Einen dramatischen Abgang aus dem Restaurant zu inszenieren war leicht gewesen. Lincoln Wakefield abzuweisen war schwieriger, als es sich Alice vorgestellt hatte. Er bombardierte sie mit Blumen, Geschenken, Briefen und Anrufen. Die Buketts, Geschenke und Briefe schickte sie alle ungeöffnet zurück. Alice ging in der Bäckerei nicht mehr ans Telefon und ließ sich von ihrer Assistentin verleugnen. Dabei kam sie sich sehr töricht vor.
Glücklicherweise war sie in diesen Tagen sehr beschäftigt, sonst hätte Lincolns Beharrlichkeit sie in den Wahnsinn getrieben. Sie mußte zwei große Dinner arrangieren, und in der darauffolgenden Woche fand eine Hochzeit statt, für die sie Speisen und Getränke lieferte. Alice floh förmlich in die Arbeit.
Dann tauchte sein Automobil auf. Wenn sie frühmorgens aus dem Haus ging, stand es da. Am Abend, wenn sie aus der Bäckerei kam, stand es auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Aus diesem harmlos aussehenden Wagen wurde für Alice allmählich ein unheimliches Monstrum, und sie wagte bald nicht mehr aus dem Fenster zu sehen. Lincoln stieg nie aus; er machte keinen Versuch, mit ihr zu sprechen. Er saß einfach nur da und beobachtete sie. Nach einer Woche wünschte sie sich, er würde sich ihr nähern, um diese Tortur zu beenden. Schließlich hielt sie diesen Nervenkrieg nichtmehr aus. Als sie abends aus der Bäckerei kam, stapfte sie wütend über die Straße und hämmerte ans Autofenster. Lincoln kurbelte es langsam herunter und lächelte sie an.
»Alice!« sagte er, als wäre er überrascht, sie zu sehen.
»Wirklich, Mr. Wakefield. Es wäre mir angenehm, von Ihnen nicht länger belästigt zu werden. Wenn Sie mich weiterhin verfolgen, zwingen Sie mich, die Polizei zu rufen,«
»Dann weigern Sie sich nicht länger, mich zu sehen, Alice. Lassen Sie sich von mir zum Dinner ausführen. Akzeptieren Sie meine Geschenke, und reden Sie wenigstens am Telefon mit mir.« Er lächelte wieder, und sie war erstaunt, wie dieses Lächeln sein Gesicht veränderte, es sanft und beinahe gutaussehend machte. Hastig schüttelte sie diese verräterischen Gedanken ab und straffte die Schultern.
»Ich dachte, ich hätte mich an jenem Abend klar ausgedrückt, Mr. Wakefield. Ich möchte nichts mehr mit Ihnen zu tun haben.«
»Doch, das haben Sie mir auf schmerzliche Weise klargemacht, Alice. Aber wissen Sie, wir haben ein Problem: Ich habe beschlossen, Sie zu heiraten, und ich gebe nie auf, wenn ich etwas haben will.« Wieder lächelte er dieses warmherzige, entwaffnende Lächeln, und Alice betrachtete unwillkürlich seinen Mund und erinnerte sich an das Gefühl seiner Lippen auf den ihren.
»Das ist lächerlich!« Sie wandte sich hastig ab und wollte gehen, aber er hielt sie am Arm zurück.
»Bitte, Alice, hören Sie mich an.«
Sie warf einen flüchtigen Blick die Straße hinauf und hinunter und sah die neugierigen Gesichter hinter den Vorhängen. »Hier können wir uns nicht unterhalten. Sie kommen am besten zu mir ins Haus – aber nur für einen Augenblick«, fügte sie streng hinzu.
Lincolns Größe ließ ihr Wohnzimmer noch kleiner wirken. Er schien sich unbehaglich zu fühlen und setzte sich vorsichtig auf die Kante eines Sessels.
»Ich wünschte, Sie würden mich in Ruhe lassen, damit ich mein gewohntes Leben weiterführen kann, Lincoln.«
»Aber ich möchte, daß Sie Teil meines Lebens werden. Es ist mir bewußt, daß ich mich letzthin unbeholfen benommen und Sie überrumpelt habe. Ich hatte nicht beabsichtigt, mich Ihnen so bald zu erklären. Ich bedaure, was ich gesagt habe.«
»Ich habe Sie nicht hereingebeten, um das alles noch einmal zu wiederholen«, sagte sie schroff. Zu ihrer Verwirrung mußte sie sich jedoch eingestehen, daß ihr seine Nähe merkwürdig anregend vorkam.
»Sie müssen mich anhören, Alice. Sonst ruinieren Sie womöglich unser beider Leben.«
»Das klingt sehr melodramatisch.«
»Ich liebe Sie, Alice. Vielleicht hätte ich das zuerst sagen sollen. Ich habe Sie vom ersten Augenblick an geliebt. Was in Ihrer Vergangenheit geschehen ist, geht mich nichts an. Ich möchte für Sie und Ihr kleines Mädchen sorgen. Ich besitze die Mittel, Ihnen beiden ein schönes Leben ...«
»Ich will Ihr Geld nicht! Reichtum finde ich verabscheuungswürdig.«
»Ach, Alice, verstecken Sie sich doch nicht hinter Ihrer englischen Arroganz.« Er lachte leise.
Dieses Lachen erboste Alice mehr als alles andere. »Sie haben nicht wie ich im Elend gelebt«, fauchte sie wütend. »Menschen wie Sie wissen nichts von der Armut, die in dieser Stadt herrscht. Ich könnte nie so leben wie Sie – ich würde an, meinen Schuldgefühlen ersticken.«
»Alice, Sie reden Unsinn. Ich kann Ihnen alle Ihre Wünsche erfüllen, aber ein Leben in Armut kann ich Ihnen nicht bieten. Ich bin reich, weil ich hart gearbeitet habe, und ich schäme mich meines Reichtums nicht. Er wurde ehrlich erworben.«
»Wer hat dafür gelitten? Ob Ihre Arbeiter Ihnen wohl zustimmen?«
»Was wissen Sie denn über mich und meine Arbeitsweise? Wie können Sie mich verdammen, nur weil ich Menschen Arbeit gebe? Sie haben doch auch Angestellte – werden Sie von denen gehaßt?« Er sprach jetzt ganz ernst, was ihr gefiel. »Natürlich nicht. Ich bin eine gerechte Arbeitgeberin und arbeite härter als jede Frau in meinem Unternehmen.«
»Wie kommen Sie eigentlich auf die Idee, Sie wären eine Ausnahme? Ich hatte keine Ahnung, daß Sie so eingebildet sind.«
»Weil Sie mich nicht kennen.«
Er starrte Alice wütend an, was sie mit Befriedigung zur Kenntnis nahm. Jetzt würde er jeden Augenblick aufspringen, aus ihrem Haus und ihrem Leben verschwinden. Statt dessen stieß er einen tiefen Seufzer aus, lehnte sich im Sessel zurück und musterte sie – wie ihr schien – eine Ewigkeit lang. Sie fand diesen Blick mehr als verwirrend.
Dann beugte er sich vor, worauf sie ihren Sessel ein Stück zurückschob. »Schauen Sie, Alice. Nach Ihrer schlimmen Zeit im Armenviertel kann ich gut verstehen, was Sie auf dem Ball der Astors empfunden haben. Aber ich gehöre nicht zu dieser Sorte Kapitalisten. Wie Sie wissen, besitze ich ein Großunternehmen. Sie können gern kommen, die Fabrik besichtigen und mit den Arbeitern sprechen. Aber, um Himmels willen, machen Sie mir keine Vorwürfe, nur weil ich reich bin. Was würden wir gewinnen, wenn ich alles verschenken würde? Dreißigtausend Leute wären ohne Arbeit oder müßten für jemanden arbeiten, der weniger rücksichtsvoll als ich ist. Das wäre das einzige Resultat.«
Alice starrte angelegentlich das Muster ihres Teppichs an und schwieg, weil sie einfach keine Antwort darauf wußte und sich ziemlich dumm vorkam.
»Ich möchte Sie glücklich machen, Alice. Sie und Ihr kleines Mädchen. Ich könnte Grace adoptieren und ihr meinen Namen geben.«
»Sie hat einen Namen. Meinen«, konterte sie.
»Dann könnte meiner hinzugefügt werden. Seien Sie doch vernünftig, Alice. Was passiert ist, war für Sie schlimm genug, es ist aber noch schlimmer für Ihr Kind. Ihrem Leben wird dieses Stigma immer anhaften – welche Heiratschancen hat sie denn unter diesen Umständen? Aber als unsere Tochter wäre ihre Zukunft gesichert. Sie können mich aus tausend Gründen ablehnen, aber können Sie mich wegen Ihrer Tochter zurückweisen?«
»Das ist unfair, Lincoln.«
»Ich weiß. Aber um Sie zur Frau zu bekommen, ist mir jedes Mittel recht.«
»Ich liebe Sie nicht.«
»Vielleicht nicht, aber Sie finden mich attraktiv. Sie haben sich nicht gegen meinen Kuß gewehrt ...« Er lächelte sein charmantes, entwaffnendes Lächeln. »Wären Sie in England, in der High-Society, geblieben, hätten Sie den Mann geliebt, den Sie geheiratet hätten? Wahrscheinlich nicht. Wie die meisten Damen der Gesellschaft hätten Sie einen Mann von Standgeheiratet und mit etwas Glück gelernt, ihn zu lieben. Wie zum Beispiel Ihre Freundin Gertie.«
»Ich hätte nicht geheiratet.«
»Das können Sie nicht mit Gewißheit sagen, Alice. Mir ist bewußt, daß es in Ihrem Leben unüberwindbare Probleme gibt. Ich möchte Ihnen helfen, diese Last zu tragen. Ich möchte, daß Sie ein glückliches Leben in Sicherheit führen.«
»Ich werde bald ein beträchtliches Erbe antreten. Dann habe ich die Sicherheit, von der Sie sprechen, und brauche von niemandem mehr Geld anzunehmen.«
Er lachte. »Und Sie halten mir einen Vortrag über Reichtum? Ich habe mir mein Vermögen erarbeitet. Woher stammt Ihres?«
Auf diesen Einwand wußte Alice noch weniger zu antworten, und da sie das Gefühl hatte, überlistet worden zu sein, fragte sie, ob er eine Tasse Tee haben wolle. Bei dieser Frage brach Lincoln in schallendes Gelächter aus. Alice starrte ihn völlig perplex an. Obwohl sie keine Ahnung hatte, womit sie diesen Heiterkeitsausbruch ausgelöst hatte, war sein Lachen so ansteckend, daß sie schließlich einstimmte.
»Ach, Alice«, keuchte er schließlich und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Ich liebe Sie. Mitten in einer Diskussion über unsere Zukunft fragen Sie mich plötzlich, ob ich Tee haben möchte. Das ist so herrlich englisch, so wundervoll ausländisch. Soll ich Ihnen etwas verraten? Das ist ein sicheres Anzeichen dafür, daß ich gewonnen habe.«
»Wieso?«
»Haben Sie je von einem Engländer gehört, der mit seinem Feind Tee trinkt?« Er lachte wieder. »Aber ich schließe mit Ihnen einen Pakt, Alice. Über Liebe und Heirat wird nicht mehr geredet. Wir wollen Freunde sein, wenn Sie das glücklicher macht.«
»Ja«, antwortete sie und merkte verärgert und gleichzeitig verwirrt, daß in ihrer Stimme ein enttäuschter Unterton mitschwang.
Sie hatte ihm gesagt, daß sie ihn nicht liebte, aber als die Wochen vergingen und sie ihn beinahe jeden Tag sah, wurde ihr bewußt, daß sie nicht ganz die Wahrheit gesagt hatte. Ihr Gefühl für Lincoln hatte sie zunächst verwirrt, denn es war nicht die überwältigende, atemlose Erregung, die sie für Chas empfunden hatte. Die Zuneigung, die sie für Lincoln fühlte, war ruhiger, ausgeglichener und beständiger.
Zu den täglichen Blumensendungen und Geschenken kamen jetzt auch Spielzeugpakete für Grace hinzu, die Lincoln vom ersten Augenblick an ins Herz geschlossen hatte. Die arbeitsfreien Sonntage verbrachten die beiden gemeinsam mit Grace, gingen in den Zoo, in den Park oder in Museen. Alice genoß diese Sonntage. Mit einer stillen Freude im Herzen beobachtete sie Lincoln und Grace, die Hand in Hand dahinschlenderten, und sie lächelte über deren kindlichen Späße und Possen. Bei diesen Gelegenheiten spielte sie mit dem Gedanken, sie wären eine Familie, und erlaubte sich Zukunftsträume.
Neben den Sonntagen mochte sie am liebsten die Abende, die sie nach einem Dinner zu Hause mit Lincoln allein in ihrem Wohnzimmer verbrachten. Dann saßen sie vor dem Kaminfeuer, und Lincoln erzählte ihr von seinem Leben. Er war der Sohn eines armen Farmers, der zusammen mit seiner Mutter das kärgliche Einkommen aufgebessert hatte, indem sie zunächst nach einem uralten Rezept Pickles herstellten und allmählich ihre Produktpalette erweiterten. Sie erfuhr, daß Wakefields eine der größten Herstellerfirmen für Soßen und Pasteten war und daß er erfolgreich in die Eisenbahn, den Grundstücks- und Aktienmarkt investiert hatte. Lincoln versicherte ihr wiederholt, daß er keine Mietshäuser besäße.
Eines Tages nahm er Alice mit in eine seiner Fabriken. Sie war beeindruckt. In hellen, luftigen Hallen arbeiteten zufrieden aussehende Frauen an Fließbändern. Sie bemerkte, welcher freundschaftliche Umgangston zwischen Lincoln und seinen Arbeitern herrschte. Er zeigte ihr den Kindergarten, den er für die verheirateten Frauen eingerichtet hatte, und die Gemeinschaftsräume für die Arbeitspausen. Schließlich fuhr er mit Alice noch in eine Siedlung, die er für seine Angestellten errichtet hatte. Sie gestand ihm ganz freimütig, daß sie eine Närrin gewesen sei.
Alice erzählte ihm von ihrer Vergangenheit, von ihren Eltern und der mangelnden Liebe. Er erfuhr vom tragischen Tod ihres Bruders, Oswald, und daß ihre Mutter wahnsinnig geworden war. Es erstaunte sie selbst, daß sie Lincoln von ihrer Mutter erzählte, denn darüber hatte sie bisher zu keiner Menschenseele gesprochen, nicht einmal mit Chas. Sie konnte ihm sogar ihre Angst vor einer Vererbung dieser Krankheit anvertrauen. Da nahm er ganz sanft ihre Hand und versicherte ihr, daß sie der geistig gesündeste Mensch sei, der ihm je begegnet sei. Und plötzlich schwand dieser Alptraum, der ein Teil. ihres Lebens gewesen war. Sie erzählte ihm von Queenie und den Jahren, die sie mit Ia verbracht hatte, die neben Gertie die einzige Freundin in ihrem eigenartigen Leben gewesen war. Sie sprach auch häufig von Gwenfer und ärgerte sich, daß sie mit. Worten weder die Schönheit dieses Hauses beschreiben noch ausdrücken konnte, was es ihr bedeutete. Sie hatte befürchtet, er würde sie wegen ihrer Liebe zu einem Haus verlachen, doch er schien ihre Gefühle zu verstehen. Er merkte, daß ihr jedesmal, wenn sie von Gwenfer sprach, Tränen in die Augen traten.
Im Laufe der Zeit wurden sie gute Freunde. Lincoln hielt sein Versprechen, nie von Liebe oder Heirat zu sprechen.
Es wurde Sommer. Sie machten Bootsausflüge und veranstalteten Picknicks im Grünen. Lincoln verwöhnte Grace über alle Maßen, aber er berührte Alice nie auf eine Weise, die als zu vertraulich gewirkt hätte, und er versuchte nie, sie zu küssen.
Alice befand sich in einem permanenten Zustand der Verwirrung. Sie konnte sich Gerne nicht anvertrauen, denn die Frobishers waren im Frühjahr nach England zurückkehrt. Sie war zwar erleichtert, daß Lincoln keine Annäherungsversuche machte, war jedoch gleichzeitig über seine Zurückhaltung enttäuscht. Sie sehnte sich nach seiner Nähe und wollte ihn gleichzeitig nicht sehen. An den Abenden, die sie in der Bäckerei arbeiten mußte, nagte quälende Eifersucht an ihr, und sie fragte sich, mit wem und wo er seine freien Stunden verbrachte.
Diese widersprüchlichen Emotionen verwirrten Alice. Das war nicht Liebe – nicht so, wie sie sie in Erinnerung hatte. Es war auch keine Freundschaft – sie empfand viel mehr für Lincoln. In seiner Gegenwart fühlte sie sich vor allem zufrieden und beschützt. War das genug?
Alice fürchtete sich vor der Liebe, denn ihre Liebe war stets von Unglück und vom Tod überschattet worden. Sie hatte nicht nur ihretwegen Angst vor einer Katastrophe, sondern ihre Sorge galt vor allem Lincoln.