Zwölftes Kapitel

1

Die altmodische Tregowan-Kutsche holperte schwerfällig vom Bahnhof in Penzance über die Promenade an der Mounts Bay entlang. Ia betrachtete ihre Umgebung voller Neugier. In ihrer Kindheit war sie nur ein paarmal mit Alice in Penzance gewesen und konnte sich kaum noch an die Stadt erinnern. Damals war der Hafen voller Segelschiffe gewesen, doch heute ankerten hauptsächlich wesentlich weniger romantisch aussehende Dampfschiffe in der Bucht. Ia schaute auf die Uhr, warf einen Blick zum Himmel und beschloß, ein andermal den Weg an der Küste entlang, durch das Fischerdorf Newlyn zu fahren. Heute wollte sie den Sonnenuntergang auf den Klippen von Gwenfer erleben. Sie beugte sich aus der Kutsche und befahl Mr. George, dem alten Kutscher, die kürzere Route zu nehmen.

In langsamem Trott zogen die Pferde die Kutsche über den Hügel von Mount Misery. Das altertümliche Gefährt schwankte bedrohlich. Ia betrachtete die zerschlissenen Plüschbezüge des antiquierten Fahrzeugs und beschloß, es durch eine leichtere Kalesche, vielleicht sogar ein Automobil zu ersetzen.

Begierig nahm sie jedes Detail der Landschaft in sich auf, konnte sich noch an jede Kurve der gewundenen Straße, jedes Cottage und Bauernhaus erinnern. Unter den Hecken und auf den Wiesen blühten Nelken, Primeln, Glockenblumen und andere Frühlingsblumen, deren Namen sie vergessen hatte. Cornwall entfaltete an diesem warmen Maitag seine ganze Pracht vor ihren Augen.

Als die Kutsche durch das Dorf polterte, beugte sie sich aus dem Fenster. Da war die Kirche, die verhaßte Schule, die gepflasterte Hauptstraße mit bunt zusammengewürfelten Häusern verschiedener Größen und Stilrichtungen. Mit pochendem Herzen hielt sie Ausschau nach der ehemaligen Siedlung der Minenarbeiter, doch sie entdeckte nur mehrere Reihen hübscher Häuser mit Strohdächern. Wo war ihr Cottage geblieben? Sie lehnte sich weit aus dem Fenster und blickte zurück. Es war doch nicht möglich, daß ihre Erinnerung sie in dieser Hinsicht trog und sie nicht mehr wußte, wo ihr Elternhaus gestanden hatte.

An der Toreinfahrt zu Gwenfer befahl Ia dem Kutscher anzuhalten und stieg aus. »Fahren Sie weiter. Ich gehe den Rest des Weges zu Fuß«, sagte sie und lächelte zu ihm hoch. Mr. George verneigte sich ehrerbietig vor dieser atemberaubend schönen Frau.

Sie spazierte langsam die verwilderte Auffahrt hinauf. Der Rhododendron überwucherte teilweise den Weg und bildete mit seinen dunkelgrünen, glänzenden Blättern eine schattige Allee. Wenn das Haus ebenso vernachlässigt war wie der Park, würde sie jeden Penny, den sie besaß, in die Renovierung stecken müssen.

Nach der letzten Biegung in der Auffahrt lag plötzlich das Haus vor ihr. Ihr Haus. Mit angehaltenem Atem blieb sie stehen. Es entsprach absolut dem Bild, das sie in ihrer Erinnerung behalten hatte. Jeden Augenblick erwartete sie, Alice oder Queenie heraustreten zu sehen. Sie wurde von einer Mischung aus Stolz und Scheu überwältigt, ähnlich den Gefühlen, die sie an jenem Tag empfunden hatte, als Alice sie zum erstenmal hierhergebracht und sie voller Ehrfurcht und Bewunderung das imposante Haus mit den vielen funkelnden Fenstern betrachtet hatte. Damals hatte sie sich vor dem Gebäude gefürchtet, als wäre sie ein unwillkommener Eindringling – heute reagierte sie auf ähnliche Weise. Die grauen Granitmauern von Gwenfer wirkten derart abweisend, als wollten sie der neuen Herrin keinen Zutritt gewähren.

Ia warf den Kopf in den Nacken. Was für einen Unsinn sie manchmal dachte! Natürlich hatte sie das Recht, hier zu sein. Sie hatte Gwenfer auf legale Weise erworben. Weder war es ihre Schuld, daß George Tregowan seinen ganzen Besitz verspielt noch daß er sich umgebracht hatte.

»Du gehörst jetzt mir«, sagte sie laut, stemmte die Fäuste in ihre wohlgerundeten Hüften und starrte herausfordernd zu den Mauern empor.

Aber sie ging noch nicht ins Haus. Statt dessen schritt sie die flachen Stufen zum Garten hinunter, der noch nie besonders gepflegt gewesen und jetzt völlig verwildert war. Jede Steinmauer war von wilden Rosen überrankt und die Rasenflächen von Gänseblümchen, Hahnenfuß und Schlüsselblumen bedeckt. Die Natur hatte ihre ursprüngliche Schönheit wiederhergestellt.

Ia bahnte sich mühsam einen Weg durchs Gestrüpp und kam schließlich zu dem kleinen Fluß, dessen kristallklares Wasser dem Meer entgegenplätscherte. Sie folgte dem Flußufer zur Bucht hinunter. Und beim Anblick von Alice’ Lieblingsfelsen überfiel sie eine unsägliche Traurigkeit – eine Traurigkeit, die ihren verlorenen Träumen und Hoffnungen galt, vor allem aber dem kleinen Mädchen, das hatte lernen müssen, wie gefährlich es war, jemandem zu vertrauen. Sie setzte sich auf den Fels und blickte aufs Meer hinaus. Die Arme um ihre angewinkelten Knie geschlungen, betrachtete sie die untergehende Sonne, deren letzte Strahlen die Granitfelsen in eine rotgoldene Glut tauchten. Wie oft hatte sie hier mit Alice gesessen und vergeblich auf den hellen Lichtstrahl gewartet, das letzte Aufleuchten der Sonne, ehe sie am Horizont versank. Hatte es diesen Lichtstrahl je gegeben, oder gehörte er wie alles andere einer Traumwelt an?

Sie atmete tief die reine Luft ein, die nur nach Meer und wilden Blumen roch. Das sanfte Plätschern der Wellen gegen die Klippen, das leise Rascheln der Blätter in der Frühlingsbrise und der Abendgesang der Vögel waren die einzigen Geräusche. Hier gab es weder den Gestank noch den Lärm der Großstadt. Sie hatte vergessen, wie friedlich das Leben auf Gwenfer war.

In dieser Umgebung könnte Francine unbeschwert und glücklich aufwachsen, dachte Ia. Aber die Zeit dafür war noch nicht gekommen. Das Haus zu erwerben war nicht schwierig gewesen, doch dessen Unterhalt würde noch problematisch werden. Ihr Ziel würde jetzt sein, so schnell wie möglich genügend Geld zu verdienen, um sich eines Tages zusammen mit ihrer Tochter hier niederlassen zu können und das Leben einer wohlhabenden Dame zu führen. Bei diesem Gedanken lachte sie leise.

Plötzlich überlief sie ein frostiger Schauder. Sie hüllte sich, enger in ihren feinen grauen Tuchmantel, stand auf und schlenderte zum Haus zurück.

»Da kommt sie. Mensch, sieht die gut aus.« Flo wich vom Fenster der großen Halle zurück. »Sie war unten am Felsen. Ist das nicht merkwürdig?«

»Ich finde nichts Merkwürdiges daran. Komm jetzt her,. damit wir die neue Herrin gebührend begrüßen können«, befahl Mrs. Malandine, die die wenigen verbliebenen Dienstboten in der Halle versammelt hatte. Nachdem die Tregowans das Haus so viele Jahre vernachlässigt hatten, war es ein mühsames und arbeitsaufwendiges Unterfangen gewesen, die Räume für die neue Herrin präsentabel herzurichten. Sie öffnete die Haustür und versank vor der erstaunlich jungen und hübschen Frau, die nur lächelnd dastand, in einen tiefen Knicks.

»Mrs. St. Just?« fragte sie unsicher.

»Ja, Mrs. Malandine. Ich wollte den Sonnenuntergang in der Bucht erleben. Es tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen.«

»Oh, bitte, Mrs. St. Just, wir haben gern auf Sie gewartet«, antwortete sie verwirrt. »Darf ich Ihnen die Dienstboten vorstellen?«

Sie durchquerten die geräumige Halle. Vor dem langen Tisch standen Mrs. Trelawn, Flo, Sal, Mrs. Butters, die Putzfrau, Mr. George und Zack, der Hausdiener, aufgereiht. Zur allgemeinen Überraschung gab die neue Herrin jedem die Hand, und ihr Lächeln zeugte von unterdrückter Heiterkeit. Sie konnten nicht ahnen, daß die ehrerbietigen Verneigungen und Knickse in Ia eine beinahe hysterische Belustigung weckten. Flo hatte sich damals geweigert, das kleine verdreckte Mädchen auch nur anzufassen.

»Wie können Sie mit so wenig Personal dieses große Haus instand halten?« fragte Ia Mrs. Malandine.

»Ach, wir kommen zurecht. Seit Jahren hat niemand von den Herrschaften hier gewohnt, und wir sind ausschließlich damit beschäftigt, die Räume in Ordnung zu halten.«

»Oh, ich verstehe.«

»Darf ich Madam einen Tee anbieten? Diese Frühlingsabende sind noch recht frostig. Im kleinen Salon habe ich im Kamin Feuer machen lassen.«

»Ich hätte gern einen Whisky mit Wasser. Vor dem Abendessen – gegen neun Uhr – würde ich gern ein heißes Bad nehmen. Es genügt mir ein leichter Imbiß, Mrs. Trelawn.« Ia ging ohne zu zögern auf die Tür zum kleinen Salon zu, öffnete sie und trat ein.

»Na, wer hat je von einer Lady gehört, die Whisky trinkt?« empörte sich Mrs. Malandine schockiert.

»Sie hat Ihren Namen gekannt, Mrs. Malandine, haben Sie das gemerkt?« sagte Flo mit großen Augen. »Und sie wußte, wo der Salon ist. Wie merkwürdig.«

»Natürlich kennt sie meinen Namen, du dummes Mädchen. Mr. Woodley wird ihr die Informationen gegeben haben.«

»Aber sie ging sofort in den Salon ...«

»Ich habe wohl unbewußt mit dem Kopf dorthin gedeutet.«

»Sieht sie nicht aus wie Miss Alice?«

»Was spinnst du dir da alles zusammen, Flo? Sie ähnelt kein bißchen Miss Alice, die bestimmt keinen Whisky verlangt hätte. Macht euch jetzt an die Arbeit. Es ist endlich wieder jemand im Haus, um den wir uns kümmern müssen.« Mrs. Malandine scheuchte die Dienstboten aus der Halle.

Ia stand im Salon vor dem knisternden Kaminfeuer. Die Holzscheite verbreiteten einen Duft von süßen Äpfeln. Im Winter hatten sie und Alice ihre Unterrichtsstunden oft hier abgehalten, wenn es im Schulzimmer zu kalt war. Beide hatten diesen Raum damals geliebt, und Ia liebte ihn heute noch mehr. Nichts war darin verändert worden. Sie erinnerte sich an die Gemälde, die Bücher, die Sessel, sogar die Schürhaken waren dieselben.

Sie hatte noch immer das Gefühl, in einem Traum zu leben, aus dem sie jeden Augenblick aufwachen würde. Sie ermahnte sich vor allem zur Vorsicht, denn niemand durfte erfahren, wer sie war, damit auch ihr Beruf ein Geheimnis blieb. Ihrem Ruf durfte kein Makel anhaften. Sie würde vorgeben, eine reiche Witwe zu sein, die eines Tages hier mit ihrer Tochter leben wollte. Ihr waren bereits ein paar Pannen passiert, da sie die Namen von Mrs. Malandine und Mrs. Trelawn genannt hatte und wußte, wo der Salon lag. Wahrscheinlich hatte niemand etwas Auffälliges daran gefunden. Wer würde schon auf den Gedanken kommen, in der eleganten Frau von heute das verwahrloste Kind von damals zu vermuten? Es war schade, daß sie nicht ihre wahre Identität enthüllen konnte. Was für einen Spaß es ihr machen würde, eines Tages ihr Geheimnis zu lüften! Sie hörte förmlich die Klatschgeschichten im Dorf: »Stellt euch nur vor, diese Ia Blewett, die Tochter des trunksüchtigen Bergarbeiters, ist jetzt Herrin auf Gwenfer