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Ia hatte sich im Haupthaus ein kleines Boudoir eingerichtet. Es war nur mit dem Nötigsten möbliert: zwei Sesseln, einem kleinen Schreibtisch und einer Chaiselongue. Vasen voller Blumen und mehrere Gemälde an der Wand, die alle die Küste von Cornwall zeigten, waren der einzige Schmuck. Sie benutzte dieses Zimmer in ruhigen Stunden für ihre Buchhaltung und um manchmal ein Buch zu lesen. Irgendwann während der vergangenen achtzehn Monate war es zur Gewohnheit geworden, daß der eine oder andere ihrer bevorzugten Kunden hier ein Plauderstündchen mit ihr verbrachte, ihr Blumen, kleine Geschenke oder ein Bild von Cornwall mitbrachte. Nur wenige hatten Zutritt zu ihrem Boudoir. Wie George Tregowan je auf den Gedanken kam, auch zu Ias engerem Kundenkreis zu gehören, blieb ihr ein Rätsel, doch Seine Lordschaft hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, sie regelmäßig in ihrem Boudoir zu besuchen. Zunächst hatte sie sehr ablehnend reagiert und hätte ihm am liebsten die Tür gewiesen, doch dann änderte sie ihre Meinung und verbrachte manche gemeinsame Stunde mit ihm bei einem Gläschen Champagner. Aus irgendeinem, für Ia unverständlichen Grund hatte er sie zur Freundin erkoren und erzählte ihr von seiner Einsamkeit und dem Scheitern seiner Ehe. Wäre er nicht George Tregowan gewesen, hätte Ia wohl Mitleid mit ihm gehabt.

Seine Ehe war während der Reise nach Rom zerbrochen, diesen verspäteten Flitterwochen nach Alices Verschwinden. In Rom hatte Daisy Dear ihm gesagt, daß sie schwanger sei, und hatte aus Angst um ihre Figur eine Abtreibung vornehmen lassen, woraufhin sie unfruchtbar geworden war. Deshalb war ihm der ersehnte Erbe versagt geblieben. Vielleicht hätte er seiner Frau das verzeihen können, hätte sie ihm nicht in einem Wutanfall ins Gesicht geschleudert, daß sie ihn ekelhaft fand und seinen alten Körper nur mit Widerwillen ertragen konnte. Ihr gefielen nur junge Männer, hatte sie ihm gestanden, worauf jedes Verlangen nach seiner Frau in ihm erstorben war.

»Sie hätten sich von ihr scheiden lassen sollen«, sagte Ia mit ihrer gewohnten pragmatischen Einstellung.

»Die Tregowans lassen sich nicht scheiden«, sagte der Lord hochmütig und erstickte damit den leisen Anflug von Sympathie, den Ia in diesem Augenblick für ihn empfunden hatte. Er erzählte weiter, wie sie nach ihrer Rückkehr nach London allmählich getrennte Wege gegangen waren, und klagte, daß die Extravaganz seiner Frau alle Maßen der Großzügigkeit übersteige. Er sprach oft und voller Sehnsucht von seiner verstorbenen Frau Etty. Gelegentlich erwähnte er auch seinen Sohn Oswald und wie anders und erfüllter sein Leben verlaufen wäre, wäre Oswald nicht ertrunken. Dabei nickte Ia verständig, doch ihr aufkeimendes Mitgefühl wurde sofort von Erinnerungen an ihre Kindheit in dieser armseligen Hütte, an das Leid ihrer Mutter und die Verbitterung ihres Vaters erstickt.

Vergeblich hoffte sie, etwas über Alice zu erfahren, doch George Tregowan erwähnte seine Tochter nie. Die Absolutheit, mit der er seine Tochter aus seinem Leben verbannt hatte, empfand Ia als grausam.

Obwohl er von Anfang an gewußt hatte, daß Ia einmal in seinen Diensten gestanden hatte, fragte er sie nie nach ihrem Leben. Sie hatte von ihm wenigstens einen Kommentar zu den Bildern von Cornwall erwartet, aber er schien sie nicht einmal zu bemerken. Ia war keine Närrin und wußte, daß sie ihm völlig gleichgültig war und er sie nur benutzte, um sich bei ihr auszusprechen. Vielleicht erwartete er auch Mitleid von ihr.

Ia war jetzt fünfundzwanzig. Sie hatte sich ihre strahlende Schönheit bewahrt und besaß ein unerschütterliches Selbstvertrauen, das auf ihren geschäftlichen Erfolg zurückzuführen war. Seit zwei Jahren führte sie jetzt das Bordell allein, ihr Geschäft blühte mit ihrem zunehmenden Ruhm. Ein Großteil der Geschäftsleute aus dem Norden verband ihre Reise nach London mit einem Besuch in ihrem exklusiven Bordell. Ihre Stammkunden waren ihr treu geblieben, und ihr Etablissement fand auch immer mehr Zuspruch in der Londoner Geschäftswelt. Ihre Kreditgeber waren erstaunt, in welch kurzer Zeit sie ihre Schulden abbezahlte. Man bot ihr Geld für weitere Investitionen an, doch Ia lehnte stets ab. In den Kreisen, in denen Geld regierte, war Ia zu einem Phänomen geworden. Ihr haftete der Ruf an, von Fortuna geküßt worden zu sein, und viele hätten gern an diesem Glück teilgehabt. Doch Ia lehnte jedes Angebot ab. Ihr Ziel war nach wie vor, einst Alleinbesitzerin des Bordells zu sein. Dann würde sie sich nach anderen Investitionsformen umsehen.

Kurz vor Weihnachten bereitete sie ihren Jahresabschluß vor. Über jede Einnahme und Ausgabe führte sie peinlich genau Buch. Sie kannte bis auf den letzten Penny die Summe von George Tregowans Schuldscheinen. Sie waren zu einem stattlichen Betrag von über 50000 Pfund angewachsen. Vielleicht war es ratsam, einen Teil davon einzufordern. Es war ein zu hoher ausstehender Posten. Es war unklug gewesen, die Schulden derartig anwachsen zu lassen, aber Ia hatte es genossen, die Schuldscheine in ihrer azurblauen Schale anzusammeln. Einen Teil würde sie zurückbehalten. Es war ein gutes Gefühl, den Lord ständig in ihrer Schuld zu wissen. Sie wollte ihm Schaden zufügen. Ihr war noch nicht klar, wie sie das bewerkstelligen würde, sie wußte aber, daß Geld der Schlüssel zu ihrer Rache war.

Sie gab Anweisung, George Tregowan sofort nach seiner Ankunft in ihr Boudoir zu führen.

»Sie wollten mich sprechen, Ia. Hoffentlich dauert es nicht lange, denn ich habe im Spielsalon den alten Rotherman gesehen. Ich würde den alten Spielteufel gern herausfordern«, sagte er lächelnd und setzte sich ihr gegenüber. Irgendwann in den vergangenen Monaten hatten sie angefangen, sich bei den Vornamen zu nennen.

»Es geht um diese Schuldscheine, George. Ich will Sie nicht drängen, –aber der Betrag hat enorme Ausmaße angenommen.«

Sie beugte sich vor und reichte ihm den Stapel Schuldscheine. Er wurde bleich.

»Wie hoch ist die Summe?« fragte er gepreßt.

»Fünfundfünfzigtausendfünfhundertvierzig Pfund, sechs Shilling und sechs Pennies.«

»Großer Gott!«

»Es ist sehr viel Geld, George.«

»Warum, um Himmels willen, haben Sie mich derart hohe Schulden machen lassen?« fragte er vorwurfsvoll.

»Hätte ich Sie davon abhalten können, George?« fragte sie mit einem zuckersüßen Lächeln. Mit klopfendem Herzen wurde ihr bewußt, daß er nicht so reich zu sein schien, wie allgemein angenommen wurde.

»Ich habe das Geld nicht.«

»Wie bitte?« Sie lächelte noch immer.

»Ich habe nicht genügend Geld, um diese Schuldscheine einzulösen«, sagte er schroff.

»Entschuldigen Sie, George. Ich habe Ihre Schuldscheine in gutem Glauben akzeptiert. Ich habe Sie für einen Ehrenmann gehalten, der zu seinem Wort steht. Ihr Name und Ihr Reichtum ließen keinen Zweifel über die Einlösung dieser Schuldscheine in mir aufkommen. Ich kann es mir nicht leisten, einen Kredit dieser Größenordnung weiterhin zu gewähren.«

»Was Sie hier tun, ist illegal, Ia. Spielschulden kann man nicht einklagen.«

»Dessen bin ich mir bewußt, George. Aber ich habe in Ihnen einen Gentleman gesehen, und ich brauche wohl nicht darauf hinzuweisen, daß Gentlemen ihre Schulden bezahlen.« Ihre Stimme klang kühl und gelassen, doch ihr Herz raste vor Aufregung. Sie wußte noch nicht genau, was sie tun würde, aber sie spürte, daß die Rache, ihre bittersüße Rache, in greifbare Nähe gerückt war.

»Natürlich werde ich bezahlen. Aber Sie müssen mir Zeit lassen, Ia.«

»Das Problem ist, George, daß ich keine Zeit habe. Auch ich habe Verpflichtungen, die keinen Aufschub dulden.«

»Ich habe das Geld nicht. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.«

»Was ist mit Ihrem Londoner Haus?«

»Bis unters Dach mit Hypotheken belastet.«

»Ihr Silber, Ihre wertvollen Besitztümer?«

»Verpfändet.«

»Ach, mein lieber George, wir scheinen in der Patsche zu sitzen, nicht wahr? Sie besitzen doch noch ein großes Gut in Berkshire?«

George stöhnte und stützte das Gesicht in seine Hände. Ia wartete geduldig.

»Als meine Spielsucht grenzenlos wurde ... meine Frau hat darauf bestanden, daß ich ihr den Besitz in Berkshire samt Einrichtung und einigen Wertpapieren übereigne.«

»Wie klug von Ihrer Frau.« Ia war erstaunt über Daisy Dears Gerissenheit. »Würde sie Ihnen nicht aus der Klemme helfen?«

»Das steht außer Frage. Sie würde rundweg ablehnen. Aber ich habe noch einen anderen Besitz.«

Ia beugte sich unwillkürlich vor, fürchtete aber, zu begierig zu erscheinen, und lehnte sich wieder zurück. »Noch einen Besitz?« fragte sie beiläufig, während ihr Herz vor Aufregung zu bersten drohte.

»Ja. In Cornwall. Den Herrensitz Gwenfer. Ich könnte ihn verkaufen, aber im Augenblick ist Grundbesitz in Cornwall nicht sehr wertvoll. Die Zinnminen, die dazugehören, wurden vor langer Zeit geschlossen.«

»Wie groß ist der Besitz?«

»Er umfaßt jetzt noch etwa vierhundert Hektar, hauptsächlich Heide und Moorland. Die nutzbaren Flächen habe ich Stück für Stück verkauft. Außerdem gehören ein kleines Dorf, eine ausgebeutete Mine und eine Farm dazu.«

»Ist Gwenfer möbliert?«

»O ja. Keine meiner Frauen mochte es. Es war ihnen zu altmodisch, verstehen Sie?« Er lächelte schwach. Ias Interesse an Gwenfer hatte in ihm einen Hoffnungsschimmer geweckt.

»Wenn der Besitz in einem so schlimmen Zustand ist, wie Sie gesagt haben, dürfte es lange dauern, bis sich ein Käufer findet. Wer ist schon an einem Haus, so weit von London entfernt, interessiert?« Ia zuckte die Schultern. »Was ist Ihrer Meinung nach Gwenfer wert?«

»An die dreißigtausend Pfund, würde ich sagen.«

»Das reicht nicht ganz, nicht wahr?«

»Was soll das heißen?«

»Ich nehme das Haus. Ich wollte schon immer ein Haus in Cornwall haben – aus persönlichen Gründen. Wie ich höre, besitzt Ihre Frau kostbaren Schmuck. Was ist damit?«

»Ich mußte ihn ihr überlassen. Dabei hat er mir nicht einmal gehört. Er gehört meiner Tochter. Sie wird in zwei Monaten dreißig. Bis dahin muß ich das Geld auftreiben, um ihn zurückzukaufen um ihr ihr Erbe auszuzahlen.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie das Vermögen Ihrer Tochter vergeudet haben? Das ist aber sehr unanständig.« Ia unterdrückte nur mit Mühe ein unbändiges Lachen. Noch nie war sie in einer derartigen Hochstimmung gewesen. »Wie hoch schätzen Sie den Wert des Schmucks Ihrer Tochter ein?«

»Auf mindestens fünfundzwanzigtausend Pfund.«

»Dann sollten Sie ihn mir geben, nicht wahr?«

»Aber ich habe Ihnen doch erklärt, daß meine Frau ihn nicht herausrücken wird. Sie behauptet, er gehöre ihr.«

»Ich verstehe. Nun, mein lieber George, wir werden schon eine Lösung finden. Morgen wird Sie mein Anwalt bezüglich des Besitzes in Cornwall aufsuchen. Außerdem schlage ich vor, Sie geben das Spielen auf, George.«

»Das kann ich nicht. Ich brauche Geld. Mir bleiben nur zwei Monate, um das Vermögen meiner Tochter zurückzugewinnen.«

»Das ist nicht viel Zeit, George.«

»Ich habe andere Kreditgeber. Nicht alle sind solche Aasgeier wie Sie.«

»Na, na, George, das ist nicht fair, nicht wahr? Jedenfalls werden Sie meinen Spielsalon nicht mehr betreten. Damit sind Sie doch einverstanden, oder?«

»Ich werde nie wieder einen Fuß in Ihr Haus setzen, das verspreche ich Ihnen.«

»Wie Sie wünschen«, antwortete Ia lächelnd und öffnete ihm die Tür.

Dann schlug sie die Tür mit einem Knall zu, lehnte sich dagegen und umarmte sich strahlend vor Freude. Sie konnte es nicht fassen. Gwenfer gehörte ihr.