Als Burt und Neeta auf der Joint Base Andrews Naval Air Facility landeten, teilte ihnen ein Agent des Secret Service einen Dienstwagen zu. Er erklärte ihnen die Sicherheitsverfahren und gab Burt klare Anweisungen, wie man die Programmierung des Navigationssystems so aktivierte, dass es sie zum privaten Eingang des Weißen Hauses lotsen würde. Der SUV roch nach neuem Leder, und als Burt auf die Batterieanzeige blickte, stellte er fest, dass der Wagen kaum noch Ladung übrig hatte. Als die Sonne durch die Wolken lugte, hoffte er, der Solarlack würde genug Energie absorbieren, damit die Batterien bis zum Zielort hielten.
Burt folgte der vorprogrammierten Route im Navigationssystem und schnaubte ungeduldig, als er den stockenden Verkehr auf der I-395 sah. Sie kamen kaum noch voran, und die an sich 20-minütige Fahrt würde erheblich länger dauern.
Er schaute zu Neeta, eine zierliche Gestalt, die in dem riesigen Beifahrersitz aus Leder beinah versank. »Ist der Verkehr in London auch so übel?«
Sie schüttelte den Kopf und winkte mit einer wegwerfenden Geste in Richtung der Bremslichter unmittelbar vor ihnen. »Als ich alt genug war, um den Führerschein zu machen, hatte das Parlament bereits beschlossen, dass jedes Auto ein AVR-System haben muss. Und das ohne die paranoiden Einstellungen, die man in den USA verwendet. Bei mir zu Hause vertrauen wir tatsächlich unseren Computersystemen.«
»Automatische Fahrzeugleitsysteme.« Verächtlich verzog Burt die Lippen. »So, wie wir das umgesetzt haben, nervt es mehr, als es bringt.«
Neeta legte den Kopf schief und starrte Burt an. »Lass mich gar nicht erst anfangen. Verdammt, AVR wurde in den USA erfunden und vor fast 30 Jahren überall auf den britischen Inseln eingesetzt. Man sollte meinen, dass es hier verbreiteter wäre.«
Burt zuckte mit den Schultern. »Ich bin altmodisch und kann der Technik bisher nichts Nützliches abgewinnen. Außerdem hat man uns versprochen, damit würden unsere Verkehrsprobleme gelöst. Und jetzt sieh dir nach fünf Jahren im Einsatz das an.« Er deutete auf die Autos vor ihnen, die kaum vorankrochen.
»Das liegt daran, dass die Technik mit paranoiden Regeln eingesetzt wird, die unnötig große Abstände vorsehen. Ich meine, mal im Ernst – Computer erzielen wesentlich bessere Reaktionszeiten als wir. Euer System hier ist völlig verrückt.«
Als Burt nach vorn schaute, musste er sich eingestehen, dass Neeta vielleicht recht haben könnte. Alle Autos auf der Straße hielten den vorgeschriebenen Abstand von zweieinhalb Fahrzeuglängen ein. Burt stellte sich vor, dass irgendwo irgendjemand vielleicht dachte, es wäre eine hübsche Luftbildaufnahme, wenn alle Fahrzeuge so ordentlich aufgereiht wurden. Aber eine solche Pingeligkeit schuf eine eigene Reihe von Problemen, wozu der Verkehrsfluss gehörte.
Das Handy in Burts Tasche vibrierte. Aus einem Lautsprecher im Auto tönte: »Eingehender Anruf. Carl Radcliffe. Annehmen? Ja oder nein.«
Burt seufzte und warf Neeta einen Blick zu. »Macht’s dir was aus? Er hat es vorhin schon mal versucht, und ich hab ihn abgewiesen.«
»Besser jetzt, als wenn wir gerade mit der Präsidentin reden.« Neeta wirkte amüsiert.
»Ja.« Burt sprach mit Nachdruck in die Telefonanlage des Autos. Die Geräusche lachender Kinder im Hintergrund erfüllten den SUV.
»Burt, bist du dran?«
»Hi, Carl, was gibt’s?«
»Äh, die Zwillinge haben Geburtstag, und sie fragen andauernd, wann Onkel Burt auftaucht.«
Burt zuckte zusammen und verspürte einen Anflug tiefempfundener Schuldgefühle. Neeta starrte ihn mit einem plötzlich unergründlichen Gesichtsausdruck an. Es war der erste Geburtstag, den er seit der Geburt der Jungen vor sechs Jahren verpasste. »Verdammt, Carl, es tut mir so leid. Tatsächlich bin ich gerade nicht in der Stadt. Ich hätte ...«
»Oh. Tja, Mist, aber ich versteh das schon. Du, Jenny und ich haben das Haus voll mit Sechs- und Siebenjährigen, die rumrennen und Chaos anrichten.«
»Scheiße, Carl, es tut mir leid ...«
»Nein, passt schon. Mach, was du zu erledigen hast, und zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Ich erklär den Jungs, dass du’s wiedergutmachst. Oh Kacke, da hat gerade jemand überall Punsch verschüttet. Ich muss auflegen.«
»Alles Gute zum ...«
Als der Anruf abrupt beendet wurde, tauchte vor Burts geistigem Auge das Bild der enttäuschten Gesichter seiner Neffen auf. Er schluckte den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte.
»Du wärst ein guter Vater«, merkte Neeta an, während sie Burt eindringlich musterte.
Er schüttelte langsam den Kopf und seufzte. »Diese Jungs kommen dem sehr nah, was ich mir unter eigenen Kindern vorstellen könnte.«
»Steht mir vielleicht nicht zu, das zu fragen, aber warum bist du nicht verheiratet und hast keine Kinder?«
Das Auto rückte im Schneckentempo mit dem kriechenden Verkehr vor.
Mit einem tiefen Atemzug grub Burt schmerzhafte Erinnerungen aus, über die er seit 20 Jahren nicht mehr gesprochen hatte. »Ich war verheiratet. Aber meine Frau ist an einer aggressiven Form von Brustkrebs gestorben. Die Diagnose bekam sie zwei Monate nach unserer Heirat. Sechs Monate später war sie tot.«
Neeta schnappte nach Luft und bedeckte mit der Hand den Mund. »Oh Burt, das tut mir so leid.«
Er schüttelte den Kopf. »Ist lange her, und seitdem hab ich mich gewissermaßen in die Arbeit gestürzt. Was die Sache mit den Kindern betrifft, tut’s mir irgendwie leid, dass ich kein Vermächtnis hinterlassen kann, wenn ich nicht mehr da bin. Und darum geht’s doch bei Kindern, oder? Um eine Möglichkeit, ein kleines Stück von sich selbst weiterleben zu lassen.« Seine Gedanken wanderten zu seinen Neffen, dann sah er Neeta an und lächelte. »Da wir so kurz vor dem Ende von allem stehen, könnte ich dich wohl dasselbe fragen. Warum hast du nicht geheiratet und dir eigene kleine Vermächtnisse geschaffen?«
Neeta schnaubte. »Soll das ein Scherz sein? Sogar ich weiß, was für eine Zicke ich sein kann. Wer würde sich das antun wollen?«
»Ha!« Burt lachte. »Du bist nicht annähernd so zickig, wie du dich darstellst.« Er richtete die Aufmerksamkeit auf den Verkehr vor ihnen und brummte. »Wie auch immer, in diesem Stau festzusitzen, bringt uns nicht weiter.«
Er hielt den Knopf für die manuelle Notsteuerung gedrückt. Neetas Stimme schwoll schrill an. »Was zum Geier hast du vor?«
Mit einem schiefen Grinsen lenkte Burt von der I-395, nahm die Ausfahrt Maine Avenue und trat aufs Gaspedal. »Dir zeigen, wie man das früher mal gemacht hat. Außerdem müssen wir noch zu unseren Lebzeiten ankommen.«
Neeta kreischte, stemmte die Hände gegen das Armaturenbrett und vergrub den Kopf zwischen den Knien.
Burt lachte. »Neeta, ich schwör dir, es passiert nichts. Und ehrlich, wie kann dich das aus der Fassung bringen, der Verkehr in London hingegen nicht? Ich kann dir sagen, als ich gesehen hab, wie alle Ampeln gleichzeitig grün wurden und Hunderte Autos mit fast 100 Sachen über die Kreuzungen gerast sind, hätte ich mir fast in die Hose gekackt.«
»Ja, aber das läuft alles computergesteuert. Ich vertraue darauf, dass die Rechner Autos unfallfrei umeinander herummanövrieren können. Allerdings kann ich nicht behaupten, dass sich dasselbe Maß an Vertrauen auf deine Fahrkünste erstreckt.« Neeta ließ den Kopf unten und weigerte sich, während ihrer gedämpften Erwiderung aufzuschauen.
Sie so aufrichtig verängstigt zu sehen, berührte etwas in Burt. Er streckte die Hand aus und klopfte ihr auf die Schulter. »Es passiert nichts ...«
»Lass verdammt noch mal die Hände am Lenkrad!«
Er lächelte und konzentrierte sich auf die Straße. »Vergiss nicht, das AVR-System hat uns immer noch auf dem Schirm. Selbst wenn ich Mist baue, weichen uns die anderen Autos aus. Uns passiert nichts.«
* * *
Später folgten sie Driscoll Matthews, dem nationalen Sicherheitsberater, durch einen hell beleuchteten Flur zum Lagebesprechungsraum unter dem Westflügel des Weißen Hauses. Dabei fiel Burt auf, wie Neeta nervös die Hände rang. Woraus er ihr keinen Vorwurf machen konnte. Besäße Burt nur einen Funken Vernunft, wäre er selbst nervös. Er beugte sich Neeta zu und erinnerte sie flüsternd: »Falls du etwas gefragt wirst, halt dich einfach an harte Fakten und gib keine eigene Meinung ab, es sei denn, du wirst dazu aufgefordert. Du solltest nichts sagen, was du nicht untermauern kannst.«
Neeta sah ihn mit mürrischer Miene an. »Oh Mann, schönen Dank auch.«
Ihr dunkler Teint hatte einen grünlichen Ton angenommen. Burt hoffte, dass es sich nur um einen Trick des Lichts handelte.
Driscoll blieb stehen. Burts Blick fiel auf die konservative rote Krawatte des Mannes, die einen Kontrast zu dem schwarzen Nadelstreifenanzug und den auf Hochglanz polierten Lederschuhen bildete.
Plötzlich wurde Burt bewusst, wie unzulänglich er selbst gekleidet war. Er hatte am Vortag sein Jackett zu Hause vergessen und keine Gelegenheit gehabt, vor dem Flug quer durchs Land nach Washington, D. C. noch irgendetwas zu packen. Er hatte es gerade noch geschafft, sich von einem Mitarbeiter im Weißen Haus eine hässliche Paisley-Krawatte zu leihen, und er versuchte bewusst, zu ignorieren, dass er immer noch Jeans und Cowboystiefel trug.
Der nationale Sicherheitsberater deutete auf einen auffälligen Korb auf der langen Anrichte, die sich durch den gesamten Korridor erstreckte. »Bitte legen Sie Ihre Mobiltelefone und sonstigen elektronischen Geräte in den Korb. Sie dürfen nicht in den Lagebesprechungsraum.«
Burt kramte in der Tasche nach seinem altmodischen Touchscreen-Handy, während Neeta behutsam ihr In-Ear-Telefon aus dem Ohr zog und in den Korb legte.
Als Burt sein Handy ebenfalls im Korb platzierte, fragte Driscoll: »Sind Sie bereit?«
Burt warf Neeta einen Blick zu. Obwohl ihr immer noch übel vor Nervosität zu sein schien, nickte er Driscoll knapp zu.
Der nationale Sicherheitsberater ging ein paar Schritte weiter und öffnete eine holzgetäfelte Tür am Ende des Flurs. Zum Vorschein kam ein großer Raum. »Direktor Radcliffe, Dr. Patel, willkommen im Lagebesprechungsraum des Weißen Hauses. Nehmen Sie am Tisch Platz. Die Präsidentin sollte jeden Moment hier sein.«
Im Raum roch es leicht nach Holzpolitur und Leder. Burt bemerkte auf Anhieb eine Handvoll Leute, die bereits an dem langen Konferenztisch aus Holz saßen, der die Mitte des Raums beherrschte. Fernsehbildschirme säumten die Wände zwischen willkürlichen Fotos von historischen Ereignissen. Burt bemerkte, dass sich auf dem Tisch vor jedem der zwölf schwarzen Lederstühle eine schwarze Unterlage befand. Auf jeder Unterlage stand ein beidseits mit dem Namen und dem Titel einer Person bedrucktes, längs gefaltetes Kartontäfelchen. Burt erkannte niemanden am Konferenztisch, aber zum Glück würden die vorgedruckten Namen dabei helfen, Peinlichkeiten zu vermeiden. Er führte Neeta zu den ihnen zugewiesenen Plätzen, zog ihr den Stuhl heraus und ließ sich neben ihr ein nieder, während weitere Personen den Raum betraten.
Jemand hinter Burt schniefte laut. Als er sich umdrehte, sah er Greg Hildebrand steif vorbeigehen; der penetrante Geruch von Eau de Cologne kitzelte die Härchen in Burts Nase. Greg blieb stehen, legte Neeta die Hand auf die Schulter und sagte mit einer nasalen Stimme, die Burt an Templeton erinnerte, die Ratte aus dem alten Cartoon Wilbur und Charlotte : »Patel, wie ich höre, ist die Kacke am Dampfen, und wir haben es dir zu verdanken.«
Neeta verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Greg, du hattest schon immer eine so bezaubernde Art, dich auszudrücken. Offensichtlich ist Einiges so aus dem Lot geraten, dass man Experten hinzuzieht. Aber deswegen bist du bestimmt nicht hier.«
Greg schniefte verächtlich, als er zum hinteren Ende des Tischs ging. Er ließ sich unmittelbar rechts des Platzes nieder, den die Präsidentin einnehmen würde.
Neeta warf Burt einen Blick zu und flüsterte: »Was macht der denn hier?«
Burt lehnte sich näher zu ihr, bedeckte halb mit der Hand den Mund und flüsterte zurück: »Er ist der wissenschaftliche Hauptberater der Präsidentin und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats. Ich gehe davon aus, dass sich die Präsidentin von ihm eine zweite Meinung einholen wird. Abgesehen von ihm scheint es sich bei den meisten anderen um Militärs aus dem Generalstab und den Verteidigungsminister zu handeln. Ein paar sehen auch aus, als wären sie vom nationalen Sicherheitsrat.«
»Ich hatte eine höhere Meinung von der Präsidentin, bevor du das gerade gesagt hast.« Neeta schnaubte missbilligend.
»Benimm dich«, warnte Burt. Neeta mochte klein sein, aber sie glich einer Bulldogge und hatte eine sehr geringe Toleranzschwelle für die Dummheit anderer. Er schaute zum Foto der Präsidentin, das am hinteren Ende des Raums hing. Obwohl er persönlich ihre Ansichten nicht teilte, konnte er nicht umhin zu bewundern, was sie im relativ jungen Alter von 53 Jahren bereits geleistet hatte. Ursprünglich erlangte Margaret Hager Berühmtheit, indem sie die erste Frau wurde, die je ein Angriffsteam der Special Forces geleitet hatte. Nach dem Ausscheiden aus der Armee war sie zu einem Star der politischen Szene geworden. Und mittlerweile verkörperte sie als Präsidentin das Oberhaupt der mächtigsten Nation des Planeten.
Eines Planeten kurz vor der Vernichtung.
Plötzlich öffnete sich eine Tür auf der anderen Seite des Raums. Eine tiefe Stimme ergriff das Wort: »Bitte erheben Sie sich. Margaret Hager, Präsidentin der Vereinigten Staaten von ...«
»Verzichten wir auf die Formalitäten«, unterbrach Hagers energische und doch feminine Stimme den Zeremonienmeister. »Soweit ich weiß, haben wir keine Zeit für solchen Mist.«
Ein Lächeln breitete sich auf Burts Gesicht aus, als die fast 1,80 Meter große Blondine ungeduldig wartete, dass alle Platz nahmen.
»Na schön, irgendjemand soll mir die ungeschminkte Wahrheit sagen. Womit haben wir es zu tun?«
Burt räusperte sich und stand auf. »Madam President, ich will versuchen, mich kurz zu fassen ...«
* * *
Durch das dunkel gemaserte Walnussholz des Konferenztischs nahmen auch die haselnussbraunen Augen der Präsidentin eine dunklere Schattierung an. Burt konnte sich mühelos vorstellen, wie Präsidentin Hager einer Truppe von Soldaten barsch Befehle erteilte. Das war keine Frau, mit der man es sich verscherzen wollte. Mit grimmigem Gesichtsausdruck fasste sie zusammen, was Burt in den letzten fünf Minuten erklärt hatte.
»Sie sagen also, wenn es uns durch irgendein Wunder gelingt, den auf uns zukommenden Asteroiden zu entgehen oder sie zu sprengen, sind wir trotzdem erledigt. Weil sich ein winziges schwarzes Loch direkt auf uns zubewegt.«
»Das schwarze Loch mag klein sein, aber es hat fast die Hälfte der Masse unserer Sonne«, stellte Burt klar. »Die Gravitationsstörungen werden uns mit ziemlicher Sicherheit auseinanderreißen. Aber selbst wenn nicht, stürzt es das gesamte Sonnensystem in ein heilloses Chaos, wenn es durch die Sonne pflügt. Die Kollision und die daraus resultierende Explosion würden uns definitiv auslöschen.«
»Na wunderbar, dann sind wir sozusagen doppelt angeschissen.« Die Präsidentin blickte nach rechts. »Hildebrand, haben Sie dazu irgendwas zu sagen?«
Greg Hildebrand schaute mürrisch drein, als er seine Krawatte zurechtrückte. Er hatte die Seiten von Burts und Neetas Bericht durchgeblättert, bevor er sich der Präsidentin zuwandte. »Ich ... Auf der Grundlage des Berichts von Dr. Radcliffe und Dr. Patel sowie unabhängiger Bestätigungen, die ich erst in der letzten Stunde vor dieser Besprechung erhalten habe, fürchte ich, dass wenig unternommen werden kann. Das Objekt, das auf uns zukommt, kann weder abgelenkt noch bewegt oder zerstört werden. Dieses Ereignis übersteigt alles, was wir uns je hätten vorstellen können ...«
»Das ist Blödsinn, und das weißt du auch, Greg«, platzte Neeta knurrend heraus. Ihre Nasenflügel blähten sich, als ihr Blick Dolche auf ihn abfeuerte.
Burt zischte: »Neeta!«
Greg starrte genauso finster zurück zu Neeta, und bevor die Lage eskalieren konnte, hob die Präsidentin die Hand in Richtung ihres wissenschaftlichen Beraters, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ihr Blick verlagerte sich auf Neeta. »Erklären Sie mir das.«
Burt sah Neeta mit großen Augen an und beobachtete, wie sie aufstand und sich räusperte. Er hatte keine Ahnung, was sie sagen würde, und das jagte ihm eine Heidenangst ein.
»Madam President«, begann sie, »ich weiß zufällig, dass jemanden fast ein Jahrzehnt lang etwas über diese drohende Katastrophe gewusst hat. Und Ihr wissenschaftlicher Berater war maßgeblich daran beteiligt, den Mann zum Schweigen zu bringen und bei der ISF abzusägen.«
»Neeta, das ist eine völlig falsche Darstellung davon, was tatsächlich passiert ist!« Greg stand auf und lehnte sich über den Tisch. »Holmes hat sich Blödsinn ausgedacht und zugegeben, dass er Informationen mit dem obersten Führer Nordkoreas ausgetauscht hat. Er hat Billionen des ISF-Budgets für einen Haufen Wahnvorstellungen verschleudert.«
Neeta stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte mit einem zutiefst angewiderten Gesichtsausdruck den Kopf. »Das ist ja echt unglaublich. Abermillionen von Spermien, und du bist das Beste, was dein Vater hervorbringen konnte? Erbärmlich.«
»Na schön, das reicht.« Die Präsidentin zeigte auf Greg und Neeta. »Kennen Sie beide sich? Falls ja, lassen Sie diesen persönlichen Quatsch beiseite und sagen Sie mir, wovon Sie reden.«
Neeta löste den finsteren Blick von Greg und konzentrierte sich auf die Präsidentin. »Entschuldigung, Madam President. Ja, wir kennen uns. Wir waren beide an der Caltech. Ich habe als Zweitbeste meines Jahrgangs abgeschlossen. Greg ist mir lebhaft in Erinnerung geblieben. Er hat mich in den Wahnsinn getrieben, weil er mich ständig um Hilfe bei seinen Kursen gebeten hat. Sagen wir so: Er hat nie ganz verkraftet, dass ich viel besser war als er. Und besonders hat er Dave Holmes gehasst, der als Jahrgangsbester abgeschlossen hat.«
»Moment.« Ein Ausdruck des Begreifens huschte über die Züge der Präsidentin. »Holmes? Das junge Genie, das mit 16 oder so den Nobelpreis für Physik gewonnen hat? Ist das die Person, über die Sie beide reden?«
»Mit 19. Aber ja, Ma’am. Ich fahre Greg nur deshalb so an den Karren, weil er den Ball dafür ins Rollen gebracht hat, Dave aus der ISF zu werfen.« Neeta schleuderte Greg einen Blick zu und rümpfte die Nase. »Ich habe keine Ahnung, woher Dave es wusste, aber er hat mir vor zehn Jahren prophezeit, dass dieses Jahr etwas Schlimmes passieren würde ...«
»Soweit ich weiß, ist Nordkorea unser Feind«, platzte Greg heraus, die Züge vor Zorn gerötet.
»Verdammt noch mal, Hildebrand!«, brüllte die Präsidentin und ließ die Handfläche auf die Tischplatte niedersausen. Der klatschende Laut und der scharfe Ton ihrer Stimme brachten alle Anwesenden erschrocken zum Schweigen. »Ist mir egal, ob der Teufel höchstpersönlich uns die Informationen gegeben hat. Offensichtlich hatte Holmes recht, sonst wären wir nicht hier und würden über das Ende der Menschheit sprechen. Benehmen wir uns alle wie Erwachsene, lassen den Schwachsinn aus der Vergangenheit beiseite und reden über die Gegenwart.« Sie schaute zum anderen Ende des Tischs. »Direktor Radcliffe, Dr. Patel, wo ist dieses Genie jetzt? Mir scheint, der Mann sollte bei diesem Treffen anwesend sein. Es sei denn, jemand von Ihnen hat irgendwelche glänzenden Ideen, wie man uns alle retten kann.«
Ein Anflug von Übelkeit überrollte Burt, und er runzelte die Stirn. »Ich fürchte, ich habe keine guten Nachrichten über alternative Lösungen. Und soweit ich weiß, ist Dr. Holmes verschwunden, kurz nachdem die ISF-Finanzkrise in den Medien breitgewalzt wurde.« Er drehte sich Neeta zu und zog die Augenbrauen hoch. Burt wusste nicht, ob sie vielleicht mehr Informationen hatte.
Neeta seufzte. »Wo Dave ist? Ehrlich, ich hab keine Ahnung. Vor etwas mehr als vier Jahren, als ich noch stellvertretende Programmleiterin bei der ISF war, ist alles zum Teufel gegangen ...«
»Was genau ist passiert?«, fragte die Präsidentin dazwischen. »Darüber wurde ich nie informiert, weil seit dem Beginn meiner Amtszeit keine ISF-Probleme mehr aufgetreten sind.«
Neeta lehnte sich auf dem Stuhl vor. »Dave war für alles verantwortlich, vor allem aber für ein Projekt, das er ›Changing Venue‹ nannte, Standortwechsel. Obwohl ich seine Stellvertreterin war, wusste ich nur Bruchstücke davon. Er hat mich angerufen, kurz nachdem er Greg die Gründe für die Ausgaben vorgetragen hatte.« Sie zeigte auf Hildebrand. Seine Reaktion bestand in einem schnellen Blinzeln. »Greg hatte sich irgendwie eine politische Rolle als ziviler wissenschaftlicher Berater im Verteidigungsministerium erschlichen. Zu der Zeit wurde ein Großteil der Finanzierung der ISF dort beaufsichtigt. Wie auch immer, Dave hat mich angerufen und gemeint, es wäre fürchterlich gelaufen und er wäre nicht überrascht, wenn er gefeuert würde. Damals dachte ich noch, er wäre paranoid. Aber wie sich herausgestellt hat, war es das letzte Mal, dass ich von ihm gehört habe. Das ist über vier Jahre her.«
Burt beobachtete mit verengten Augen die Reaktionen der Anwesenden auf Neetas Worte. Die Militärberater wirkten perplex, die Präsidentin runzelte besorgt die Stirn, und im blassen Gesicht des Wissenschaftsberaters zeigte sich ein höhnisches, angewidertes Lächeln.
Die Präsidentin warf einen Blick zu Hildebrand, der die Hände hob und den Kopf schüttelte. »Ich erinnere mich noch lebhaft an das Gespräch. Er hat gebrabbelt wie ein Wahnsinniger. Hat von Verschwörungen geredet, von nordkoreanischen Wissenschaftlern und allen möglichen verrückten Vorhersagen, die seine Aufmerksamkeit beansprucht hätten. Und das war der Mann, dem die Welt die Zukunft unserer wissenschaftlichen Forschung anvertraut hatte! Es war lächerlich. Ich weiß nur, dass er zur Beobachtung in die Psychiatrie im Walter-Reed-Militärkrankenhaus gesteckt wurde und bald danach geflüchtet ist. Ich habe keine Ahnung, wo er stecken könnte.«
Die Präsidentin ließ mit finsterer Miene den Blick um den Tisch wandern. »Weiß sonst jemand, wo unser eigenwilliger Wissenschaftler ist?«
Burt schüttelte den Kopf und stellte fest, dass auch der Rest der Anwesenden jegliche Kenntnis über den Verbleib des Mannes verneinte.
Die Präsidentin stieß energisch den Atem aus. »Nun, ich sage Ihnen, was ich nicht tun werde. Ich werde nicht das amerikanische Volk und damit auch den Rest der Welt in Panik versetzen, bis ich keine andere Wahl mehr habe.« Sie wandte sich an Greg. »Ich möchte, dass Sie die klügsten Köpfe zusammentrommeln, die wir haben. Sie sollen sich über Indigo einlesen, und ich will Informationen über Eventualitäten. Kosten und Risiken sind mir egal. Ich bin bereit, jedem Geheimprojekt zuzustimmen, das uns den Hintern retten kann. Wir müssen nur sofort bestimmen, welche Möglichkeiten wir überhaupt haben. Verstanden?«
Greg nickte. »Verstanden. Ich trommle die Ressourcen zusammen und tue, was ich kann, um Ihnen eine Antwort zu liefern.«
Präsidentin Hager wandte sich mit grimmiger Miene dem Rest der Anwesenden zu. »Sie sind alle über Indigo informiert. Kein Wort darüber. Und ich will, dass sich jeder Einzelne von Ihnen auf die Suche nach diesem David Holmes macht.« Sie zeigte mit dem Finger auf die verschiedenen, um den Tisch sitzenden Behördenleiter. »Ist mir egal, ob er in einem Bordell in Thailand herumhurt oder im Dachboden bei einem Freund untergeschlüpft ist. Ich will, dass er gefunden und hergebracht wird, damit wir mit ihm über Möglichkeiten sprechen können. Denn die sehen im Moment ziemlich düster aus. Verstehen wir uns alle?«
»Ja, Ma’am« und »Ja, Madam President« tönte als Chor durch den Lagebesprechungsraum.
Hager stand auf und erklärte mit entschlossenem Gesichtsausdruck: »Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist. Vergessen Sie das nicht.« Damit wandte sie sich ab und verließ ansatzlos den Raum.
Burt flüsterte Neeta zu: »Wir müssen uns im Flugzeug unterhalten.«
* * *
Der kleine Jet für zwölf Passagiere beschleunigte, erhob sich in die Luft und schwenkte sanft nach rechts, als sie den Rückweg zu ihrem ersten Zwischenstopp antraten: Los Angeles.
»Was sollte dieser Mist über Nordkorea und darüber, dass Holmes von einer bevorstehenden Katastrophe gewusst hat?« Burt saß angeschnallt auf dem Sitz neben Neeta. »Ich merke dir an, dass du mehr weißt, als du vorhin zugegeben hast.«
Neeta umklammerte so fest die Armlehnen ihres Sitzes, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie sah aus, als wäre ihr speiübel. »Ich bin mir nicht sicher, ob Dave das je zu jemand anderem gesagt hat, aber als er es zu mir gesagt hat, dachte sogar ich, er hätte den Verstand verloren. Er hat behauptet, die Nordkoreaner hätten einen Blick auf die Zukunft erhascht.«
»Er hat was?« Burt zog die Augenbrauen zusammen.
»Ich weiß, ich weiß, es klingt verrückt. Aber was er gesagt hat, ergibt jetzt, Jahre später, viel mehr Sinn. Angeblich hat Nordkorea zum Vermessen der äußeren Ränder der Oortschen Wolke vor fast 30 Jahren eine Reihe von Raumsonden gestartet, ähnlich unseren Voyager-Sonden aus dem 20. Jahrhundert. Dave hat gesagt, einer dieser Satelliten hätte unsere Zukunft gesehen.«
»Gibt es Aufzeichnungen über irgendwelche Starts durch Nordkorea in der Zeit?«
Neeta nickte und schloss die Augen, als der Jet eindrehte. »Nachdem Dave verschwunden war und alles zum Teufel ging, hab ich mir das genauer angesehen. In dem Zeitraum hat es eine Handvoll Starts von Nordkorea gegeben. Aber die Nutzlasten wurden alle als Rundfunksatelliten fürs Fernsehen registriert ...«
»Was mit ziemlicher Sicherheit gelogen war«, stellte Burt mürrisch klar. »Die einzigen Menschen dort, die tatsächlich Internetzugang haben oder fernsehen können, sind die Generäle und der oberste Führer.«
»Wie dem auch sein mag, ich weiß nicht, was für Informationen Dave und die Nordkoreaner letztlich ausgetauscht haben. Ich erinnere mich nur an die unheimliche Bemerkung über den flüchtigen Blick in die Zukunft. Vielleicht wurde eine der Sonden am Ende von dem schwarzen Loch aufgesaugt, als es noch weiter draußen war. Vielleicht hat das Dave auf den Plan gerufen.«
Das Flugzeug geriet in Turbulenzen. Prompt atmete Neeta schwerer und umklammerte die Armlehnen an ihrem Sitz mit einem Todesgriff. Irgendetwas an ihrer irrationalen Flugangst fand Burt liebenswert. Sie ließ Neeta verwundbar wirken, was sie sonst nie tat. Er tätschelte ihre linke Hand.
»Burt, ist das Flugzeug auch wirklich sicher?«
Er lächelte. »Alles gut, vertrau mir. Das ist eine C-37A, ausgestattet mit Hochleistungsbrennstoffzellen. Sie schafft ohne Aufladung über 9.600 Kilometer am Stück. Für den Hopser von Andrews an die Westküste reicht es allemal, also keine Sorge. Zurück zu der Sache mit Nordkorea: Wie um alles in der Welt hat Dave überhaupt eine Beziehung zu denen aufgebaut? Die gelten immer noch als Schurkenstaat, sind technologisch rückständig und allen Anzeichen nach unserer Regierung nicht besonders freundlich gesinnt.«
Das Flugzeug stieß auf eine weitere kleine Turbulenz. Neeta ergriff Burts Hand und quetschte sie, während sie tief einatmete. »Also«, sagte sie schließlich, »das ist jetzt nur geraten, aber Dave hat früher öfter mit einem koreanischen Studenten abgehangen, den er als Frank gekannt hat. Ich hab ihn auch gekannt, und er war schlichtweg brillant. Er und Dave haben über Konzepte der theoretischen Physik diskutiert, die zu der Zeit entschieden zu hoch für mich waren. Jahre nach unserem Abschluss ist mir in den Nachrichten jemand untergekommen, der genau wie Frank ausgesehen hat. Offensichtlich war gerade sein Vater gestorben, und Frank, mit dem ich zusammen an der Caltech studiert hatte, war plötzlich der Führer Nordkoreas.«
»Im Ernst?«
»Todernst.«
Burt drückte den Knopf an seinem Sitz und lehnte sich ein wenig zurück. »Und hast du eine Ahnung, woran Dave gearbeitet hat, das uns helfen könnte? Ich kann mir nicht vorstellen, was wir tun könnten. Nichts, was ich kenne oder wovon ich je gelesen habe, könnte ein schwarzes Loch beeinflussen, außer ein fast ebenso gewaltiges Objekt. Und ich weiß ja nicht, wie das bei dir ist, aber ich hab kein weiteres schwarzes Loch, mit dem ich dieses bewerfen könnte, um es vom Kurs abzubringen.«
Auch Neeta lehnte sich weiter zurück und schloss die Augen. »Ich kenne nur Teile seiner Arbeit, und nichts davon hat für mich irgendeinen Sinn ergeben. Zumindest schien mir nichts davon mit unserem aktuellen Problem zusammenzuhängen. Aber wenn jemand ein Ausweg einfallen könnte, dann Dave. Eins muss dir klar sein, Burt: Dave war weit über alles hinaus, was du und ich überhaupt begreifen können. Wenn es so was wie einen Inselbegabten gibt, dann war er definitiv einer. Normalerweise konnte er recht gut erklären. Aber wenn er in seine eigene Zone vorgedrungen ist, war das mit nichts zu vergleichen, was ich je mit jemand anderem erlebt habe, selbst dann nicht, wenn er es mir zu erklären versucht hat. Manchmal bin ich mir in seiner Nähe wie eine völlige Idiotin vorgekommen.«
»Und hast du irgendeine Ahnung, wo er sein könnte?«
Neeta gab Burts Hand frei und legte sich den Arm über die Augen. »Ich hab ein paar Ideen, wo wir suchen könnten, aber das sind bestenfalls wilde Vermutungen.«
»Vermutungen sind besser als das, was ich habe, nämlich nichts.«