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Ia hatte endlich eine Entscheidung getroffen. Sie würde ihr Etablissement verkaufen. Es war schuldenfrei, außerdem besaß sie das Geld aus dem Verkauf von Gwenfer. Ihre Mittel reichten aus, um sich ein Haus auf dem Land, nicht in Cornwall, aber irgendwo am Meer, vielleicht in Devon, zu kaufen. Eine Rückkehr nach Cornwall war unmöglich. Ihre Sehnsucht, Alice wiederzusehen, könnte sich als zu stark erweisen. Sie wollte sich nach einem kleinen Geschäft umsehen. Es wäre doch interessant herauszufinden, ob sie daraus einen ebenso großen geschäftlichen Erfolg machen konnte wie aus dem Bordell. Gwen, ihre einzige Freundin, die ihr stets treu ergeben gewesen war, würde sie begleiten. Aber zuerst wollte sie Urlaub machen und nach Amerika reisen. Diese Idee gefiel ihr. Endlich würde sie dieses große Land kennenlernen – aber sie würde stilvoll in einer der besten Kabinen reisen, nicht im Zwischendeck, wie sie es als junges Mädchen geplant hatte.

Seit der Unterschrift für den Kaufvertrag von Gwenfer hatte sie viel an Alice gedacht. Zweifellos war Alice überglücklich, wieder in ihrer alten Heimat zu sein. Wie gern hätte sie Alice’ Gesicht gesehen, als Lincoln ihr erzählt hatte, daß Gwenfer wieder ihr gehörte. Wie hätte es ihr gefallen, bei Alice’ Heimkehr dabeizusein. Alice das Haus ihrer Ahnen zurückgegeben zu haben, erfüllte sie mit tiefer Zufriedenheit. Es war die schönste Tat ihres Lebens. Wahrscheinlich war Alice mittlerweile in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt und plante schon ihren nächsten Besuch auf Gwenfer.

Trotz ihrer Entscheidung, wegen Alice nicht in Cornwall leben zu können, beschäftigte sie ununterbrochen der Gedanke an ein Wiedersehen. Sie bedauerte nicht, Lincoln das Versprechen abgenommen zu haben, ihre Identität nicht zu enthüllen. Wie könnte Alice ihre ehemalige Freundin willkommen heißen, die eine Hure gewesen und jetzt Bordellwirtin war. Aber wenn sie ihr Etablissement verkauft hatte und Besitzerin eines respektablen Geschäfts war, sahen die Dinge anders aus. Dann konnte sie ihrer Freundin auf gleichem Niveau begegnen und ihr voller Stolz zeigen, daß sie trotz aller widrigen Umstände überlebt hatte. Ja, das war die Lösung: Sie mußte ihr Etablissement verkaufen.

Sie schaute zum Fenster hinaus. Es war ein eiskalter Novembertag. Nebel hing über der Stadt und bedeckte alles mit einem schmutziggrauen Schleier. Es war November gewesen, als sie in dieses Haus gekommen war, und seltsamerweise traf sie im November die Entscheidung, ihr Etablissement zu verkaufen. An einem Tag wie diesem wäre sie lieber zu Hause vor dem warmen Kaminfeuer geblieben, aber sie mußte ausgehen. Gwen hatte morgen Geburtstag, und sie wollte ihr etwas besonders Schönes kaufen. Bei der Gelegenheit würde sie sich auch bei Cooks nach den Schiffspassagen nach Amerika erkundigen. Morgen, wenn sie Gwen ihr Geschenk gab, würde sie ihr von dem neuen Leben erzählen, das sie plante.

Sie hüllte sich in ihren Pelzmantel, zog den Filzhut tief in die Stirn und machte sich auf den Weg nach Knightsbridge.

Alice wußte nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Aus den geplanten sechs Monaten in England waren neun geworden. Lincoln hatte schließlich ein Machtwort gesprochen und die Rückreise gebucht. Sie mußten vor Weihnachten nach New York zurückkehren, sonst würde er bankrott gehen. Gwenfer ist auch noch nächstes Jahr da, hatte er sie geneckt. Alice hatte ihre Abreise von Cornwall auf die letzte Minute verschoben, denn sie verließ ihre wiedergewonnene Heimat nur widerwillig. Eigentlich hätten sie schon vor einer Woche nach London fahren sollen und nicht erst gestern. Ihr blieb vor der Abreise nur noch ein Tag, um die Weihnachtseinkäufe zu erledigen, denn jeder ihrer Freunde in Amerika erwartete natürlich ein Geschenk aus England. Außerdem hatte sie eine Verabredung mit einem Privatdetektiv. Wiederholt hatte sie Lincoln gebeten, eine Agentur mit der Suche nach Ia zu beauftragen, aber er schien es immer wieder zu vergessen. Sie wollte vor ihrer Abreise die Suche in die Wege leiten und hoffte, bei ihrer Rückkehr nach England im folgenden Jahr etwas über Ias Verbleib zu erfahren.

Mit der quengelnden Grace im Schlepptau machte sie sich auf den Weg. Ihr waren die Geschäfte in Knightsbridge empfohlen worden.

Ia stieg aus dem Taxi. Als sie den Fahrer bezahlte, warf sie einen flüchtigen Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite. In dem grauen Nebel entdeckte sie eine Dame im Pelzmantel, die mit einem mißmutig aussehenden jungen Mädchen stritt. Wie sehr das Mädchen Francine ähnelt, dachte sie. Als der Taxifahrer ihr das Wechselgeld reichte, verdichtete sich der Nebel kurz und riß dann auf. Ia blickte auf. Die Frau wandte ihr kurz das Gesicht zu – es war Alice! Mit einer ungeduldigen Geste drückte sie dem erstaunten Taxifahrer die Münzen in die Hand.

»Warum nicht?« murmelte sie. Da sie beschlossen hatte, ihr Etablissement zu verkaufen, fühlte sie sich nicht mehr als Bordellwirtin. Es wäre dumm von ihr, sich diese Gelegenheit, mit Alice zu sprechen, entgehen zu lassen.

»Alice!« rief sie und lief auf die Straße.

Beim schrillen Klang der Autohupe drehte sich Alice um und sah eine in Pelz gehüllte Frauengestalt wie erstarrt mitten auf der Straße stehen. Alles geschah unheimlich schnell und lief doch wie in Zeitlupe ab. Ein Auto schleuderte über die eisige Straße, und Alice hob warnend die Hand, blieb aber wie diese Frau erstarrt stehen. Das Auto krachte seitlich in eine Pferdekutsche. Das Pferd scheute und machte einen Satz nach vorn. Die Kutsche wankte, kippte um, begrub die Frau unter sich und zerrte sie über die Straße, bis jemand das scheuende Pferd anhielt. Alice machte einen Schritt nach vorn, wollte zu der Frau eilen, um ihr zu helfen, doch dann dachte sie an Grace, die vor einem Schaufenster mit Süßigkeiten stand und den Unfall nicht bemerkt hatte. Alice legte ihr beschützend den Arm um die Schultern und versperrte ihr mit ihrem Körper den Blick auf den Unfallort. Hastig schob sie Grace in das Geschäft.

Eine Menschenmenge hatte sich um Ia versammelt. Ein Mann legte ihr seinen zusammengerollten Mantel unter den Kopf. Vorsichtig hoben ein paar Männer die Kutsche von ihrem zerschmetterten Körper. Ia lächelte und bedankte sich höflich. Warum liege ich hier mitten auf der Straße, dachte sie. »Alice«, sagte sie und wunderte sich über das Gefühl der Leichtigkeit, das sie davonzutragen schien.

»War jemand bei ihr?« fragte ein Mann. »Ist hier eine Alice?«

»Ich habe niemanden gesehen«, sagte der Taxifahrer. »Sie war allein in meinem Auto und hat auch mit niemandem gesprochen.«

»Sie ist einfach auf die Straße gelaufen, ich konnte ihr nicht ausweichen ... das Eis .. der Nebel ...« stammelte der Fahrer des Unglückswagens verzweifelt.

»Alice.« Der geliebte Name kam nur noch mühsam über Ias Lippen. »Alice«, krächzte sie. Blut lief aus ihrem Mundwinkel. Eine Frau kniete sich neben ihren Kopf und wischte das Blut ab. »Alice« murmelte sie wieder, aber niemand hörte den Namen, denn er klang wie ein Stöhnen. »Alice«, hauchte Ia, als sich die Finsternis des Todes über sie senkte.