Ia hatte in dem großen Eichenbett des Schlafzimmers, das wohl einmal Alice’ Eltern bewohnt hatten, unruhig geschlafen. Sie setzte sich auf, lehnte sich in die spitzenbesetzten Kissen zurück und betrachtete die Gobelins an den Wänden, die geschnitzte Eichenkommode, den Wandschrank und die zwei hochlehnigen Sessel vor dem riesigen Kamin. Alice hatte ihr aus irgendeinem Grund dieses Zimmer nie gezeigt. Für Ia war es ein merkwürdiges Gefühl, morgens aufzuwachen und den ganzen Tag zur freien Verfügung zu haben. Sie kuschelte sich genüßlich in die Kissen, wurde jedoch bald von Sorgen über den Geschäftsverlauf in ihrem Etablissement gequält. Blossom hatte in Ia glücklicherweise eine Vertrauensperson gefunden, der sie unbesorgt die Aufsicht übertragen konnte, wenn sie für ein paar Tage verreist war. Ia hatte niemanden. Peter hatte seit Monaten darauf gedrängt, sie solle nach Cornwall fahren und ihren neuen Besitz begutachten. Ihr Widerstand gegen diesen Vorschlag war wohl nicht nur auf die Sorge um ihr Etablissement zurückzuführen gewesen, sondern auch auf eine merkwürdige Nervosität, die sie beim Gedanken an die Rückkehr in ihre alte Heimat stets befallen hatte. Schließlich hatte ihr jemand eine Frau empfohlen, eine Bordellwirtin im Ruhestand, die für eine Woche Ias Vertretung übernommen hatte. Doch schon der erste Tag ihres Urlaubs wurde von Sorgen um ihr Geschäft überschattet.
Ia wurde bewußt, daß dies ihr erster Urlaub in den fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens war, und sie fragte sich verwundert, was die Leute im Urlaub machten. Sie wünschte sich, Peter hätte sie begleitet, doch weder sie noch er hatte diesen Vorschlag gemacht.
Sie schlüpfte aus dem Bett, zog ihren Morgenmantel an, ging barfuß hinaus und den langen Korridor entlang zu der Tür, hinter der die Treppe zu den ehemaligen Kinderzimmern hinaufführte. An den Wänden hingen die Porträts von Alice’ Vorfahren. Sie hatte das Gefühl, durch ein Bilderbuch der Geschichte Englands zu gehen, das bis ins sechzehnte Jahrhundert zurückführte. Ia hatte nur ihre Eltern gekannt, an deren Existenz kein Gemälde erinnerte. Der Korridor war mit Teppichen bedeckt, unter den Porträts standen Eichenkommoden, und zwischen den Bildern hingen altertümliche Waffen. Durch das große Erkerfenster am Ende des Gangs fiel Licht herein. Ia lief darauf zu und schaute hinaus aufs Meer. Es versprach, ein schöner Tag zu werden.
Dann öffnete sie die Tür zum Dachgeschoß und stieg die Treppe hinauf. Da die Haushälterin wohl angenommen hatte, daß dieser Teil des Hauses die neue Herrin nicht interessieren würde, war hier nicht geputzt worden. Bei jedem Schritt wirbelte sie Staub auf und hinterließ ihre Fußabdrücke auf dem schmalen Gang. Die Tür zum alten Schulzimmer quietschte in den Angeln, als sie sie öffnete und in die Vergangenheit zurückkehrte.
Nichts war hier verändert worden. Es war, als hätten sie und Alice das Zimmer gerade verlassen, um zur Bucht hinunterzugehen. Sie trat an den Tisch, den Alice als Schreibtisch benutzt hatte. Darauf lag aufgeschlagen das Buch, in dem Alice Ias Anwesenheit verzeichnet hatte. Sie nahm den Bleistift. Der letzte Eintrag lautete: 24. August 1891. Sie schrieb darunter: 15. Mai 1906 und lachte leise, als sie ihren Namen dahinter vermerkte.
Dann setzte sie sich auf die Schulbank, auf der sie früher gesessen hatte, öffnete den Deckel und nahm ihre Hefte heraus. Sie öffnete das Heft, in das sie ihre Aufsätze geschrieben hatte. Eine Überschrift lautete: »Wenn ich erwachsen bin«. Sie lächelte über ihre kindliche Handschrift und las den Aufsatz. Sie hatte darin ihren Traum von ihrer Reise nach Amerika beschrieben, wie sie auf einem großen Schiff dorthin reisen und als Verkäuferin in einem Geschäft, vielleicht in einer Bäckerei, arbeiten wollte. Daran konnte sie sich noch erinnern, aber sie wußte nicht mehr, daß sie auch davon geträumt hatte zu heiraten und sich vier Kinder – zwei Jungen und zwei Mädchen – gewünscht hatte. Was für ein sonderbares kleines Mädchen sie doch gewesen war, das davon geträumt hatte, nach Amerika auszuwandern. Mit einem wehmütigen Lächeln klappte sie das Heft zu. Was wäre aus ihr geworden, wenn sich ihr Traum erfüllt hätte? Wäre sie in Amerika Verkäuferin oder Hure geworden? Nun, jedenfalls hätte eine Verkäuferin nicht genug verdient, um Gwenfer kaufen zu können. Sie schloß den Deckel der Schulbank und blickte sich in dem großen, sonnigen Zimmer um. An den Wänden hingen ihre Bilder, auf einem Tisch stand der Globus, auf dem sie zum erstenmal gesehen hatte, wo Amerika lag. In tiefen Zügen atmete sie die Luft ein, die noch immer nach Kreide roch.
Dann stand sie auf, ging zur Tür, nahm den Schlüssel aus dem Schloß, trat auf den Gang hinaus und versperrte die Tür. Den Schlüssel steckte sie in ihre Tasche. Nichts sollte jemals in diesem Zimmer verändert werden, das die einzigen glücklichen Erinnerungen an eine sonst so trostlose Kindheit barg.
Philomel, die Dorflehrerin, machte sich im Garten des Schulhauses zu schaffen. Sie hielt sich nicht zufällig draußen auf. Sie hatte gehört, daß am Abend zuvor die neuen Besitzer von Gwenfer angekommen waren, und hoffte darauf, einen Blick auf sie werfen zu können, sollten sie ins Dorf kommen. Die Ankunft der neuen Herrschaft hatte die kleine Gemeinde in helle Aufregung versetzt. Die unglaublichsten Gerüchte kursierten seit Wochen. Es hieß, eine indische Prinzessin habe Gwenfer gekauft, dann wurde geklatscht, der Eigentümer der Durham-Mine habe den Besitz gekauft und würde die Zinnminen wieder öffnen. Die letzte Information hatte gelautet, daß auf Gwenfer eine Schule für Jungen eingerichtet werden solle. Keine dieser Vermutungen weckte in Philomel Freude. Seit dreizehn Jahren sehnte sie die Rückkehr ihrer geliebten Alice herbei, denn in Philomels Augen gehörte Gwenfer den Tregowans. Den neuen Besitzer konnte sie nur als Eindringling betrachten.
Obwohl sie natürlich neugierig war, trieb sie vor allem ihr Bedürfnis, Alice darüber zu berichten, ins Freie. Nach einer langen Zeit der Sorge, als ihr Briefkontakt mit Alice abgebrochen war und ihre Briefe mit dem Vermerk »Unbekannt verzogen« zurückgekommen waren, hatte sie plötzlich wieder eine Nachricht von Alice erhalten. Philomel war überglücklich gewesen zu erfahren, daß sie geheiratet hatte und glücklich zu sein schien. Alice und ihr Mann hatten ein kleines Mädchen adoptiert.
Philomel zerrte an einer besonders widerspenstigen Winde. Sie war noch immer betrübt über Alice’ Reaktion auf ihren letzten Brief. Philomel hatte ihr ihr Beileid zum Tode ihres Vaters ausgedrückt und aus Alice’ Antwortbrief erfahren, daß niemand sie über das Ableben von George Tregowan unterrichtet hatte. Philomel hatte entsetzliche Geschichten über die Art und Weise, wie er gestorben war, gehört, führte jedoch das meiste auf Dienstbotenklatsch zurück. Von ihr würde Alice keine Andeutungen über die Umstände von George Tregowans Tod erfahren.
Während Philomel ihren Gedanken nachhing, attackierte sie eine Distel, die in einem Blumenbeet sproß. Wie gern hätte sie Alice’ Gesicht gesehen, als sie die Neuigkeit von ihrer eigenen Heirat las. Wie überrascht sie gewesen sein muß – beinahe so verblüfft wie ich selbst, dachte Philomel, die jeden Tag ein Dankgebet sprach, daß Ralph Trenwith, der neue Hilfspfarrer, vor fünf Jahren in ihr Leben getreten war. Wegen ihres Aussehens und ihres Alters hatte sie längst jeden Gedanken an Heirat aufgegeben, doch Ralph schien von beidem unbeeindruckt gewesen zu sein und hatte von Anfang an ihre Gesellschaft gesucht, denn er unterhielt sich gern mit ihr. Nach einem Jahr hatte er ihr einen Antrag gemacht, und Philomel hätte beinahe ihr Glück zerstört, denn sie war nahe daran gewesen, in Gelächter auszubrechen, da sie diesen Antrag für einen Scherz gehalten hatte. Seitdem lebten die beiden harmonisch und glücklich in dem Schulhaus und warteten darauf, daß sich Mr. Reekin endlich zur Ruhe setzen würde, damit Ralph dessen Stelle als Vikar übernehmen konnte.
Philomel bückte sich wieder über ein Büschel Unkraut und sah daher Ia nicht vorbeigehen.
Es war so ein herrlicher Tag, daß sich Ia nach einem üppigen Frühstück, bestehend aus Speck und Eiern, entschlossen hatte, zu Fuß ins Dorf zu gehen. Sie war gemächlich die Auffahrt hinuntergeschlendert, hatte einen Spaziergang an den Klippen entlang gemacht und dabei die Blütenpracht der Frühlingsblumen bewundert.
Sie wollte das Cottage sehen, in dem sie mit ihrer Familie gelebt hatte, und fürchtete sich gleichzeitig davor. Sie war so glücklich und entspannt, daß sie Angst davor hatte, der Anblick dieser armseligen Behausung würde ihren Haß auf die Vergangenheit wieder aufleben lassen.
Sie schlenderte durch die Gassen der neuen Siedlung und schaute sich verwirrt um. Sie war überzeugt, daß an dieser Stelle ihre alte Hütte gestanden hatte. Das hübsche, einstöckige Cottage mit dem kleinen Garten davor hatte ein Strohdach, und in die Mauer neben der Haustür war ein Datum eingemeißelt: 1893. Ia starrte verblüfft darauf. Der Tod ihrer Mutter hatte also doch etwas bewirkt und diesen Bastard Tregowan dazu bewegt, anstelle der elenden Hütten ordentliche Häuser bauen zu lassen. Ia wußte nicht, ob sie sich darüber ärgern oder freuen sollte.
Sie machte kehrt und ging ins Dorf. Frauen mit Einkaufskörben am Arm schlenderten durch die Gassen. Überall herrschte im Gegensatz zu früher geschäftiges Treiben. Die Menschen sahen zufrieden und glücklich aus. Nirgends waren unterernährte, schmutzige Kinder zu sehen.
Ia ging an der Kirche und dem Friedhof vorbei. Sie wußte nicht einmal, ob ihre Mutter dort beerdigt war und ob ihr Vater noch lebte oder tot war. Es war ihr auch gleichgültig. Dann führte ihr Weg sie an der Schule und dem Haus des Lehrers vorbei.
An der Straße lag eine Reihe von neuen Häusern. Vorhänge bauschten sich in den offenen Fenstern, vor denen Blumenkästen mit Narzissen hingen. Ia blieb plötzlich wie erstarrt stehen und preßte eine Hand gegen ihren Mund, um einen ungläubigen Aufschrei zu unterdrücken. Eingemeißelt in die Granitmauer eines dieser Cottages stand eine Inschrift in großen gotischen Buchstaben: ZUM GEDENKEN AN IA BLEWETT WURDEN DIESE ARMENHÄUSER IM JAHR 1893 ERRICHTET.