Mit beinahe dreiundzwanzig Jahren war Ia bei weitem Blossoms ältestes Mädchen. Abgesehen von ihrer Zeit mit Peter war sie jetzt fast sieben Jahre im Bordell. Ihr Lebensstil hatte ihrer Schönheit nicht geschadet. Sie hatte zwar den Ausdruck der Unschuld verloren, den ihre Kunden so anziehend gefunden hatten, doch ihre weibliche Reife war nicht weniger betörend. Ihre Haut war samtweich und zart wie die eines Kindes, und sie wußte um die verführerische Ausstrahlung ihrer großen grauen Augen. Ihr Haar hatte den schimmernden Glanz der Jugend behalten, und ihre Figur war zwar weiblicher geworden, der Busen voller und die Hüften rundlicher, doch ihre Taille war mädchenhaft geblieben. Ihr Aussehen, ihre Professionalität, ihr Humor und Blossoms Abhängigkeit von ihren buchhalterischen Fähigkeiten hatten bewirkt, daß ihre Position unangetastet blieb.
Obwohl sie mit ihrer Intelligenz und ihrem Witz die Kunden bezirzte, war sie nicht glücklich. Doch da ihr früheres Leben von Elend und Trauer gezeichnet gewesen war, besaß sie die Kraft, dieses Unglücklichsein zu verbergen. Manchmal blickte sie zurück und erkannte wehmütig, daß es in ihrem Leben nur zwei Perioden wirklichen Glücks gegeben hatte: die wundervollen Jahre mit Alice und die ersten paar Monate mit Peter Willoughby. Wie so viele andere hatte sie beschlossen, ihr Schicksal zu akzeptieren – ein dauerhaftes Glück war ihr wohl nicht beschieden –, und fügte sich klaglos in ihre gegenwärtige Existenz.
Geld war ihr größtes Vergnügen. Diese Leidenschaft hatte nie nachgelassen. Sie besaß jetzt ein Bankkonto. Einer ihrer Kunden hatte sie als Dame mit privatem Einkommen an die Hoare’s Bank vermittelt, die sie nie als Kundin akzeptiert hätte, wäre ihr wahres Gewerbe bekannt gewesen. Das Wortspiel – eine Hure bei der Hoare’s Bank – amüsierte sie. Jedesmal, wenn sie Geld zur Bank brachte, dachte sie voller Vergnügen, daß dieses Geld wohl nur ein paar Tage zuvor abgehoben worden war, um sie für ihre Dienste zu bezahlen. Ihre finanziellen Interessen beschränkten sich allerdings nicht allein auf ihr Bankkonto, sie besaß auch ein ansehnliches Portefeuille von Anleihen und Wertpapieren. Ein anderer Kunde, ein Börsenmakler, hatte ihr wertvolle Ratschläge gegeben, und sie hatte bald erstaunliche Fähigkeiten in der Verwaltung ihrer Investitionen entwickelt.
Ia war mittlerweile perfekt in der Führung des Bordells. Wenn sich Blossom nicht wohl fühlte, übernahm sie die Leitung und sorgte für einen ebenso reibungslosen Ablauf. Sie dachte oft, daß sie vielleicht sogar eine bessere Madame wäre als Blossom, die bald fünfzig und offensichtlich müde wurde. Ihr Kapital würde inzwischen ausreichen, ein eigenes Bordell zu eröffnen, aber ihr Bedürfnis nach finanzieller Sicherheit ließ sie bei Blossom ausharren. Außerdem hatte sie beschlossen, sich erst selbständig zu machen, wenn ihre Mittel ausreichten, um ein ebenso luxuriöses Haus wie Blossom zu führen. Ihrem Ehrgeiz genügte ein schlichteres Etablissement nicht mehr.
Einen Großteil ihrer Freizeit brachte sie damit zu, Pläne für ihr »Haus« zu schmieden, welche Dienstleistungen sie anbieten wollte und wie sie den Standard verbessern könnte. Ia vergeudete keine Information – jede Anregung von ihren Kunden, jede Vorliebe notierte sie gewissenhaft. Mittlerweile besaß sie drei Notizbücher voller Anmerkungen. Sie hatte eine Liste der Kunden angefertigt, die ihr sicher in ihr eigenes Etablissement folgen würden. Und in einem kleinen schwarzen Buch notierte sie weiterhin jeden Besuch von Lady Tregowan, wer ihr zu Diensten gestanden hatte und wieviel sie bezahlt hatte. Ia wußte immer noch nicht, welchen Zweck diese Notizen hatten, es war ihr einfach zur Gewohnheit geworden.
Abgesehen von ihren Kleidern, Schuhen, Cremes, Seifen und Parfüms gab sie kein Geld für sich aus. Ihre weiteren Ausgaben beschränkten sich auf die Unterhaltszahlungen für Francine und die vielen Geschenke, die sie für ihre Tochter an die Familie in Blackheath schickte. Der Einkauf dieser Geschenke machte ihr unendlich viel Freude. Den Päckchen legte sie stets einen kleinen Brief mit dem Versprechen, eines Tages zu Besuch zu kommen, bei und unterzeichnete ihn mit »Tante Ia«.
Einmal war sie zu dem Haus gefahren, in dem ihre Tochter lebte. Ursprünglich hatte sie beabsichtigt, die Familie zu besuchen, um Francine zu sehen. Als die Kutsche vor dem Haus hielt, hatte sie plötzlich der Mut verlassen, und sie war vor einer Begegnung zurückgeschreckt. Statt dessen blieb sie über eine Stunde lang in der Kutsche sitzen und beobachtete das hübsche kleine Haus mit dem gepflegten Garten. Ihre Geduld wurde belohnt, als eine rundliche, freundlich aussehende Frau mittleren Alters herauskam, die an einer Hand einen Jungen und an der anderen ein Mädchen führte. Das Mädchen war zweifelsohne Francine, denn mit ihrem langen blonden Haar war sie ihr Ebenbild, nur waren ihre Augen grün statt grau. Ia wollte gerade aussteigen, als Francine etwas zu der Frau sagte, worauf die sich lachend zu ihr hinunterbeugte, sie auf den Arm nahm und liebevoll wiegte. Francine schlang ihre Arme um den Nacken der Frau und schmiegte ihr Gesicht an deren Hals. Diese selbstverständliche und natürliche Geste drückte unendlich viel Zuneigung aus. Ia beobachtete die Szene und hatte das wehmütige Gefühl, eine Außenseiterin zu sein, die nicht die Geborgenheit ihrer Tochter stören durfte. Resigniert ließ sie sich in den Sitz zurücksinken und befahl dem Kutscher, nach Hause zu fahren. Diese Begegnung deprimierte sie mehr, als sie für möglich gehalten hatte, denn sie war tagelang bedrückt und apathisch. Diese Stimmung wirkte sich auf ihre Arbeit aus, doch auf Blossoms Frage, ob es ihr nicht gutginge, antwortete sie nur ausweichend. Zu diesem Zeitpunkt faßte sie den Entschluß, ihrer Tochter in den nächsten Jahren fernzubleiben. Sie beschränkte sich darauf, weiterhin Geschenke zu schicken und gelegentlich Briefe von Francines Pflegeeltern zu erhalten.
Peter Willoughby war wieder in ihr Leben getreten. Nach ihrer letzten Begegnung hatte sie angenommen, ihn nie wiederzusehen, und versuchte mit aller Kraft, ihn zu vergessen. Es war ihr nicht gelungen. Über ein Jahr danach war er plötzlich im Bordell erschienen und hatte darauf bestanden, Ia zu sehen. Blossom hatte versucht, ihn abzuweisen, doch zu spät. Ia hatte ihn bereits im Salon gesehen, das genügte. Ihre Sehnsucht, alle ihre alten Gefühle kehrten zurück, und sie ging wie in Trance auf ihn zu und begrüßte ihn. Vor einem Jahr hatte sie ihn abgewiesen und monatelang unter ihrer Sehnsucht gelitten. Sie wußte, daß sie dieses Mal nachgeben würde – in Zukunft immer wieder nachgeben würde. Er war der einzige Mann in ihrem Leben, der die Leidenschaft in ihr geweckt hatte. Kein anderer Mann konnte ihre Persönlichkeit verändern wie er. Für keinen anderen Mann empfand sie Liebe.
In dieser Nacht gab sie eine ihrer besten Vorstellungen. Scheinbar unbeschwert und heiter ging sie mit ihm die Treppe hinauf, wobei sie sich Blossoms besorgter Blicke bewußt war. Um ihre Freundin zu beruhigen, lachte sie fröhlich und plauderte trotz ihres heftig pochenden Herzens heiter mit Peter. Er hielt ihre Hand und führte sie in ihr Zimmer.
Ihr Zusammensein war wie früher. Über ein Jahr hatte sich ihr Körper nach ihm gesehnt, und nur mit ihm erlebte sie den Höhepunkt der Lust und Liebe. In ihrem großen Bett, in der Geborgenheit des dämmrigen Lichts konnte sie für ein paar kostbare Stunden vergessen, was sie war.
»Mit dir war es immer wundervoll, Ia«, sagte er verträumt und sank in die Kissen.
»Ja, für mich auch«, sagte sie und kuschelte sich an ihn. Er legte den Arm um sie, und sie fragte sich, was sie antworten würde, wenn er sie bat, zu ihm zurückzukehren.
»Das war mein Abschied von der Vergangenheit«, sagte er und setzte sich auf.
»Ich verstehe nicht ...«
Er stand auf und begann sich anzukleiden. »Ich heirate morgen. Ich war nur neugierig, mehr nicht.« Er lächelte etwas schief. Ia konnte ihm nicht glauben, konnte nicht begreifen, daß er nicht dieselben Gefühle hatte wie sie.
»Ist das eine Art Rache?« fragte sie so gelassen wie möglich.
»Nein. Wie ich eben sagte – ich begrabe die Vergangenheit. Du bist wirklich nur eine Hure, was ich immer wußte. Jetzt kann ich dich endlich vergessen.«
»Wenn du das glauben möchtest, Peter, bitte, dann soll es so sein.« Sie war über ihre Selbstbeherrschung erstaunt, dabei hätte sie am liebsten ihre Qual hinausgeschrien.
»Zweifelst du etwa daran?«
»Natürlich nicht«, antwortete sie lächelnd. »Aber warum willst du mich vergessen? Wenigstens weißt du, wo du die Hure finden kannst, solltest du Lust haben, deine Erinnerungen aufzufrischen.«
»Wie interessant.« Er hob spöttisch die Brauen. »Ich werde daran denken.«
Sie beobachtete ihn lächelnd, während ihr Herz verzweifelt schrie: Verlaß mich nicht! Bitte, verlaß mich nicht. Ich liebe dich ... Er schloß die Tür leise hinter sich.
Ia begann zu schreien und zu toben. Sie wurde von einer schrecklichen Eifersucht auf die Frau überwältigt, die er morgen heiraten würde. Ein rasender Zorn erfüllte sie bei dem Gedanken, was hätte sein können, wäre Frederick nicht in ihr Leben getreten. Sie war außer sich vor Kummer, aber dieser Kummer suchte keine Erleichterung in Tränen und Klagen, sondern er ließ etwas in ihr sterben. Ein Teil ihrer selbst erstarrte zu Stein. Zwei Tage lang saß sie in ihrem Leid gefangen wie gelähmt da und starrte blicklos vor sich hin.
Blossom versuchte verzweifelt, sie aus ihrer Lethargie zu wecken.
Aber Ia gelang es wie immer, ihre Emotionen zu rationalisieren, denn sie traf eine Entscheidung. Sie liebte Peter und würde ihn immer lieben. Sie brauchte seinen Körper, denn nur er konnte ihre Sinne wecken. Er würde ihr nie gehören, und sie mußte sich mit dem Glück bescheiden, das er ihr gab. Sie würde auf ihn warten, weil sie ihn brauchte.
Ihr hatte nie gefallen, was sie tat, jetzt verabscheute sie es. Sie haßte die Männer, die sie begrapschten, begehrten und mißbrauchten. Während des widerwärtigen Aktes konnte sie keine Zuflucht in die Gedanken an Peter suchen, denn das wäre ein Verrat an ihrer Liebe gewesen. Nur der Gedanke an das Geld, der Schlüssel zu einem Ausweg aus diesem Dilemma, befähigte sie, weiterzumachen.
Ein weiteres Jahr des Wartens verging, ehe sie Peter wiedersah. Wie zuvor kam er völlig überraschend. Er fragte nach ihr und führte sie in ihr Zimmer. Er war und blieb der einzige Mann, der die vollendete Hure in einem Taumel der Leidenschaft versinken lassen konnte. Dieses orgiastische Erlebnis steigerte ihr Bedürfnis nach ihm.
Sie wußte, daß sie ein weiteres Jahr ohne ihn nicht würde ertragen können.
»Du kommst sehr unregelmäßig, Peter«, sagte sie beiläufig. »Darf ich das so auffassen, daß du mich öfter sehen möchtest?« Er stützte sich auf einen Ellbogen, legte sein Kinn in die Hand und betrachtete sie lächelnd.
»Ja.«
»Mangelt es dir an Kunden, die deine Gunst suchen?«
»Nein.«
»Warum dann?«
»Ich brauche dich einfach, Peter«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Du bist der einzige Mann, der mich befriedigt ...«
»Vielleicht solltest du mich bezahlen«, sagte er lachend.
Sie seufzte, als sie merkte, daß sie nicht sehr geschickt vorging. Viel lieber hätte sie ihm ihre Liebe gestanden, anstatt von ihren körperlichen Bedürfnissen zu sprechen, doch sie hatte Angst, ihn für immer zu verlieren. Das Wort Liebe gehörte nicht in das Vokabular einer Hure.
»Ich erwarte nichts von dir, Peter. Ich möchte dich nur öfter sehen. Wenn dir das nicht möglich ist, dann wäre es mir lieber, du würdest überhaupt nicht mehr kommen.« Sie hielt die Luft an. Jetzt hatte sie es ausgesprochen. Mit pochendem Herzen wartete sie auf seine Antwort.
»Das ließe sich wahrscheinlich einrichten.« Er beugte sich über sie und umfaßte spielerisch ihre Brust. Der Ausdruck ihrer Augen sagte ihm, daß sie erregt war und sich nach seiner Berührung sehnte.
Seit sechs Jahren war er ihr Liebhaber, der einzige Mann, nach dem sie sich sehnte und auf den sie jeden Abend wartete. Das konnte nur bedeuten, daß sie ihn liebte. Da sie in ihrem Leben aber nie Liebe erfahren hatte, kannte sie auch nicht die Vielschichtigkeit dieses Gefühls. Sie wußte nicht, daß zur Liebe auch Zuneigung, Fürsorge und Geben gehörten; daß Liebe nicht nur eine körperliche, sondern auch eine geistige Verbindung war. Sie brauchte ihn, daran bestand kein Zweifel, aber es war sein Körper, der ihre Bedürfnisse befriedigte. Sie glaubte zu lieben, war aber nur ein Opfer ihrer Sinne und von Peter sexuell abhängig.
Manchmal wartete sie einen ganzen Monat, manchmal nur einen Tag, bis er zu seiner Hure kam.