Yoshis Herz schlug wild in der Brust, als er sich in sitzende Position kämpfte. Er blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und spürte, wie das Schiff erzitterte, als die Navigationsschubdüsen ansprangen, um sie hinter die Umlaufbahn des Titans zu bringen, des größten Saturnmonds. Die ungewöhnlichen Manöver waren zu einem regelmäßigen Ereignis geworden, da immer öfter sporadische Asteroidenschauer vorbeirasten, die Oberfläche des Titans verwüsteten und grelle Lichtblitze verursachten, wenn sie in den Saturn einschlugen.
Aber nicht die Vibrationen des Schiffs hatten ihn geweckt. Yoshi zuckte zusammen, als das in seinem Kopf versteckte Implantat unangenehme Impulse durch sein Nervensystem jagte und eine bevorstehende Nachricht von der Bruderschaft ankündigte.
Er starrte durch das Aussichtsfenster direkt über seiner Koje. Obwohl er bereits fast sechs Monate in der Matsushita Science Station stationiert war, überkam ihn immer noch jedes Mal Ehrfurcht, wenn er den Saturn sah, den gelb-orangen Gasriesen mit seinem charakteristischen, gewaltigen Ring im Hintergrund.
Seit dem Aufbruch von der Erde hatte Yoshi keine einzige Mitteilung von der Bruderschaft erhalten. Er hatte auch keine erwartet. Yoshi konnte sich keinen Grund dafür vorstellen, ein Signal Hunderte Millionen Kilometer weit in den Weltraum zu senden, nur damit er es hören konnte. Dieses Kribbeln jedoch war ein Zeichen dafür, dass er sich geirrt hatte.
Er schwang die Beine über die Seite der Koje und betete schweigend etwa eine halbe Minute lang. Dann hallte eine Stimme, die nur er hören konnte, laut durch seinen Kopf.
»Bruder Watanabe, die Zeit ist gekommen.
Die Endzeit ist angebrochen. Aber denk daran, auf Finsternis folgt großes Licht. Es wird Menschen geben, die fürchten, was da kommt. Aber die Gläubigen werden die Herrlichkeit des Herrn erkennen, wenn die Finsternis naht.
Bruder, du bist über alle Maßen gesegnet. Wir sehen Anzeichen dafür, dass unser Glaube auf die Probe gestellt wird. Indem du Gottes Prüfung ungehindert voranschreiten lässt, indem du offen den Glauben zeigst, der in dir steckt, wird dir der Allmächtige seine Gegenwart offenbaren.
Seine Prüfung kommt in Form der Leere. Eine völlige Schwärze, die für jene ohne Glauben das Verhängnis bedeutet. Für die Gläubigen aber ist es die Zeit des Erwachens. Eine Chance für die Unwürdigen, gerettet zu werden, und für die Gläubigen, zu den ersten Zeugen der Herrlichkeit von Gottes Gegenwart unter uns zu werden.«
Yoshis Herz raste. Die Erregung darüber, was bevorstand, fühlte sich beinah überwältigend an. Zeugen zu werden, war der gesamten Bruderschaft von jeher versprochen worden.
»Bruder Watanabe, sei gewarnt. Wenn du keinen Glauben an unseren Herrn zeigst, wenn du vor seiner Prüfung zurückschreckst, wird er wissen, dass du das Vertrauen in ihn aufgegeben hast. Und damit wird sich die Dunkelheit der Leere durch deine Seele ausbreiten und sie für immer vom Baum des Lebens entfernen. Gott wird sich von dir abwenden, wenn du keinen Glauben zeigst. Lass nicht zu, dass andere deine unsterbliche Seele verdammen. Wenn Gläubige bei dir sind, kannst du die frohe Botschaft mit ihnen teilen. Aber für die Heiden kann es nur ein Schicksal geben.
Verdiene dir den Titel eines ersten Zeugen und lass deine Seele bis in alle Ewigkeit frohlocken.
Du weißt, was du zu tun hast.«
Das Kribbeln des Implantats legte sich, aber die Worte der Bruderschaft hallten nach. Ein Anflug rechtschaffener Energie durchströmte Yoshi, und er holte das Messer hervor, das er in seiner Kommodenschublade versteckt aufbewahrte.
Zärtlich küsste er die Klinge. Er lächelte, als er die japanischen Symbole betrachtete, die sein Vater in das Metall geritzt hatte. Es handelte sich um ein einziges Wort: Gerecht.
Mit einer geübten Bewegung aus dem Handgelenk warf Yoshi das Messer rotierend hoch, fing es auf und umklammerte es mit der Faust.
Nachdem er sechs Monate mit diesen Menschen verbracht hatte, wusste er, dass sich keine Gläubigen unter ihnen befanden. Sie würden es nicht ertragen, Zeugen zu werden. Sie würden versuchen, sich vor der Dunkelheit zu retten und dadurch Gottes Zorn heraufbeschwören.
Oh ja, er wusste, was er zu tun hatte.
* * *
Yoshi starrte ehrfürchtig durch das Aussichtsfenster über der Administratorstation. Er verspürte ein berauschendes Kribbeln. Die Nachwehen einer unsichtbaren Kraft hatten die Raumstation fest im Griff.
Es war zwei Tage her, seit er die Botschaft der Bruderschaft erhalten hatte. Dutzende Audiobotschaften wurden von JAXA, der japanischen Raumfahrtbehörde, an die Raumstation übertragen. Und da man keine Antworten erhielt, versuchte man immer wieder, das Schiff per Fernzugriff zurückzuholen. Was Yoshi wiederholt verhindert hatte.
Plötzlich gab die Computerkonsole des Administrators einen Alarm aus. Yoshi blickte auf den Bildschirm und kratzte die getrockneten Blutspritzer weg, die ihm die Sicht auf die eingehende Nachricht versperrten.
*** NASA-NOTFALLALARM ***
Alle Raumexplorationsstationen und das gesamte Personal werden zurückgerufen.
Sofortige Rückkehr in die Erdumlaufbahn gemäß Notfallprotokoll X-55. Alle anderen Prioritäten sind aufgehoben.
Bestätigen Sie den Empfang.
Angewidert schüttelte Yoshi den Kopf über die Nachricht und belehrte den Computer, der ihn nicht hörte. »Ich werde meinem Herrn niemals entsagen. Nur durch unseren Glauben wird er wieder unter uns wandeln. Alles andere verheißt ewige Verdammnis.«
Yoshi warf über die Schulter einen Blick zum verrenkten Leichnam eines der Raumfahrtingenieure.
»Blasphemie gegen unseren Herrn darf nicht geduldet werden.«
* * *
Yoshi hatte sich auf dem Administratorstuhl angeschnallt und hielt an seinem Glauben fest, obwohl die Raumstation heftig durchgeschüttelt wurde. Funken stoben durch die Kabine, Metall kreischte nahezu ohrenbetäubend. Doch das war nichts im Vergleich zum Anblick durch das Aussichtsfenster.
Der Titan, jener Mond, um den die Raumstation kreiste, hatte sich aus irgendeinem Grund aus der Umlaufbahn des Saturn gelöst. Mittlerweile raste der Himmelskörper mit der Raumstation im Schlepptau in die Leere des Alls.
Ehrfürchtig starrte Yoshi hinaus. »Es ist, als würde mich der Finger Gottes auf einen vorherbestimmten Weg schieben. Ich gehe, wohin du mich führst.«
Nur wenige Hundert Kilometer entfernt wurde der ehemalige Saturnmond auseinandergerissen.
Gebirgsgroße Brocken des Titans wirbelten um eine Leere im Raum. Dort gab es keine Sterne, nur Schwärze. Die Raumstation raste schneller und schneller um diese Leere herum, beinah wie Wasser, das um den Abfluss einer Badewanne strudelt.
Yoshi betete um ein Zeichen, während er beobachtete, wie der Titan in zunehmend kleinere Stücke zerfetzt wurde.
Die Raumstation rückte näher und näher. Das Ächzen von Metall wurde lauter, als einer der Arme der Station mit explosiver Wucht abgerissen wurde und alle Lichter an Bord flackernd erloschen.
Die erschütternden Vibrationen wurden stärker. Yoshi fühlte sich wie beim steilen Abstieg einer Achterbahn, als die Station zu einem Teil des wirbelnden Strudels wurde.
Als sich ein weiterer Arm von der Raumstation löste, japste Yoshi, und Euphorie durchströmte ihn.
Als die Station um die geheimnisvolle Leere herumraste, begann die Dunkelheit zu leuchten.
Gleißendes Licht bildete einen funkelnden Schimmer im Zentrum des wirbelnden Sogs.
Die Fliehkräfte wurden zu groß zum Atmen. Innerlich jedoch jubilierte Yoshis Geist, als er sah, wie die Finsternis zu einem atemberaubenden Lichterspiel in allen Regenbogenfarben erstrahlte.
Über das ohrenbetäubende Chaos um ihn herum schrie Yoshi mit seinem letzten Atemzug: »Ich glaube!«
Dann zerbrach die Station in ihre Einzelteile und stürzte in den klaffenden Schlund des schwarzen Lochs.