wandschrank.
Gertie sah sich um. Ihr voluminöser Hut ließ den Raum noch kleiner erscheinen. Sie schien sich dessen bewußt zu sein, denn sie fragte: »Darf ich meinen Hut abnehmen?« Sofort ergoß sich ihre Lockenpracht auf ihre Schultern.
»So habe ich dich in Erinnerung, Gertie – mit wallendem Haar, das nicht zu bändigen ist. Ich freue mich so, dich wiederzusehen.«
Gertie blickte sich etwas befangen um. Das Wohnzimmer bot nur Platz für zwei Lehnsessel, ein kleines Sofa, einen Schreibtisch mit Stuhl und ein dazu passendes Bücherregal. Im Kamin brannte ein Feuer, auf dem Sims stand eine Uhr, daneben lagen ein paar Muscheln und darüber hing ein Spiegel. Das einzige, mit Wasserfarben gemalte Bild an den Wänden zeigte ein Granithaus über den Klippen am Meer.
»Wie hübsch«, sagte Gertie und setzte sich in einen Lehnsessel.
»Du brauchst mir nichts vorzumachen, Gertie. Ich weiß, es ist klein, aber es gehört mir. Dafür habe ich in den vergangenen Jahren gearbeitet.«
»Ich finde es sehr gemütlich.«
»Obwohl ich eine Zentralheizung einbauen ließ, kann ich als Engländerin nicht auf einen offenen Kamin verzichten.«
»Zentralheizung? Wie luxuriös.« Gertie war jetzt doch beeindruckt. »Aber Alice ... dein Geld, dein Erbe ... Ich will ja nicht neugierig sein ...«
»Mein Vater ist Verwalter des Treuhandfonds und hat mir jegliche Unterstützung verweigert. Erst in drei Jahren, wenn ich dreißig bin, kann ich über mein Erbe verfügen.«
»Das ist einfach schändlich! Die Gesetze sind unmöglich. Es wird Zeit, daß Frauen das Wahlrecht bekommen. Dann können Männer wie dein Vater Frauen nicht mehr wie Leibeigene behandeln.«
»Für deinen Basil bist du doch bestimmt keine Leibeigene«, unterbrach Alice die Tirade.
»Nein, aber er ist einer unter Millionen. Deswegen habe ich ihn ja geheiratet.«
»Ihn und seinen Landsitz in Schottland«, sagte Alice verschmitzt.
»Ah ja, den natürlich auch.«
»Es macht mir nichts mehr aus, Gertie. Ich bin jetzt sehr glücklich. Es ist erstaunlich, was man erreichen kann, wenn die Umstände einen dazu zwingen. Selbst wenn ich mein Erbe antrete, werde ich mein Leben nicht verändern. Vielleicht kaufe ich mir ein größeres Haus, aber ich bleibe hier in der Gegend.«
»Ich hatte keine Ahnung . ich meine, jeder glaubte, du wärst verheiratet und gut versorgt ... Es ist einfach skandalös.«
»Bitte, mach dir keine Sorgen, Gertie. Ich habe alles, was ich brauche. Am Anfang war es hart, aber ich habe mich durchgekämpft. Im Vergleich zu den Unterkünften, wo ich gelebt habe, ist dieses kleine Haus ein Palast. Dafür habe ich fünf Jahre lang neunzehn Stunden am Tag geschuftet. Mit meiner Arbeit habe ich mir jeden Ziegelstein, jedes Möbelstück und jeden Topf verdient.«
»Neunzehn Stunden am Tag?« wiederholte Gertie entgeistert.
»Jetzt nicht mehr. Jetzt arbeite ich nur noch zwölf Stunden, denn ich habe mittlerweile Angestellte.«
»Ich beginne allmählich zu begreifen. Du bist stolz auf deine Leistung.«
»Genau. Alles, was ich erreicht habe, gehört mir ganz allein. Wenn ich mir etwas kaufen möchte, brauche ich weder einen Vater noch einen Ehemann um Geld zu bitten.«
»Du solltest in die Politik gehen, Alice. Frauen wie du werden gebraucht.«
»Ach, meine liebe Gertie, das ist ein Luxus, den sich nur die Reichen erlauben können. Ich habe keine Zeit, mich irgendwie politisch zu betätigen.«
»Und was ist mit Gwenfer?« Gertie deutete auf das Bild. »Das ist doch Gwenfer, nicht wahr?«
»Darum werde ich immer trauern. Ich habe mich damit abgefunden, es nie wieder zu sehen. Mir bleibt nur die Sehnsucht ...« Alice schüttelte wehmütig den Kopf und wechselte dann das Thema. »Du hast mir noch nicht erzählt, wie du mich gefunden hast.«
»Gestern abend machten Basil und ich einen Spaziergang auf der Madison Avenue. Im Schaufenster eines Delikatessengeschäfts sah ich ein Marmeladenglas mit der Aufschrift GWENFER AND OSBORN. Ich habe vor Begeisterung aufgeschrien. Es gibt nur ein Gwenfer, sagte ich zu Basil. Vielleicht können wir etwas über Alice herausfinden. Ich ging sofort in das Geschäft, doch der Inhaber, ein sehr verschlossener, abweisender Engländer, weigerte sich, mir irgendeine Auskunft zu geben.«
»Das ist mein Partner, Mr. Osborn. Er wollte mich wohl schützen.«
»Ich habe ihn aber ausgetrickst und ein Glas Marmelade gekauft, auf dem eine Adresse stand ... und hier bin ich. Wir sind schon zum viertenmal in Amerika, und endlich ist es mir gelungen, dich aufzustöbern. Du sagst, dieser Mr. Osborn ist dein Partner. Was machst du dann in einer Bäckerei?« In diesem Augenblick kam Merry mit dem Teetablett herein.
Als sie das Tablett auf den Tisch stellte, sagte sie: »Ich hoffe, der Tee ist mir gelungen, Alice. Ich habe alles genau wie Sie gemacht ... mit kochendem Wasser aufgegossen und ziehen lassen. Wenn er nicht schmeckt, brühe ich Kaffee auf.«
»Danke, Merry, das ist sehr nett von Ihnen.«
»Rufen Sie mich, wenn Sie noch etwas brauchen«, antwortete Merry, lächelte Gertie zu und ging. Alice schenkte den Tee ein.
»War das eine Freundin von dir?«
»Merry? Ja, sie ist mir eine Freundin und gleichzeitig mein Dienstmädchen.«
»Sie hat dich Alice genannt.«
»Ja«, antwortete Alice lachend. »Hier gibt es keine Klassenunterschiede wie in England. Merry arbeitet zwar für mich, aber sie dient mir nicht. In Amerika herrscht Gleichberechtigung, weißt du.«
Gertie antwortete entgeistert: »Dabei habe ich mir immer eingebildet, modern zu sein, aber du bist mir ja um Meilen voraus.«
»Du hast gefragt, was ich in einer Bäckerei mache. Nun, ich stelle Pasteten, Kuchen und Marmeladen her. Außerdem betreibe ich einen Dinner-und-Partyservice und beschäftige insgesamt zwanzig Leute.«
»Und was ist mit Chas?«
»Er hat mich bald nach unserer Ankunft in New York verlassen – als wir kein Geld mehr hatten. Ich mußte eine Arbeit finden, sonst wäre ich verhungert. Und ich habe ein Kind, Gertie. Wenn du mir die Freundschaft kündigen möchtest, könnte ich dich verstehen. Ich will dich nicht belügen und vorgeben, ich wäre Witwe.«
»Meine arme, liebe Freundin. Was hast du Schreckliches durchgemacht. Ist es ein Mädchen oder ein Junge? Wie alt ist dein Kind?«
»Ach, Gertie, du bist wundervoll. Du warst nie wie andere Menschen. Es ist ein Mädchen, und sie heißt Grace. Im Juni wird sie acht. Im Augenblick ist sie in der Schule. Ich lebe für mein Kind.«
»Das kann ich verstehen. Ich habe zwei Jungen, Richard und Gerard. Ich wünsche mir so sehr ein Mädchen.«
»Wie geht es meinem Vater?«
»Willst du die Wahrheit wissen?«
»Ja.«
»Er ist unglücklich. Daisy Dear ist die Enttäuschung seines Lebens. Sie hat ihm keinen Erben geschenkt und führt ein recht lockeres Leben. Dabei trägt sie deinen Schmuck und gibt sein Geld aus.«
»Armer Papa.«
»Womöglich bedauert er es, dich verloren zu haben. Willst du ihm nicht schreiben?«
»Nein, ich sehe keinen Sinn darin. Er hat sich nie um mich gekümmert. Und jetzt habe ich Grace. Wie auch immer ... ich liebe meine Arbeit. Zugegeben, am Anfang war es hart, und ich war oft nahe daran aufzugeben. Aber ich habe auch Glück gehabt und kann mir jetzt ein angenehmes Leben leisten. Der Luxus fehlt mir nicht.«
»Und was ist mit Männern?« fragte Gertie mit einem schelmischen Grinsen.
»Da muß ich dich enttäuschen. In meinem Leben gibt es keinen Mann. Wer würde mich denn mit Grace wollen?«
»Eines Tages wird schon der Richtige kommen.« Die Uhr schlug die volle Stunde. »Großer Gott, wie die Zeit vergeht! Ich muß gehen, Alice. Ich bestehe darauf, daß du morgen abend zum Dinner in unser Hotel kommst. Anschließend gehen wir gemeinsam auf eine Party. Um acht Uhr im Waldorf?«
»Das würde mich freuen, Gertie. Ich möchte gern Basil wiedersehen. Aber ich komme nur zum Dinner. Ich möchte wirklich nicht auf eine Party gehen.«
»Unsinn! Warum denn nicht? Du scheinst dich seit Jahren nicht mehr amüsiert zu haben.«
»Das stimmt. Aber ich bin doch nicht eingeladen.«
»Sei nicht albern. Sobald ich wieder im Hotel bin, besorge ich dir eine Einladung. Hast du vergessen, wie man das arrangiert?«
»Aber ich habe kein passendes Kleid ...« Sie sah ihre Freundin an. »Ach, Quatsch, wie du immer zu sagen pflegtest. Warum denn nicht? Morgen kaufe ich mir etwas Neues.«
»Und trage deinen schönsten Schmuck«, sagte Gertie, während sie ihren Hut aufsetzte.
»Aber Gertie, ich habe doch keinen Schmuck.«
»Ach, natürlich. Daisy Dear hat ihn ja, nicht wahr?« Genie lachte spöttisch. »Macht nichts. Ich leihe dir, was du brauchst. Um halb sieben lasse ich dich von einer Kutsche abholen.«
Gertie plauderte unentwegt weiter, während Alice sie zu ihrer Kutsche brachte.
Nachmittags fuhr Alice mit der Pferdebahn in die Innenstadt und verdrängte alle Schuldgefühle. Zum erstenmal seit ihrer Ankunft in New York würde sie sich den Luxus leisten und etwas Extravagantes kaufen. Voller Aufregung fieberte sie dem Dinner mit ihren Freunden entgegen.
In ihrem Enthusiasmus schob sie alle Bedenken beiseite und kaufte zu einem smaragdgrünen Abendkleid noch ein Paar passende Schuhe, ein Abendtäschchen und Handschuhe. Vor der Anschaffung eines neuen Mantels schreckte sie allerdings zurück, denn sie hatte schon mehr ausgegeben als geplant. Am folgenden Abend präsentierte sie sich in ihrem eleganten Kleid Grace und Merry, um sich bewundern zu lassen. Dabei war ihr bewußt, daß sie in ihrem hübschen Kleid im Vergleich zu den anderen Gästen doch schlicht und unscheinbar aussehen würde.
»Mami, du siehst wie eine Prinzessin aus«, rief Grace, und ihr Gesicht strahlte vor Stolz über ihre Mutter, die wie eine Lady gekleidet war.