3

Die Menschenmenge harrte trotz der eisigen Kälte geduldig vor dem Haus der Astors aus, um die illustre Gesellschaft mit Beifall und Bewunderungsrufen zu begrüßen.

»Jetzt kann ich nachempfinden, wie sich die königliche Familie fühlt, wenn sie so angegafft wird. Es ist einfach schauderhaft!« sagte Gertie und starrte mißmutig aus der Kutsche, die in einer langen Reihe von Gefährten langsam die Fifth Avenue entlangfuhr. Sie schien das Spektakel des Beobachtens zu genießen, fand aber offensichtlich keinen Gefallen daran, selbst angestarrt zu werden.

Als sie aus der Kutsche stieg und das prächtige weiße Haus im Glanz der Lichter sah, wurde Alice nervös. Der letzte Ball, an dem sie teilgenommen hatte, war ihr Debütantinnenball gewesen. Ihr Anblick rief bei den Zuschauern keine Reaktion hervor, denn Gertie hüllte sich so eng in ihren Pelzmantel, daß kein Schmuckstück zu sehen war, und Alice sah in ihrem schlichten Wollmantel wie Gerties Zofe aus.

Blau uniformierte Lakaien nahmen ihnen die Mäntel ab. Dann wurden sie durch eine Flucht von prächtig geschmückten Räumen in den Hauptsalon geführt, der ganz im Rokokostil gehalten war.

Mrs. Astor stand unter ihrem eigenen Porträt und begrüßte die Gäste. Sie glitzerte von Kopf bis Fuß – ihr schwarzes Haar krönte ein Diamantdiadem, lange Diamantketten schmückten ihren Hals und ergossen sich über ihre mit Diamanten bestickte Robe.

Gertie führte Alice in den Ballsaal, der normalerweise als Gemäldegalerie diente. Auf einem Fries unterhalb der Decke standen überdimensionale Statuen auf Sockeln, die sich bedrohlich auf die Menge herabzubeugen schienen.

»Erinnert mich irgendwie an ein Museum«, spottete Genie, deren Schloß Originale von Rembrandt, Velázquez und Holbein schmückten. »Sieh nur, die prächtigen Bilderrahmen«, sagte sie, keineswegs im Flüsterton.

»Gertie!« Alice war sich der empörten Blicke der anderen Gäste bewußt, die bewundernd die Gemälde betrachteten.

»Was ist denn?« fragte Gertie verwundert.

»Du bist unhöflich.«

»Ach, wirklich?« Gerties Frisur befand sich bereits wieder in einem Zustand der Auflösung, als sie heftig den Kopf schüttelte.

»Ja, Gertie. Die anderen Gäste bewundern bestimmt die Schönheit dieser Galerie«

»Ach, Quatsch. Außerdem habe ich nur zu dir gesprochen, und es gehört sich nicht, anderer Leute Gespräche zu belauschen«, sagte sie laut und herausfordernd. »Komm, wir wollen ein Glas Punsch trinken.« In Gerties Schlepptau gingen sie zu einer Sitzgruppe und nahmen Platz. Ein paar Minuten später hatte Gertie Freunde entdeckt und verschwand zusammen mit Basil in der Menschenmenge.

»Die englischen Aristokraten besitzen eine so natürliche Arroganz«, sagte Lincoln und lachte gutmütig. »Gertie ist von einer derart kindlichen Naivität, daß man ihr einfach nicht böse sein kann.« Er winkte einen Lakai mit einem Tablett voller Erfrischungsgetränke herbei.

»Das ist die Arroganz der Herrschenden«, sagte Alice lächelnd.

»Sind Sie mit dem Regierungssystem in Ihrem Land nicht einverstanden?«

»Ich halte es für ungerecht, daß nur der Adel eine Aufstiegschance hat – ob in der Kirche, der Armee oder der Politik. Geschäftsleute besitzen kein gesellschaftliches Ansehen. Sie und ich, die Pastetenbäcker, würden zu keinem bedeutenden gesellschaftlichen Ereignis eingeladen werden«, sagte Alice mit einem spöttischen Lachen.

»Auch in Amerika herrscht keine echte Demokratie, Miss Tregowan. Bei uns regieren die ›Vierhundert‹ mit eiserner Hand. Wir sind ebenfalls eine Klassengesellschaft. Die Neureichen sind nirgends willkommen. Meine Einladung habe ich nur Lady Frobisher zu verdanken – die Astors sind wohl Gerties und Basils Gäste, wenn sie sich in England aufhalten. Gewiß schreibt Mrs. Astor die Bekanntschaft mit einem Emporkömmling der exzentrischen Lebensart der Engländer zu«, sagte Lincoln humorvoll. Es war offensichtlich, daß ihm gesellschaftliche Strukturen gleichgültig waren.

»Dabei haben die Astors und die Vanderbilts vor gar nicht allzu langer Zeit ihr Vermögen mit dem Handel gemacht, im Gegensatz zum englischen Hochadel, der auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblicken kann«, stimmte Alice zu.

»Im Grunde gibt es keine großen Unterschiede, nur will man ein .paar Generationen später nicht mehr an die Ursprünge erinnert werden. Gertie hat mir erzählt, Ihr Vater sei ein Lord«, fügte Lincoln hinzu. »Dabei vertreten Sie recht radikale Ansichten.«

Sie sah ihn durchdringend an und ärgerte sich, daß Gertie ihm ihre Herkunft enthüllt hatte. »Ich habe keine konventionelle Erziehung genossen. Jetzt bin ich nicht mehr die Tochter eines Lords«, entgegnete sie ausweichend. Ihr frostiger Ton ließ ihn das Thema wechseln.

»Möchten Sie tanzen, Miss Tregowan?« fragte er, als das Orchester zu spielen begann und die Gäste auf die Tanzfläche strömten.

»Leider beherrsche ich den Kotillon nicht«, sagte Alice lächelnd. »Aber, bitte, lassen Sie sich nicht aufhalten und fordern Sie eine andere Dame auf.« Noch während sie das sagte, wurde ihr bewußt, daß ihr das gar nicht gefallen würde.

»Ich möchte mit keiner anderen Frau tanzen«, hörte sie ihn antworten und freute sich darüber. Wieder sah Lincoln sie so durchdringend an wie im Restaurant, worauf Alice prompt errötete und eine merkwürdige Unruhe empfand. Er spürte ihre Verwirrung. »Darf ich Ihnen etwas gestehen? Ich bin sehr erleichtert, daß Sie nicht tanzen wollen. Die Natur hat mich zwar mit zwei Beinen ausgestattet, aber auf der Tanzfläche scheinen es immer vier zu sein«, scherzte er und sagte dann: »Sie sind also politisch interessiert, wie Lady Frobisher?«

»Ich? Du meine Güte, nein. Ich habe keine Ahnung, was in der Welt geschieht. Ich bin so beschäftigt, daß ich einfach keine Zeit habe, die Zeitung zu lesen. Den Anbruch des neuen Jahrhunderts habe ich in der Küche verbracht und eine Eilbestellung von Pasteten gebacken!« Alice lachte. »Und vor zwei Jahren habe ich erst vierzehn Tage später vom Tod der Königin von England erfahren. Nein, tut mir leid, ich bin sehr unwissend.«

»Es fällt mir schwer, das zu glauben.«

Alice beobachtete Gertie, die unbekümmert plauderte und lachte. Ihr selbst war es nie leichtgefallen, sich zwanglos in der Gesellschaft zu bewegen. Auch jetzt hatte sie das Gefühl, absolut fehl am Platze zu sein, und kam sich verkrampft und unattraktiv vor. Wahrscheinlich war sie zu lange diesem oberflächlichen Treiben fern gewesen, um noch angeregt Konversation machen zu können.

Alice betrachtete die illustre Gesellschaft, die mit ihrem Reichtum prahlte und sich im Glanz ihrer Juwelen sonnte. Der üppige Blumenschmuck kam aus Gewächshäusern und mußte ein Vermögen gekostet haben. Mit den erlesenen Speisen hätte eine Armee verköstigt werden können, und ein ganzes Bataillon von Dienstboten stand für das Wohl der Gäste bereit. Alice fühlte sich von diesem Überfluß angeekelt.

Lincoln berührte leicht ihren Arm und fragte: »Möchten Sie vielleicht ein wenig umhergehen?« Sie stimmte sofort zu und nahm seinen Arm. Dann schlenderten die beiden aus dem überfüllten Ballsaal. »Ich finde diese Gesellschaften entsetzlich anödend. Es werden nur Banalitäten ausgetauscht. Und wie mit dem Reichtum geprotzt wird, finde ich widerwärtig.«

»Es geht also nicht nur mir so?« fragte Alice erleichtert.

»Nein. Die Frobishers sind wohl mehr an derartige Ereignisse gewöhnt als wir.«

Lincoln führte sie zu einem abseits gelegenen Alkoven. Alice setzte sich in einen kostbar aussehenden Polstersessel.

»Möchten Sie ein Eis oder ein Erfrischungsgetränk?« Er winkte einen Lakai herbei, und während Alice mit Genuß ein Sorbet verspeiste, unterhielten sie sich völlig zwanglos. Sie merkte, daß sie sich in seiner Gegenwart wohl fühlte. Es fiel ihr leicht, mit ihm zu plaudern und zu lachen. In seiner Nähe war sie völlig entspannt.

Sie lachte gerade über einen Witz, den er ihr erzählt hatte, als sie aufblickte und Mr. van Hooven auf sich zukommen sah. Der Schock hätte nicht größer sein können, hätte man sie mit einem Eimer eiskaltem Wasser übergossen. Sie begann zu zittern, der Löffel entglitt ihren Fingern und fiel klirrend zu Boden. Sie erhob sich wie in Trance, ihr Gesicht war zu einer Maske erstarrt. Dieser Mann erinnerte sie an die schlimmsten Stunden ihres Lebens. Lincoln sprach mit ihr, aber sie hörte ihn nicht. Sie wurde sich plötzlich mit grausamer Brutalität ihrer Umgebung bewußt. Was habe ich in dieser Gesellschaft zu suchen? Wie hatte sie nur die Einladung zu Mrs. Astors Ball annehmen können? Der Champagner, den sie getrunken, das Sorbet, das sie gegessen, die Musik, der sie gelauscht, die Blumen, die sie bewundert hatte das alles wurde mit dem Elend der Menschen in den Armenvierteln bezahlt, die für einen Hungerlohn arbeiteten oder bettelten und stahlen, um die Miete für ihre Drecklöcher bezahlen zu können. Mit ihrer Anwesenheit auf diesem Ball hatte sie die Menschen verraten, die nach wie vor in der Hölle lebten, der sie hatte entfliehen können. Sie gehörte nicht hierher, in dieser Gesellschaft hatte sie nichts verloren.

»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte sie kaum hörbar zu Lincoln, nahm ihre Abendtasche vom Tisch und floh aus dem Salon, die Treppe hinunter, ließ sich ihren Mantel geben und lief auf die Straße. Sie drängte sich durch die Menge der Gaffer, die noch immer die Zufahrt belagerten, und hastete blindlings die Fifth Avenue entlang. Es hatte begonnen zu schneien, doch Alice bemerkte weder die wirbelnden Flocken noch die Eiseskälte, die durch ihren dünnen Mantel drang. In ihr brannte nur der Zorn auf sich selbst, weil sie Gerties Einladung gefolgt war, und vor allem war sie wütend, weil sie wußte, warum sie mit zu dieser Party gegangen war. Und deswegen verachtete sie sich. Ich bin genau wie diese Gaffer auf dem Bürgersteig – neugierig, wie es im Haus der Astors aussieht. Vielleicht hatte sie auch gehofft, gesellschaftlich wieder akzeptiert und in die Kreise wieder aufgenommen zu werden, denen sie einst angehört hatte. Dabei hatte sie das Wissen verdrängt, daß neben dem Namen van Hooven der Name Astor in den Armenvierteln am meisten gehaßt wurde. Wie von allen Teufeln gejagt, hastete sie über den Bürgersteig und merkte nicht, daß ihr ein Automobil folgte und dann neben ihr hielt.

»Miss Tregowan. Bitte, was ist los? Habe ich Sie beleidigt?« Alice blieb abrupt stehen. Lincoln sprang aus dem Auto und lief auf sie zu.

»Es tut mir leid. Es ist nicht Ihre Schuld.« Sie ging mit gesenktem Kopf weiter und überquerte eine Kreuzung, ohne auf den Verkehr zu achten..

Lincoln packte ihren Arm. »Miss Tregowan, Sie werden noch unter die Räder kommen. Steigen Sie bitte in mein Auto.«

»Lassen Sie mich in Ruhe. Ich möchte allein sein.« Sie befreite sich mit einer heftigen Geste aus seinem Griff.

»Nein! Bleiben Sie endlich stehen!« befahl er. Etwas in seiner Stimme ließ Alice unwillkürlich langsamer gehen. Er nahm wieder ihren Arm und führte sie zu seinem Auto, das ihnen gefolgt war. »Steigen Sie ein, sonst holen Sie sich in der Kälte noch eine Lungenentzündung.« Kaum saß sie im Fond des Wagens, begannen ihre Zähne zu klappern. Sie zitterte am ganzen Leib und brachte keinen Ton über die Lippen. Lincoln befahl seinem Chauffeur weiterzufahren. Dann wandte er sich an Alice und wollte sie fragen, was denn geschehen sei, als sie zu ihrem und seinem Entsetzen in haltloses Schluchzen ausbrach. Wortlos hüllte er sie in eine Pelzdecke, legte seinen Arm um ihre Schultern und wiegte sie sanft, während sie herzzerreißend weinte.

Zart streichelte er ihr Haar und wartete, bis der Sturm abgeebbt war. Als ihr Schluchzen allmählich nachließ, öffnete er eine kleine eingebaute Bar und goß zwei Gläser Brandy ein.

»Trinken Sie das langsam. Es wird Ihnen guttun«, befahl er sanft. »Und dann erzählen Sie mir, was Sie so erschreckt hat.«

»Ich gehöre dort nicht hin.«

»Warum denn nicht? Weil Sie Pasteten backen? Weil Sie befürchten, von dieser Gesellschaft nicht anerkannt zu werden? Aber, Alice ...« Er lächelte sie an, und sie merkte nicht einmal, daß er ihren Vornamen gebraucht hatte.

»Ich hasse diese Leute! Ich hätte nie zu dieser Party gehen dürfen. Dadurch habe ich meine Vergangenheit verraten«, erklärte sie dramatisch und sah ihn mit einem schmerzerfüllten Blick an.

»Alice, versuchen Sie, sich zu beruhigen. Dann erzählen Sie mir alles, was passiert ist.«

Sie trank den Brandy aus, und er füllte ihr Glas wieder. Ohne den Blick von seinem freundlichen, besorgten Gesicht abzuwenden, begann sie ihm zuerst zögernd und dann mit wachsender Vehemenz von ihrer Zeit in dem Armenviertel, von den Ratten, dem Elend und ihrer Angst zu erzählen, eines Tages wieder dort zu landen, wenn sie nicht tagein, tagaus arbeitete.

»Das wird nie geschehen, Alice. Nicht, solange ich lebe«, sagte er, beugte sich zu ihr und küßte sie sanft auf den Mund.