Kapitel Zwei

Ein kalter Schauder durchzuckte Burt, als er auf die Freisprecheinrichtung neben seinem Bett starrte. Der Wählton hallte durch sein Schlafzimmer, aber als er auflegte, trat gespenstische Stille ein.

»Ich kann nicht fassen, dass ich gerade ein Gespräch mit dem Verteidigungsminister beendet habe«, murmelte er. Sein Herz pochte heftig in der Brust, während Adrenalin durch seinen Kreislauf raste.

Der Tablet-PC, den Burt versehentlich zu Boden gestoßen hatte, blinkte rot mit einem weiteren Alarm vom Jet Propulsion Lab.

Burt lehnte sich zur Seite, hob das Tablett auf und scrollte durch die lange Liste der eingehenden Warnungen.

Als das Telefon erneut klingelte, fuhr er vor Schreck beinah aus der Haut.

Sofort sprang der Anrufbeantworter an, und Burt hörte den verzweifelten Klang in Neetas aufgebrachter Stimme. Ihr britischer Akzent drang deutlicher als sonst durch. »Verdammt, geh ran! Du bist verflucht noch mal der Leiter von NEO, und hier geht alles drunter und drüber. Hanford hat gerade ...«

Mit einem Finger drückte Burt auf die Rufannahmetaste. »Neeta, mach dich fertig. Ich hol dich in zehn Minuten ab.«

* * *

Burt schnallte sich auf dem Flugzeugsitz gegenüber Neeta an. Sie trug einen rauchgrauen Rock und eine dazu passende Bluse, die ihren dunklen Teint wunderbar ergänzte. Obwohl sie den ganzen Weg von Pasadena bis zum Luftwaffenstützpunkt Edwards diskutiert hatten, wirkte sie gefasst und professionell.

»Neeta, mich beunruhigt nicht so sehr die Anzahl der Warnungen, die wir kriegen, sondern die Frage, warum wir sie plötzlich kriegen. Ganz ehrlich, beim ersten Bericht aus Hanford kam es mir noch lächerlich vor. Ich hab mich gefragt, ob sich unsere Systeme alle irgendwie einen Virus eingefangen haben. Es ist einfach so unwahrscheinlich. Was also bedeutet das alles?«

Wie Neeta nervös an ihrem langen, schwarzen Haar zupfte, das sie zu einem dicken Zopf zusammengebunden hatte, verriet ihren Gemütszustand. »Macht den Eindruck, als wäre das Universum verrückt geworden, oder?« Ihre überkorrekte Aussprache konnte nicht das nervöse Zittern in ihrer Stimme verbergen.

Burt nickte und starrte seine Stellvertreterin an. »Habt nicht ihr Briten das Konzept erfunden, nie die Fassung zu verlieren? Du und ich dürfen nicht vorgreifen. Wenn wir ruhig bleiben, begehen die anderen keine Fehler und wir auch nicht. Denn Fehler können wir uns nicht leisten, einverstanden?«

Neeta holte tief Luft und nickte.

Die Lichter in der Kabine wurden gedimmt, als der kleine Passagierjet zu rollen begann. Nur Sekunden verstrichen, bis Burt spürte, wie er gegen den Sitz gedrückt wurde, als sie vom Luftwaffenstützpunkt Edwards abhoben. Als der Jet nach Norden schwenkte, schaute Burt aus dem Fenster und sah unten eine endlose Reihe von Scheinwerfern. Er hatte sich eben erst selbst durch den morgendlichen Verkehr in Los Angeles gekämpft. Burt murmelte: »Wir haben 2066, haben Kolonien auf dem Mond und Multiple Sklerose geheilt. Trotzdem kriegen es die Stadtplaner von Los Angeles nicht hin, das Verkehrschaos um fünf Uhr morgens zu lösen – unglaublich.«

Ein 3D-Bild ihres Flugplans erschien auf Augenhöhe, als die Stimme des Piloten über die Lautsprecheranlage in die Kabine übertragen wurde. »Dr. Radcliffe, Dr. Patel, am Standort Hanford gibt es keine Landebahn, deshalb fliegen wir die Joint Base Lewis-McChord an. Wir haben jetzt 0530 und sollten in etwa zwei Stunden landen.

Von dort werden Sie per Helikopter zur Anlage in Hanford gebracht.

An der Westküste herrscht klares Wetter, es sollte ein ruhiger Flug werden.«

Die leuchtende Animation ihrer voraussichtlichen Route in den Bundesstaat Washington verschwand. Neeta umklammerte mit weißen hervortretenden Knöcheln die Armlehnen. In ihre Stimme schlich sich ein frustrierter Ton. »Es ist schwer zu glauben, was die Leute aus Hanford melden. Erscheint mir alles so zweifelhaft. Aber bei all den Daten, die sie uns übermittelt haben, kann doch kein Fehler vorliegen, oder? Die ganze Situation ist ...« Sie verstummte und holte tief Luft.

Burt fielen die Ohren zu, als sich das Flugzeug leicht neigte, und er schluckte kräftig, als er spürte, wie sich die Maschine einpendelte.

»Lass es uns durchdenken«, schlug Burt vor. »Wie kann es sein, dass wir plötzlich nicht einen, nicht zwei, sondern Hunderte von Gesteinsbrocken aus dem All haben, die vom Rand des Sonnensystems auf uns zurasen? Hast du eine Ahnung, warum wir das nicht kommen sehen haben?«

»Ich hätte es kommen sehen müssen .« Neeta schüttelte den Kopf und verfiel in einen stakkatoartigen Redeschwall. »Die meisten dieser Objekte bewegen sich mit ungeheurer Geschwindigkeit, und einige der kleineren könnte man leicht übersehen. Aber verdammt, eine der Warnungen betrifft ein Objekt mit einem Durchmesser von rund 160 Kilometern.«

»Neeta, wir sind beide nur so gut wie die Daten, die wir bekommen. Ich gebe dir keine Schuld, und du sollst auch keine Schuld auf dich nehmen. Ich kann mir bloß nicht erklären, wie etwas Derartiges so plötzlich passieren konnte.«

Mit einem tiefen, zittrigen Seufzen lehnte Neeta den Kopf an die Rückenlehne ihres Sitzes. »Bei der Geschwindigkeit, mit der das Zeug teilweise reist, bleiben uns nur etwa 300 Tage, bevor uns etwas von diesem Müll erreicht. Ich sage das nur ungern, aber es ist wahrscheinlich noch schlimmer, als wir denken. Denn bei der derzeitigen Entfernung können wir nicht wissen, mit wie vielen kleineren Objekten wir es zu tun bekommen. Selbst wenn wir DefenseNet sechs Monate vor dem Zeitplan in Betrieb nehmen, reicht das vielleicht nicht.«

Burt sah tief in Neetas besorgte braune Augen und seufzte. »Na ja, wir haben schon die Finanzierungszusage vom Verteidigungsminister, um den Einsatz von DefenseNet zu beschleunigen. Du hast doch mit unserer Mannschaft beim JPL gesprochen, richtig?«

»Ich habe sie auf Schiene gebracht«, bejahte Neeta. »Sie fangen sofort an, die DefenseNet-Laser zu testen. Aber mir bereitet Sorgen, was wir in Hanford herausfinden werden. Es kann kein Zufall sein, dass die Leute dort gerade jetzt, da wir all diese nahenden Objekte entdeckt haben, über eine Gravitationswellenstörung im gleichen Gebiet des Alls klagen.« Zittrig holte sie Luft. »Da draußen ist etwas. Ich mache mir Sorgen, dass ich irgendwie ...«

»Neeta, hör auf, dir die Schuld zu geben.« Burt schüttelte den Kopf. »In dieser Phase bringen Spekulationen nichts. Befassen wir uns lieber mit den vorliegenden Fakten. Immerhin fliegen wir deshalb zu dieser Anlage mitten im Nirgendwo. Es muss einen logischen Grund dafür geben, dass eine Trümmerwolke auf uns zukommt.« Burt lehnte sich auf dem Sitz zurück und schloss die Augen. »Ruh dich aus. Uns steht ein sehr langer Tag bevor.«

* * *

Es war fast Mittag, als Burt aus dem Hubschrauber stieg und die kahle, braune Umgebung auf sich wirken ließ. Als der Abwind der Rotorblätter Wolken der losen, bronzefarbenen Erde aufwirbelte, die diese Landschaft beherrschte, warf er einen Blick zu Neeta und deutete mit dem Kinn in Richtung des niedrigen, entfernten Gebäudes. Das elektrische Surren des Helikoptertriebwerks verstummte, als Neeta heraushopste. Sie nickte ihm zu, duckte sich und lief auf das Hauptgebäude des Laser Interferometry Gravitational Wave Observatory zu, auch als LIGO bekannt.

Während Neeta hineinging, um alles vorzubereiten, paffte Burt eine Zigarette und ließ den Blick über die fast 80 Quadratkilometer brauner Leere wandern, die Hanford im Bundesstaat Washington umgab. Dabei wünschte Burt, er würde nicht Last der Welt auf den Schultern spüren. In der Ferne patrouillierten Jeeps der Militärpolizei um die Ränder der unlängst abgeriegelten Anlage. Weitere Militärpolizisten bewachten jeden Eingang des Gebäudes. Vor vier Stunden war der Standort auf Anordnung des Verteidigungsministeriums geschlossen worden. Soldaten der Joint Base Lewis-McChord befanden sich auf dem Gelände des Observatoriums und setzten die Anordnung um.

Burt nahm einen letzten Zug, ließ die Zigarette fallen und malmte sie mit dem Absatz seines Cowboystiefels in den Kies. »Verdammt«, verfluchte er angesichts des qualmenden Stummels seinen Nikotindämon, der inmitten all der Anspannung ausgebrochen war.

Mit einem mürrischen Grunzen steuerte Burt auf das Waschbetongebäude zu. Am Eingang zeigte er dem schwer bewaffneten, in einen der üblichen Tarnanzüge gekleideten Soldaten seinen Ausweis.

Der Militärpolizist hielt Burts Ausweis mit starrem Blick auf Armeslänge und verglich das Bild mit seinem ausgezehrten Gesicht. Dann löste er einen mobilen Netzhautscanner von seinem Gürtel und hielt ihn vor Burts rechtes Auge. »Dr. Radcliffe, bitte stehen Sie still.«

Als gleich darauf eine grüne LED an dem Scanner aufleuchtete, nickte der Soldat. Er gab Burts Ausweis zurück und trat zur Seite. Burt ging an ihm vorbei in die stillen Gänge des Gebäudes, das den LIGO-Kontrollraum beherbergte. Nach seinem Gespräch mit dem Verteidigungsminister durfte nur ein Dutzend Personen die Anlage betreten, alles hochrangige Wissenschaftler mit Sicherheitsfreigaben für die höchste Geheimhaltungsstufe. Bisher hatte noch kein anderes Land sein Schweigen gebrochen, obwohl Burt wusste, dass Observatorien in Deutschland und Australien das gleiche Ereignis entdeckt hatten. Nach der Analyse der Daten würden sie alle zu denselben Schlussfolgerungen gelangen. Wenn die Öffentlichkeit davon erführe, würde auf den Straßen blankes Chaos ausbrechen.

Er ging durch die muffigen, beigen Hallen der Anlage in Hanford und bog in den Kontrollraum. Burt fühlte sich wie ein aus dem Winterschlaf gerissener Bär. Seine Stimmung verschlechterte sich zusätzlich, als ihm der penetrante Geruch von verbranntem Popcorn in die Nase stieg. Er schüttelte den Kopf, als er eine halb geöffnete Tüte sichtete, die neben einem uralten Mikrowellenherd auf der hinteren Arbeitsplatte lag. Verkohlte Maiskörner ergossen sich daraus.

Der zwölf mal sechs Meter große Raum ähnelte gespenstisch jenem, in dem er die letzten zehn Jahre beim Jet Propulsion Lab in Pasadena verbracht hatte. Statt der stillen, nervösen Energie, mit der er gerechnet hatte, fand er Neeta bei einer lautstarken Diskussion mit einem der Ingenieure über die Messwerte des Observatoriums vor.

»Was zum Teufel soll meinen Sie damit, dass Sie vor drei Monaten in dem Sektor einen Impuls gesehen und niemanden benachrichtigt haben?« Neetas Miene glich einer Gewitterwolke kurz vor der Entladung, als sie den LIGO-Ingenieur konfrontierte, der locker einen Kopf größer und weit mehr als doppelt so schwer wie sie war.

»Dr. Patel, ich glaube, Sie verstehen nicht.« Der Wissenschaftler wandte sich mit geröteten Wangen von Neetas bedrohlichem Blick ab, presste die Lippen zusammen und tippte verärgert auf der Tastatur des Terminals vor ihm. Nach einigen Sekunden deutete er auf den Hauptbildschirm an der Wand, der ein Signaldiagramm zeigte. Das Datum lag fast drei Monate zurück. »Wir haben vor 89 Tagen eine Gravitationsanomalie in derselben allgemeinen Richtung entdeckt. Aber laut unserem Protokoll haben wir niemanden verständigt, weil wir keine solide Bestätigung in den Messwerten der anderen Standorte bekommen konnten ...«

»Tja, dann ist Ihr Protokoll scheiße, Steve. Mir hätte man es sagen müssen. Ihnen ist doch klar, womit wir es zu tun haben, oder?«

Burt warf einen Blick auf das Abzeichen an Steves breiter Brust, erkannte den Namen und wusste, dass es sich um den leitenden Techniker der Anlage Hanford handelte. Er räusperte sich und wandte sich an den bedrängten Wissenschaftler. »Neeta hat recht, wir hätten benachrichtigt werden müssen. Warum konnten Sie die Messwerte nicht bestätigen?«

Steve drehte sich auf seinem Platz um und starrte Burt an, der sich auf einem der Drehstühle niederließ und ihn mit besorgter Miene musterte. »Direktor Radcliffe, wir konnten die Lage nicht allein mit unseren Messwerten bestätigen. Es war ein schwaches, kurzes Signal, in das wir kein allzu großes Vertrauen hatten. Der LIGO-Standort in Australien war zu dem Zeitpunkt offline für Reparaturarbeiten, und unsere Anlage in Livingstone hat nur ein Flimmern aufgeschnappt, das nicht stark genug war, um einen Treffer zu bestätigen. Bis heute Morgen um ungefähr 3:00 Uhr haben wir keine soliden neuen Messwerte aus dem Sektor erhalten.«

Neetas Augenbrauen zogen sich zusammen, als sich ihre Miene weiter verfinsterte. Als sie den Mund öffnete, hob Burt die Hand. Er wollte eine Diskussion verhindern, die, wie er fürchtete, in einen unproduktiven Streit mit dem örtlichen Personal ausarten würde. Neeta klappte den Mund zu und schäumte weiter vor sich hin. Burt griff sich ein Gummiband, das zufällig auf der Tischplatte in seiner Nähe lag. Er band sich das schulterlange Haar damit zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dabei war ihm durchaus bewusst, wie untypisch ein Pferdeschwanz, ein schlichtes Hemd, Cowboystiefel und Jeans für einen Mann in seiner Position waren. Aber obwohl er mittlerweile 50 Jahre alt war, betrachtete er sich immer noch als einen der Techniker.

»Hören Sie, Steve, was passiert ist, ist passiert.« Obwohl auch Burt das Verhalten der LIGO-Mitarbeiter frustrierte, musste er den Frieden bewahren. »Ich habe heute Morgen Ihre E-Mail bekommen. Deshalb sind Neeta und ich hier. Was haben Sie für uns?«

Der Ingenieur tippte angespannt auf ein paar Tasten am Terminal. Prompt zeigte einer der Monitore an der Wand eine Reihe von »Treffern«, die das Observatorium unlängst entdeckt hatte. »Direktor Radcliffe ...«

»Nennen Sie mich Burt.«

»Burt, LIGO hat im Lauf der Jahre Tausende Quellen von Gravitationswellen registriert. Wir erleben diese ungewöhnlichen Gravitationswellen nur dann, wenn große Massen rasant beschleunigen und eine Störung in der Raumzeit verursachen. Fast so, wie wenn ein Kieselstein einen ruhigen See fällt. Wir können die geringsten Wellen des Ereignisses erkennen und ...«

»Steve, ich habe das hier schon gemacht, lang bevor Sie Ihre erste Mathestunde hatten. Geben Sie mir einfach die technischen Details.«

Der Ingenieur blinzelte. »Entschuldigung, Sir. Äh, wie Sie ja wissen, entstehen die Gravitationswellen, die wir empfangen, in der Regel durch die Verschmelzung von Doppelsternsystemen, zum Beispiel bei der Kollision zweier Neutronensterne. Oder wenn Ströme von einem Stern um ein schwarzes Loch rotieren, fangen wir unter Umständen auch Hinweise auf. Ausbrüche von Gravitationswellen allerdings empfangen wir nicht oft. Tatsächlich sind uns im letzten Jahrzehnt nur etwa zehn untergekommen, und wir haben nie herausgefunden, was sie verursacht hat. Aber mit Stand heute Morgen 2:53 Uhr haben wir mehr als ein Dutzend Ausbrüche von Gravitationswellen registriert ...«

»Und Sie haben bei den anderen LIGO-Standorten nachgefragt und den Ursprung dieser Ausbrüche bestätigt?« Burt beugte sich vor und musterte das blasse Gesicht des Wissenschaftlers.

»Ja, Sir. Wir haben eine Triangulation mit den beiden anderen Standorten vorgenommen, uns auf den gleichen Quadranten im Raum konzentriert und ...« Er deutete mit dem Kopf in Neetas Richtung. »Auf Dr. Patels Vorschlag hin habe ich Kontakt mit der NASA aufgenommen. Man hat uns einen sicheren Kanal für die Nutzung der IXO-2-Satelliten zur Verfügung gestellt. Wir haben vollen Zugriff auf das Satellitennetz. Erst vor fünf Minuten habe ich Röntgendetektoren der Satelliten auf die Quelle der Gravitationswellen ausgerichtet.«

Steve tippte am Terminal auf einige Tasten. Der Hauptbildschirm an der Wand zeigte einen Laufzeitzähler. Abgesehen davon war er schwarz wie eine makellos saubere, altmodische Kreidetafel.

Burt lehnte sich zurück und starrte auf das leere Bild des 100-Zoll-Bildschirms. Neeta fragte in wesentlich ruhigerem Ton als zuvor: »Steve, wann haben Sie den letzten Gravitationswellenausbruch registriert?«

»Vor ungefähr 50 ...« Steve spähte zu einem Wandmonitor und zeigte auf das flackernde Licht einer Live-Videoübertragung zur Überwachung eines der Detektoren der Anlage. »Moment, der Laser ist gegenphasig!« Er sah sich im Raum um, als der Ausbruch der Aktivität auf allen Bildschirmen des Kontrollraums registriert wurde. »Wir kriegen gerade eine neue Reihe von Signalen!«

Burt stand auf, ging an den um das Computerterminal versammelten Technikern vorbei und starrte auf den Hauptbildschirm. Er warf einen Blick auf die Videoübertragung, die das Bild des Laserinterferometers auf dem Monitor ganz links an der Wand zeigte. Burt wusste, was das flackernde Licht in der Videoübertragung bedeutete: Die Anlage wurde von einer Gravitationsstörung getroffen, die einen der Arme des Laserinterferometers gegenphasig werden ließ.

Alle beobachteten atemlos, wie die verschiedenen Bildschirme flimmerten und sich aktualisierten. Einige Monitore zeigten die Intensität der Gravitationswellen an, einige die von den anderen LIGO-Standorten empfangenen Daten.

Burt konzentrierte sich auf den Hauptbildschirm. Die schwarze Leere darauf fesselte seine gesamte Aufmerksamkeit und ließ alles andere in den Hintergrund rücken.

Plötzlich erschien ein weißer Punkt.

Inmitten der Schwärze erwachte ein kleiner, heller Punkt zum Leben und ließ Burts Herz höher schlagen.

Er zeigte auf den Monitor und drehte sich den fünf Meter entfernt um Terminals gedrängten Wissenschaftlern zu. »Da! Ist das ein Treffer von den Röntgendetektoren?«

Steve hastete zu seiner Tastatur und gab eine Reihe von Befehlen in das Terminal ein. »Ich überprüfe es gerade, Sir ...«

Burt marschierte zu den versammelten Wissenschaftlern, als Rohdaten über den Bildschirm liefen. Neeta zeigte auf eine Spalte. »Da ist es«, rief sie. »Wir haben eine positive Identifizierung vom Röntgensatelliten.«

Burt starrte auf den einsamen Punkt auf dem schwarzen Monitor und wusste, was er vor sich hatte. Aber sie brauchten mehr Daten. Mehr Zeit.

Ein Ingenieur raste zu einem Abfalleimer. Gequälte Würgelaute hallten durch den Kontrollraum, als er sich des Mageninhalts entledigte. Alle im Raum waren hochqualifizierte Wissenschaftler, alle Experten auf ihrem jeweiligen Gebiet. Sie alle wussten, was sie gerade innerhalb der Grenzen ihres eigenen Sonnensystems entdeckt hatten.

Burt wischte sich nervösen Schweiß von der Stirn und verkündete: »Wir können nur auf weitere Signale warten. Wir müssen wissen, wie groß es ist – und die Flugbahn. Um zu berechnen, wie viel Zeit uns bleibt.«

»Sir?« Ein zitternder Ingenieur schaute zu ihm auf. »Was können wir tun?«

Die Kälte, die Burt verspürte, hatte nichts mit der klimatisierten Luft zu tun. Es fühlte sich vielmehr an, als würde der Sensenmann die unbarmherzige Hand nach einem Opfer ausstrecken. Burt kannte die Konsequenzen ihrer Entdeckung. Röntgenstrahlen entstanden in der Regel nur bei Ereignissen mit extrem hohen Temperaturen. Durch unvorstellbar starke Gravitationsfelder erhitztes Material stellte die Hauptursache für solche Emissionen dar.

»Konzentrieren wir uns darauf, mehr Daten zu beschaffen. Wir wissen noch nicht mal, in welche Richtung es unterwegs ist.« Burt seufzte, ließ sich auf den nächstbesten Stuhl plumpsen und wartete. Etwas anderes konnten sie alle nicht tun.

Er betete, dass die Ursache der Röntgenstrahlen nicht auf sie zusteuerte. Es war eine Sache, dass sich DefenseNet mit Asteroiden auseinandersetzen sollte. Dafür gab es Möglichkeiten, wenn genug Zeit zur Verfügung stand. Sogar gegen mondgroße Objekte ließ sich theoretisch etwas unternehmen. Er schaute zu dem grellen Punkt auf, der einen Kontrast zur Schwärze des Bildschirms bildete, und seine Brust zog sich vor Sorge zusammen.

Während Burt wartete, verriet ihm sein Bauchgefühl, dass er gerade das Ende der Menschheit vor sich hatte. Sie würden alle von dem unstillbaren Hunger verschlungen werden, der aus einem interstellaren Strudel des Todes entsprang.

Aus einem schwarzen Loch.

* * *

Mehrere Stunden waren vergangen. Burt lief in einem der muffigen Gänge der LIGO-Anlage auf und ab und versuchte, den Kopf frei zu bekommen. Die bestätigte Existenz eines schwarzen Lochs innerhalb des Sonnensystems erklärte Vieles. In der Regel rotierten schwarze Löcher mit unvorstellbarer Geschwindigkeit. Die meisten Menschen hielten sie für gefräßige Weltraumstaubsauger, die alles in Sichtweite verschlangen. Nur die wenigsten wussten, dass schwarze Löcher dabei sehr schlampig vorgingen.

Manchmal schleuderte die Verdrehung der Schwerkraft um das schwarze Loch auch etwas weg wie ein Kleinkind ungeliebte Erbsensuppe.

Burts Magen brodelte, während er über die Möglichkeiten nachdachte.

»Beten wir einfach, dass es an uns vorbeischrammt«, murmelte er vor sich hin. »Dann haben wir vielleicht eine Chance.«

Er erstarrte, als er Neetas Stimme aus einem der nahen Büros dringen hörte. »Ma, es geht mir gut. Ich wollte nur deine Stimme hören. Gib Dad ’ne Umarmung von mir.«

»Prinzessin?« Eine Männerstimme ertönte aus der Freisprecheinrichtung im Büro. »Es ist ewig her, dass wir dich zuletzt gesehen haben. Geht’s dir gut? Hat dir ein Junge das Herz gebrochen?« Der Mann lachte verhalten.

»Dad, ich bin 37. Ich hab an niemanden mein Herz verloren, also konnte es auch niemand brechen. Ich bin sozusagen mit der Arbeit verheiratet, und das weißt du.«

Burt verspürte einen Anflug von Schuldgefühlen, als er sich dabei ertappte, dass er Neetas Privatgespräch aufmerksam belauschte. Sie sprach nie über etwas anderes als die Arbeit. Deshalb empfand er die Vorstellung als seltsam, dass sie tatsächlich eine Familie hatte.

»Mäuschen, dann ist es vielleicht an der Zeit, dass du mich dir bei der Suche nach einem geeigneten Ehemann helfen lässt ...«

»Rajesh Patel!«, rief eine Frauenstimme im Hintergrund. »Hör auf, unsere Tochter zu bedrängen. Sie wird jemanden finden und uns Enkelkinder schenken, wenn sie bereit dazu ist.«

»Dad, ich hab dich lieb, aber ich muss jetzt auflegen. Umarmt euch, und wenn ihr länger nichts von mir hört, sollt ihr wissen, dass ich gerade bei der Arbeit ziemlich eingespannt bin. Ich hab euch beide lieb.«

»Wir dich auch, Püppchen.« Die Stimme ihrer Mutter überwand herzlich eine Entfernung von Tausenden Kilometern.

Das Hintergrundrauschen der Verbindung verstummte. Fast sofort kam Neeta aus dem Büro und japste vor Überraschung, als sie Burt im Flur stehen sah.

Schnell wischte sie sich Tränen aus dem Gesicht. Burt starrte sie an. Er konnte sich nicht erinnern, je diese Seite der Frau kennengelernt zu haben.

Er ignorierte die Tränen und fragte: »Lust auf einen Kaffee mit mir?«

Neeta nickte. Burt wandte sich ab und steuerte auf den Pausenraum zu.

* * *

Burt starrte auf den großen mittleren Bildschirm im Kontrollraum und seufzte. Fast 100 Punkte leuchteten darauf, alle um den Rand eines dunklen Kreises. Jeder Punkt stellte den letzten Atemzug eines Objekts dar, das die gewaltigen Kräfte des schwarzen Lochs erhitzten und in subatomare Teilchen zerrissen, bevor es verschluckt wurde.

Er richtete einen roten Laserpointer auf die Ränder des Kreises und warf einen Blick zu dem totenblassen Techniker, der den Platz am Terminal übernommen hatte. »Geben Sie mir eine Breite. Womit haben wir es zu tun?«

Burt schloss die Augen und lauschte dem Klopfen auf die Tasten und der zitternden Stimme des Ingenieurs, der verkündete: »Sir, der Durchmesser des Ereignishorizonts scheint ungefähr drei Kilometer zu betragen.«

Die gemeldete Größe überraschte Burt. Vor über 100 Jahren hatten drei berühmte Physiker die Tolman-Oppenheimer-Volkoff-Grenze festgelegt, kurz TOV-Grenze. Sie gab die obere Schranke für die Masse eines Neutronensterns vor. Als er eine Überschlagsrechnung im Kopf anstellte, wusste er genau, womit sie konfrontiert waren. »Also, wenn das mal nicht interessant ist. Wir haben es mit einem drei Kilometer breiten Riss in der Struktur des Raums zu tun.«

Ein Wissenschaftler mittleren Alters mit einem Schopf leuchtend roter Haare fragte: »Aber, Sir, wie ist das möglich? Das liegt unter der TOV-Grenze, richtig?«

Burt nickte. »Etwa die Hälfte einer Sonnenmasse, wenn meine Kopfrechnung richtig ist.«

Er warf Neeta einen Blick zu, die verkniffen nickte. »Bestätigt.«

Plötzlich vibrierte das altmodische Handy in seiner Tasche. Er zog es heraus und warf einen Blick auf den Namen: sein Bruder. »Das ist eindeutig ein ungünstiger Zeitpunkt«, murmelte er, als er das Telefon wieder in der Tasche verschwinden ließ.

Dann schaute er auf und wandte sich an die Anwesenden. »Eine halbe Sonnenmasse, ja? Das würde erklären, warum es bis jetzt niemand entdeckt hat. Durch den minimalen Gravitationslinseneffekt haben wir keinen visuellen Hinweis erhalten. Dadurch konnte es sich gewissermaßen an uns ›anpirschen‹. Wir haben es eindeutig mit einem urzeitlichen schwarzen Loch zu tun. Etwas, das geboren wurde, als das Universum noch in den Kinderschuhen gesteckt hat. In einer Zeit, in der die Temperaturen und Drücke die Entstehung solcher Phänomene noch zugelassen haben. Es ist weder anders noch ungefährlicher als die schwarzen Löcher, über die wir alle in der Schule gelernt haben. Ich nehme an, wir haben hier etwas ... Erstmaliges entdeckt. Oder besser gesagt, es hat uns entdeckt.«

Als Burt zum Bildschirm schaute, wusste er, dass die Satelliten beim Erscheinen jedes einzelnen Punkts dessen Position registrieren würden. »Haben die Computer schon eine bestätigte Flugbahn berechnet? Haben wir eine Geschwindigkeit?«

Der Techniker am Terminal starrte mit offenem Mund auf den Bildschirm, als die Daten darüber liefen. Er wirkte wie erstarrt, also schob Neeta ihn beiseite und übernahm das Kommando.

»Wir haben eine bestätigte Flugbahn«, sagte sie. »Es bewegt sich auf das Zentrum der Galaxis zu.« Neeta gab hastig einen neuen Satz von Befehlen ein, und ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. »Ich fürchte, wir liegen direkt auf seinem Weg.«

Diese Äußerung besiegelte das Schicksal der Welt, wie Burt wusste.

Eine tödliche Ruhe senkte sich über ihn. Es war, als dämpfte ein Leichentuch jegliche Emotionen, die er empfinden sollte. Leise fragte er: »Wie lange haben wir noch?«

»Direktor Radcliffe, bei der derzeitigen Geschwindigkeit und Flugbahn bleiben uns 345 Tage, bis das schwarze Loch unsere Umlaufbahn kreuzt.«

»Starten Sie einen Countdown. E-Minus 345 Tage.« Seine Äußerung kam praktisch einem Countdown zum Ende der Menschheit gleich. Mit verbittertem Pflichtgefühl erhob sich Burt und gab Neeta ein Zeichen. »Ich werde dich brauchen. Das müssen wir der aktuellen Regierung in Washington von Angesicht zu Angesicht sagen. Die werden nach Eventualitäten fragen.« Er zeigte auf die anderen Techniker und schnippte mit den Fingern. »Niemand verliert außerhalb dieses Raums ein Wort darüber. Sie überwachen das Geschehen und geben mir unverzüglich Bescheid, wenn sich etwas ändert.«

Neeta kam mit einem verwirrten Ausdruck im Gesicht auf ihn zu. »Eventualitäten?«, flüsterte sie. »Das versteh ich nicht. Was für Eventualitäten?«

Das Konzept war geradezu lächerlich. Selbst wenn es dem Leben auf der Erde irgendwie gelänge, den Ansturm von etlichen Killer-Asteroiden zu überstehen, konnte nichts überleben, wenn das schwarze Loch durch die Erdumlaufbahn raste.

»Keine Sorge«, sagte Burt. »Ich übernehme den Großteil des Redens.« Als er die Tür des Kontrollraums öffnete, warf er Neeta über die Schulter einen Blick zu. »Wir werden gleich der Präsidentin der Vereinigten Staaten mitteilen, dass wir alle kein Jahr mehr zu leben haben.«