Es war noch dunkel, als Ia vorsichtig aus dem Bett schlüpfte und sich ankleidete. Sie mußte in Blackheath ankommen, ehe Alf Prendleby zur Arbeit ging. Dann weckte sie Gwen und bat sie, bei Francine zu bleiben, damit diese nicht erschrak, wenn sie in einer fremden Umgebung aufwachte. Der dichte Nebel machte ein rasches Vorankommen unmöglich, und Ias Kutsche hielt erst drei Stunden später, kurz vor neun, vor Prendlebys Haus, in dem sie all die Jahre Francine gut aufgehoben wähnte.
»Nur mit der Ruhe. Ich komm ja schon«, hörte Ia eine weibliche Stimme hinter der Haustür murmeln, nachdem sie mit aller Kraft dagegengehämmert hatte. Die Tür wurde geöffnet, und vor ihr stand eine untersetzte, korpulente Frau, die Ia verwundert ansah.
»Ich bin Mrs. St. Just und will mit Ihnen über meine Tochter Francine Blewett sprechen«, erklärte Ia schroff und drängte sich an der Frau vorbei in die Diele.
»Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind, Missus«, sagte Mrs. Prendleby mit einem freundlichen Lächeln. »Was habe ich mir für Sorgen gemacht. Hier entlang, bitte«, fügte sie mit einer einladenden Geste hinzu und führte Ia in ein kleines, mit Möbeln vollgestopftes Wohnzimmer, in dem ein anheimelndes Kaminfeuer brannte. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Mrs. Prendleby, ersparen Sie sich die Mühe! Ich möchte nur mit Ihnen reden. Würden Sie sich bitte hinsetzen und mir zuhören?«
Aber Mrs. Prendleby war schon mit einer für ihre Körperfülle erstaunlichen Behendigkeit zum anderen Ende des Zimmers gegangen, schob einen dort hängenden Vorhang beiseite und rief in den Gang: »Alf, kommst du bitte? Sag einem der Mädchen, es soll Tee ins Wohnzimmer bringen.« Sie kam zu Ia zurück und wies auf einen Sessel. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Im Sitzen und mit einer Tasse Tee spricht es sich leichter, finden Sie nicht auch?« fragte sie lächelnd und tätschelte tröstend ihren Arm. »Wahrscheinlich haben Sie sich ebenso große Sorgen gemacht wie wir.«
»Mrs. Prendleby ...«
»Francine ist schon öfter weggelaufen, blieb aber nie so lange fort wie dieses Mal. Sie macht uns ganz schön zu schaffen, dabei sieht sie aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben ... Ach, das sollte ich wohl nicht sagen«, fügte sie verlegen hinzu. »Das arme kleine Ding. Francine hat so viele Wünsche und hat es so eilig, alles zu bekommen. Ich habe in den vergangenen vier Nächten kein Auge zugetan, das kann ich Ihnen sagen.«
»Vier Nächte?«
»Ja, seit sie ausgerissen ist. Ich weiß, wir hätten Ihnen Bescheid sagen müssen, Mrs. St. Just, aber da es schon öfter passiert ist, hatte ich gehofft, sie würde wieder zurückkommen. Mein Alf hat mir geraten, heute zu Ihnen zu gehen. Natürlich habe ich die Polizei verständigt, aber da Francine schon über zwölf ist, kann sie nicht viel ausrichten.«
»Über zwölf?«
»Ja, mit zwölf wurde sie mündig. Danach kann man nicht mehr viel machen, wenn sich ein Mädchen in eine verrückte Idee verrennt. Und ich muß zugeben, daß Albert Swallow, der Metzgergeselle, ein gutaussehender junger Mann ist ...«
»Albert Swallow?«
»Ja. Wir haben schließlich erfahren, daß sie zu ihm gegangen ist. Aber er hat sie verprügelt, weil sie ihm zwanzig Shilling gestohlen hat, wie er behauptet. Da ist sie davongelaufen. Ich habe ihm nicht geglaubt und bin richtig wütend auf ihn geworden. Unsere Francine stiehlt nicht, habe ich ihm gesagt. Sie ist ein temperamentvolles, lebenslustiges Mädchen, aber keine Diebin.« Mrs. Prendleby blies empört die Wangen auf. Ia hörte sich das Geschwätz mit zunehmender Verärgerung an, bis sie glaubte, vor Wut platzen zu müssen. Sie stellte sich vor Mrs. Prendleby hin und rief: »Wie können Sie es wagen, meine Tochter derart zu verleumden? Ich bezweifle, daß Sie die Polizei informiert haben. Und ich bezweifle, daß dieser Albert überhaupt existiert. Sie erzählten mir diese Schmutzgeschichte nur, um mich in die Irre zu führen.«
»Wie bitte?« Mrs. Prendleby ließ sich schockiert in einen Sessel sinken. »Was sagen Sie da? Woher nehmen Sie das Recht, so mit mir zu sprechen?«
»Natürlich habe ich erwartet, daß Sie mir eine Lüge auftischen würden, um Ihren Mann, dieses Scheusal, zu schützen.«
»Mein Alf ist ein Scheusal? Wovon, um. Himmels willen, reden Sie eigentlich?«
»Ach, hören Sie auf damit, mir die Ahnungslose vorzuspielen, Mrs. Prendleby.« Ia stapfte wütend auf und ab. »Ihr Mann hat mein kleines Mädchen mißbraucht.«
»Ihr kleines Mädchen mißbraucht?« wiederholte Mrs. Prendleby fassungslos. »Da soll mich doch ... Was für eine Unverschämtheit! Wie können Sie es wagen, hierherzukommen und anständige Leute zu beschimpfen?« Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Es tut mir leid wegen Ihrer Tochter, aber wie ich schon sagte, sie wird wieder auftauchen, und dieses Mal, Mrs. St. Just, werde ich sie ordentlich verprügeln. Was haben wir uns ihretwegen Sorgen gemacht. Es tut mir nur leid für Sie, Mrs. St. Just ...«Ihre Verärgerung schien sich in Mitgefühl gewandelt zu haben. In diesem Augenblick wurde der Vorhang beiseite geschoben, und ein hübsch gekleidetes junges Mädchen trug ein Teetablett herein. Hinter ihr erschien ein stattlicher, freundlich aussehender Mann, dessen gutmütiges Lächeln Ias Zorn momentan erstickte.
»Alf, das ist Mrs. St. Just, Francines Mutter. Sie ist gekommen, um nach ihrer Tochter zu sehen, und behauptet, du seist ein Scheusal.«
Alf Prendleby kam mit ausgestreckter Hand auf Ia zu. Seine mächtige Gestalt wirkte bedrohlich. Ia wich zurück und sank in einen Sessel.
»Ich soll ein Scheusal sein?« Er lachte dröhnend. Dann wiederholte er mit einem breiten Grinsen: »Wer sagt, daß ich ein Scheusal sei?«
»Meine Tochter ist in meinem Haus. Sie kam letzte Nacht in einem fürchterlichen Zustand ...«
»Letzte Nacht?« fragten die Prendlebys wie aus einem Mund und sahen sich bedeutungsvoll an.
»Ja, gestern abend. Francine hat Sie beschuldigt, Mr. Prendleby, ihr nachgestellt und sie mißbraucht zu haben.«
»Mein Alf soll das getan haben? Er kann nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun. Das ist die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe. Sie können jeden in der Nachbarschaft fragen ... ach, das ist einfach albern ...« Mrs. Prendleby hievte sich aus dem Sessel, schien in ihrer Verwirrung nicht zu wissen, was sie tun sollte, und ließ sich wieder zurückplumpsen.
»Das ist aber nicht nett. Wie kann sie nur so etwas Böses sagen?« Ihr Mann schüttelte ungläubig den Kopf.
»Es ist auch nicht ›nett‹, so etwas zu tun, Mr. Prendleby. Ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich dafür sorgen werde, daß anständige Menschen Ihnen keine Kinder mehr anvertrauen. Die Kinder, die sie noch in Ihrer Obhut haben, werde ich fortbringen lassen, damit sie von Ihnen nicht geschändet werden.« Ia zitterte vor Wut.
»Augenblick mal, Missus! Ich habe kein Kind belästigt, das kann ich Ihnen versichern. Wenn Francine das behauptet, dann ist das eine verdammte Lüge.«
»Natürlich behaupten Sie, daß Francine lügt. Es war wohl kaum zu erwarten, daß Sie die Schandtat gestehen.«
»Ich lüge nicht, Missus!« sagte Alf ruhig, blieb vor Ia stehen und blickte auf sie hinunter. »Jetzt wollen wir ein paar Dinge klarstellen. Wir sind anständige Leute, Missus, das wird Ihnen jeder hier sagen. Wir führen kein Bordell für feine Pinkel, sondern führen ein ruhiges und respektables Leben.«
»Was ich tue, steht hier nicht zur Debatte.«
»Da bin ich anderer Ansicht. Schließlich kommen Sie hierher und beschuldigen mich der Unzucht mit Kindern. Gerade Ihr Lebenswandel berechtigt Sie in keinster Weise, andere Leute in den Dreck zu ziehen. Mit Ihrem üblen Gerede können Sie mich und meine Frau in Verruf bringen und uns unseres Lebensunterhalts berauben. Ihre Tochter ist eine Lügnerin.«
»Wagen Sie es nicht, meine Tochter zu beschimpfen! Sie haben ihr ihre Jungfräulichkeit geraubt. Sie Bastard!« fauchte Ia giftig.
Alf beugte sich vor, stemmte seine Hände auf die Lehnen des Sessels, in dem Ia saß, und sagte langsam und bedächtig: »Ich will Ihnen ein paar Dinge erklären. Erstens, Ihre Tochter lügt regelmäßig. Zweitens, Ihre Tochter stiehlt ...«
»Ach, Alf, sag das nicht. Wir wissen es nicht mit Sicherheit«, unterbrach ihn seine Frau und rang nervös die Hände.
Ihr Mann sprach unbeirrt weiter. »Sie stiehlt. Ihre Tochter hat ihre Jungfräulichkeit vor einem Jahr verloren, als sie elf war. Nicht ich habe sie entjungfert, sondern ein Junge aus der Nachbarschaft, Arnold Beam. Ich zweifle nicht daran, daß sie ihn verführt hat, wofür er die Prügel seines Lebens von seinem Vater bezog. Ich habe Ihre Tochter nie angerührt, kann aber nur ahnen, mit wie vielen Jungen sie es getrieben hat.«
Der Zorn verlieh Ia ungeahnte Kräfte: Sie schob den wuchtigen Mann beiseite, sprang auf und schrie die beiden außer sich vor Wut und Empörung an: »Ihr seid dreckige Lügner! Ich glaube meiner Tochter. Sie sind abgrundtief schlecht, Mr. Prendleby! Ich habe einflußreiche Freunde und werde dafür sorgen, daß Ihr Leben ruiniert wird.«
Ia machte auf dem Absatz kehrt und stapfte hinaus. Die Tür zur Küche stand offen, und sie sah etwa ein Dutzend sauber gekleidete und glücklich aussehende Kinder am reichlich gedeckten Tisch beim Frühstück sitzen.
Während der Heimfahrt kochte Ia vor Wut. Es hatte keinen Sinn, zur Polizei zu gehen, denn sie kannte die Einstellung der Männer, die gewiß eher dem ehrenwerten Mr. Prendleby als einem jungen Mädchen glauben würden. Aber sie würde einen Weg finden, um die Existenz dieses Scheusals zu zerstören.
Francine spähte ängstlich aus einem Fenster des Gartenhauses, als Ia zurückkam. Gwen hatte ihr ein sauberes Kleid gegeben, und sie hatte ausgiebig in Ias Wohnzimmer gefrühstückt.
»Tante Ia, ich habe dich gebeten, nicht zu diesen Leuten zu gehen«, klagte sie und warf sich in Ias Arme. »Sie haben bestimmt schreckliche Dinge über mich erzählt. Das sind Lügen, Tante Ia. Ich schwöre bei der Seele meiner Mutter, daß es Lügen sind.« Tränen strömten aus ihren großen grünen Augen. »Ich gehe nie wieder dorthin zurück.«
»Reg dich nicht auf, Francine. Ich habe kein Wort geglaubt. Ich weiß, daß du die Wahrheit sagst, weil du eine Blewett bist. Hab keine Angst. Ich kümmere mich um dich.«
»Dann darf ich also hierbleiben?«
»Nein, meine Liebe. Das ist unmöglich.« Beim Anblick von Francines verzweifeltem Gesicht verdammte Ia ihren Lebensstil, der es ihr verwehrte, ihrer Tochter ein anständiges Zuhause zu bieten. »Liebe Francine, es geht nicht, weil ...« Sie verstummte kurz und fügte dann hinzu: »Weißt du, mein ... Hotel ... ich bin so beschäftigt, daß ich nicht genügend Zeit für dich hätte.«
»Ich werde dir nicht im Weg sein, das verspreche ich dir.«
»Du wärst in dem kleinen Haus zu eingeengt. Es bietet kaum Platz genug für mich allein. Ich werde eine gute Schule für dich suchen ...«
»Ich will nicht zur Schule gehen. Ich hasse Schulen.«
»Laß mich ausreden, Francine. Ich will, daß du eine Schule besuchst, wo man dich zu einer richtigen Dame erzieht.«
»Eine Dame?« Francines Interesse schien geweckt zu sein. »Oh, Mann ...« sagte sie grinsend und fügte hastig hinzu: »Aber ich würde lieber bei dir bleiben, Tante Ia.« Dabei lächelte sie einschmeichelnd.
»Ach, meine liebe Francine, du bist bezaubernd.« Ia nahm ihre Tochter in die Arme und drückte sie fest an sich.