Sechs Monate später hatte Ia noch immer nicht die Leere überwunden, die Peter in ihrem Herzen und in ihrem Leben hinterlassen hatte. Ihre Einsamkeit war ein dumpfer Schmerz, der unablässig in ihr bohrte. Sie arbeitete, bis sie vor Erschöpfung umfiel, doch die Nächte allein im Bett waren unerträglich.
Zuerst hatte sie gedacht, ihre Sehnsucht sei rein physischer Natur, und sie hatte eines Nachts einen ihrer Kunden in ihr Bett eingeladen. Sie hatte ihre Wahl sorgfältig getroffen und dem Gerede der Mädchen über die verschiedenen Männer, ihre Eigenschaften und sexuellen Vorlieben zugehört. Es war eine recht zufriedenstellende Nacht voller Leidenschaft gewesen, doch sie hinterließ in Ia eine noch größere Leere, deshalb wiederholte sie das Experiment nicht mehr.
Peter war mehrere Male ins Haus gekommen, aber sie hatte ihn jedesmal abweisen lassen. Er hatte Blumen und Geschenke geschickt, hatte versucht, telefonisch Kontakt mit ihr aufzunehmen, doch sie hatte sich stets geweigert, mit ihm zu sprechen. Diese Verweigerung überstieg beinahe ihre Kräfte, aber er hatte sie zu tief verletzt. Sie konnte ihm nicht verzeihen. Manchmal, wenn er kam, stand sie am Fenster hinter dem Vorhang, um wenigstens einen Blick auf ihn werfen zu können. Sie wußte, daß ihr Verhalten lächerlich war, konnte aber nicht anders. Nur weil sie eine Hure war, hatte er nicht das Recht, sie zu betrügen. Sie war ihm mehr als eine Hure gewesen. Er hatte endgültig ihr Vertrauen zu ihm zerstört.
Es gab Tage, in denen sie in einem Meer von Selbstmitleid versank. Sie hatte niemanden auf der Welt. Sie war jetzt achtundzwanzig und mußte sich die bittere Wahrheit eingestehen, daß es außer Gwen jedem gleichgültig war, ob sie lebte oder tot war. Die Mädchen, die für sie arbeiteten, respektierten sie, mochten sie aber im Grunde wohl nicht, da sie sehr streng mit ihnen war. Ihre Tochter wußte nicht einmal, daß sie ihre Mutter war, und Alice, ihre Freundin aus der Kindheit, hielt sie für tot.
Dieses Elend verbarg sie tief in ihrem Herzen, denn Ia, die vollendete Schauspielerin, bezauberte nach wie vor ihre Kunden mit ihrer Schönheit, ihrem Humor und ihrer Intelligenz. Es war November, eine bitterkalte, neblige Nacht. Bei diesem Wetter würden sich nur wenige verzweifelte Männer auf der Suche nach Unterhaltung und Sex in ihr Haus verirren. Ia saß mit einem Whisky in ihrem Boudoir über den Büchern. Da steckte Gwen ihren Kopf zur Tür herein.
»Ein junges Mädchen möchte dich sprechen.«
»Sag ihr, wir nehmen im Moment niemanden auf. Sie soll es bei Mog in der Drury Lane versuchen.«
»Sie besteht darauf, zu dir vorgelassen zu werden.«
»Ach, tatsächlich«, antwortete Ia lachend. »Nun, wenn sie sehr jung, schön und vielleicht noch Jungfrau ist, könnte ich es mir überlegen.«
»Sie ist jung und schön. Was die Jungfräulichkeit betrifft, bin ich mir nicht sicher.« Gwen lachte laut. »Nein, darum geht’s nicht, Ia. Sie sagt, sie sei eine Verwandte von dir. Ihr Name ist Frances Blowit oder so ähnlich.«
»Francine?« – »Ja, das hat sie gesagt.«
»Oh, mein Gott!« Ias Herz machte einen Sprung, und sie hatte das Gefühl zu ersticken. Sie trat ans Fenster, öffnete es und atmete tief die kalte, neblige Luft ein. »Wo ist sie?«
»Im Empfangssalon. Um Himmels willen, was ist mit dir, Ia? Du bist bleich wie ein Leintuch.«
»Gieß mir noch einen Whisky ein, Gwen – einen großen. Wie sehe ich aus?«
»Wie ein Gespenst. Was ist denn?« Gwen goß den Whisky ein und betrachtete Ia besorgt.
Ia leerte das Glas in einem Zug. »Schick sie herein, Gwen.« Sie schloß das Fenster. »Es geht mir wieder gut.«
»Willst du das Mädchen wirklich sehen? Du kommst mir ziemlich merkwürdig vor.«
»Es war nur der Schock. Weißt du, sie ist eine Nichte von mir, und ich habe nicht erwartet, ihr je zu begegnen.«
Gwen ging widerstrebend hinaus. Ia betrachtete sich nervös im Spiegel, zupfte ihr Haar zurecht, kniff sich in die Wangen und befeuchtete ihre Lippen.
»Herein«, antwortete sie auf das leise Klopfen. Die Tür wurde geöffnet, und ihr erster Gedanke war: Wie schön das Mädchen ist! Es hatte dasselbe lange blonde Haar wie sie und dieselben großen Augen, die allerdings nicht grau wie ihre, sondern von einem dunklen Grün waren. Ihr zweiter Gedanke war: Wie erschöpft und heruntergekommen sieht sie aus. Der Mantel des Mädchens war zerrissen und schmutzig. Die Stiefel abgestoßen und verdreckt. Das Gesicht war mit Schlamm bespritzt, an der Schläfe hatte es einen blauen Fleck, und die Hände waren zerkratzt.
»Francine?«
Das Mädchen zögerte einen Augenblick. »Bist du meine Tante Ia?«
»Ja, die bin ich. Ach, Francine ...« Ia streckte ihr die Hände entgegen. Das Mädchen lief auf sie zu und warf sich in ihre Arme. Gwen schloß leise die Tür.
Ia konnte es nicht glauben, daß sie ihre Tochter in den Armen hielt, die sich verzweifelt an sie klammerte. Sie konnte nicht glauben, daß sie das feine blonde Haar ihres Babys streichelte, dessen Tränen ihr Seidenkleid netzten.
»Still, meine Kleine. Sei still. Was ist denn los?«
Erst nach fünf Minuten ebbte das Schluchzen ab. Ia löste Francines Arme sanft von ihrem Hals, half ihr aus dem durchnäßten Mantel und goß etwas Whisky in ein Glas. Sie führte Francine zu einem Sessel vor dem prasselnden Kaminfeuer und reichte ihr das Glas.
»Trink das. Es wird dich beruhigen. Und dann erzähle mir, was geschehen ist.«
»Du wirst mich nicht zurückschicken?« Francine sah Ia mit großen, ängstlichen Augen an.
»Wohin zurück?«
»Zu diesen schrecklichen Leuten ...«
Diesen Akzent muß sie sich abgewöhnen, dachte Ia unlogischerweise. Damit sie eines Tages eine gute Partie macht, ist eine gute Ausdrucksweise unerläßlich. Daran hätte sie denken und der Pflegemutter Geld für Sprachstunden schicken müssen. Francine mußte eines Tages heiraten. Ia würde alles daransetzen, ihrer Tochter ein Leben wie das ihre zu ersparen.
»Ich dachte, du wärst dort glücklich.«
»Glücklich?« Francines Stimme wurde schrill. »Es war die Hölle!«
»Ach, mein armer Liebling. Mrs. Prendleby hat mir doch immer geschrieben, wie gut es dir geht.«
»Das mußte sie schließlich. Sonst hättest du mich da weggeholt, und sie hätte kein Geld mehr bekommen. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten, Tante Ia. Es war schrecklich. Er kam jede Nacht zu mir ...« Ein Schauder ließ ihren Körper erzittern.
»Was willst du damit sagen?« fragte Ia. Ihr dämmerte Entsetzliches.
»Dieses Scheusal, dieser Alf Prendleby. Er war dauernd hinter mir her und hat sich an mir zu schaffen gemacht. Ich wollte ein braves Mädchen sein, Tante Ia. So wie der Vikar es gesagt hat. Er hat mir so weh getan, oh, Tante Ia, wie hat er mir weh getan! Ich mußte zu dir kommen. Außer dir habe ich niemanden auf der Welt, an den ich mich wenden kann. Ich werde dir auch nicht zur Last fallen ...«
Ia goß sich mit zitternder Hand noch einen Whisky ein. Ihr war übel. In ihr brannte glühender Haß. Sie wollte töten. Ihr Kind war mißbraucht worden! Sie leerte ihr Glas. Francine begann wieder zu schluchzen.
»Beruhige dich, Francine. Bei mir bist du in Sicherheit. Hast du Hunger?«
Das Mädchen nickte stumm. Ia riß heftig an der Klingelschnur. Gwen erschien sofort, was vermuten ließ, daß sie an der Tür gelauscht hatte.
»Gwen, bring Francine Suppe und ein Steak. Hast du darauf Appetit, mein Liebling?«
»Ja, Tante Ia.«
»Dann laß meine Kutsche vorfahren, Gwen.«
»Was? Bei diesem schrecklichen Wetter? Du bist wohl verrückt. Ich laß dich nirgends hinfahren.« Gwen stemmte die Hände in die Hüften.
»Ich muß, Gwen. Es ist etwas Entsetzliches passiert. Ich muß sofort zu diesen Leuten fahren.«
»Nein! Verlaß mich nicht! Um Gottes willen, verlaß mich nicht ...« schrie Francine, lief zu Ia und umklammerte sie schluchzend.
»Du meine Güte«, murmelte Gwen.
Ia warf Gwen über Francines Kopf hinweg einen ängstlichen Blick zu, die nur hilflos die Schultern zuckte. »Na, na, beruhige dich. Ich bleib ja bei dir. Erst ißt du etwas, und dann macht dir Gwen ein Bett zurecht. Nicht wahr, Gwen?«
»Ich schlafe nicht allein. Du läßt mich doch nicht allein schlafen, nicht wahr? Bitte ...« Francines tränenüberströmtes Gesicht zerriß Ias Herz.
»Nein, natürlich nicht. Du kannst bei mir, in meinem Bett schlafen. Ich habe ein kleines Haus im Garten. Dort sind wir in Sicherheit und machen es uns gemütlich, nicht wahr, meine Kleine?« Ia sprach mit Francine, als wäre sie noch ein kleines Kind und nicht in demselben Alter, als sie das Waisenhaus verlassen hatte und nach London geflohen war.
Später, nachdem sie und Gwen mit Erstaunen beobachtet hatten, mit welcher Geschwindigkeit Francine ein üppiges Abendessen verzehrte, hatten sie das Mädchen gebadet, ihm eines von Ias Nachthemden angezogen und ins Bett gesteckt. Ia saß bei Francine und hielt ihre Hand, bis sie eingeschlafen war.
Ia betrachtete ihre schlafende Tochter. Die Tiefe ihres Gefühls für das Mädchen, das ihr eigentlich fremd war, überwältigte sie. So hatte sie empfunden, als Francine ein Baby gewesen war. Die ganzen Jahre hatte diese Liebe in ihr geschlummert und nur darauf gewartet, wieder geweckt zu werden. Zwölf Jahre lang hatte sie nur für ihre Tochter gearbeitet, und es war kein Tag vergangen, an dem sie nicht voller Sehnsucht an sie gedacht hatte. Und jetzt war ihre Sehnsucht in Erfüllung gegangen. Ihre Tochter war bei ihr. Ia stand auf. Es war zu spät, um diesen Bastard Prendleby heute nacht zur Verantwortung zu ziehen. Morgen früh würde sie zu ihm fahren. Jetzt galt es, Pläne zu machen. Sie konnte das Mädchen nicht hierbehalten. Francine durfte nie erfahren, welchen Beruf sie ausübte, auch wenn sie sie nur für ihre Tante hielt. Sie würde sie in ein Internat schicken, das war die ideale Lösung. Sie würde einige ihrer Kunden nach der besten Schule fragen, in der Francine zu einer Lady erzogen werden konnte.
Schließlich schlüpfte Ia neben ihrer Tochter ins Bett und nahm sie sanft in die Arme. Ein unendliches Gefühl des Friedens erfüllte sie. Ihre innige Liebe für diese kleine Fremde weckte in ihr das verzweifelte Bedürfnis, sie vor jedem Leid zu schützen. Francine in diesem Bett in meinen Armen zu halten, ist zweifelsohne das glücklichste Erlebnis meines Lebens, dachte sie.