Margaret Hager saß auf dem Sofa. Trotz ihrer Erschöpfung hatte sie ein bittersüßes Lächeln im Gesicht, während sie beobachtete, wie ihr dreijähriger Sohn George im Oval Office um den Schreibtisch lief und dabei überschwänglich schrie. In der Woche, seit die Wissenschaftler sie über die Gefahr für die Welt informiert hatten, suchten sie verstörende Träume über körperlose Stimmen und Bilder von Chaos auf den Straßen heim. Sie hielten sie nachts wach. Der kleine George hatte gerade eine Geburtstagsfeier gehabt. Unwillkürlich sorgte sie sich, dass es die Letzte für ihren Sohn gewesen sein könnte.
George hüpfte aufs Sofa und setzte sich mit seinem Lieblingsbuch über Tiere in der Hand neben sie. Emotionen stiegen in Margaret auf, als er behutsam die Seiten umblätterte, auf die Bilder zeigte und alles im Brustton der Überzeugung benannte. Nach jahrelangen erfolglosen Unfruchtbarkeitsbehandlungen hatte sie Kinder bereits aus ihrem Lebensplan gestrichen gehabt. Dann war George »passiert«.
Mittlerweile konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Sie wünschte nur, ihr Großvater, nach dem sie George benannt hatte, wäre noch am Leben, um ihn zu sehen. Beinah vermeinte sie, seine über sie beide wachende Gegenwart im Zimmer zu spüren.
Als Margaret das dunkelbraune Haar ihres Sohns zerzauste, wanderte ihre Aufmerksamkeit zu dem Agenten des Secret Service, der am Eingang zum Oval Office stand. Er drückte kurz die Hand ans Ohr, nickte und heftete dann den Blick auf sie. »Madam President, Doug Fisher und die leitenden Stabsmitglieder, die Sie sehen wollten, sind eingetroffen.«
Sie nickte. »Sagen Sie Brenda, sie soll sie hereinlassen.« Margaret hob einen Finger, um den Agenten zurückzuhalten, während sie George auf den Kopf küsste und flüsterte: »Geh mit Agent King. Er bringt dich zu Daddy. Ich komme später zum Spielen nach oben.«
Ohne ein weiteres Wort drückte George ihr einen feuchten Schmatz auf die Nase. Dann tappte er gehorsam zu Agent King und nahm dessen Hand, als sie den Raum verließen.
Kaum hatte sich die Tür geschlossen, öffnete sie sich wieder, und Doug Fisher, ihr Stabschef, trat mit mehreren Leuten im Gefolge ein, alle mit düsteren Mienen. »Guten Tag, Madam President ...«
»Nichts daran ist gut, Doug«, gab Margaret mürrisch zurück. »Soweit ich weiß, sind wir immer noch alle dem Untergang geweiht.« Sie deutete zu den anderen Sofas im Raum. »Lassen wir die Höflichkeiten beiseite und kommen wir gleich zur Sache.«
Während sich die führenden Köpfe des Kabinetts setzten, heftete Margarets den Blick auf Doug. Er war ein kleiner, runzliger Mann Anfang 70. Aber trotz seines Alters und seiner Statur besaß er immer noch den Elan der Jugend und die dröhnende Stimme einer wesentlich größeren Person. Er hatte den Finger fest am Puls des Kapitols, schien jeden in Washington, D. C. zu kennen und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Präsidentin über das Kommen und Gehen von Menschen außerhalb ihres inneren Kreises auf dem Laufenden zu halten. Besonders zeichnete er sich darin aus, Treffen dieser Art unaufdringlich so zu leiten, dass alle beim Thema blieben.
Kaum waren sich ihre Blicke begegnet, nickte Doug knapp und blickte durch die tief auf der Nase sitzende Brille auf seinen Notizblock. »Jim, was hat sich aus den Gesprächen mit anderen Ländern über Indigo ergeben?«
Margarets Aufmerksamkeit richtete sich auf James Arroyo, ihren schnurrbärtigen Außenminister, als er die Notizen zu Indigo durchsah. Auf den Codenamen hatte man sich für die bevorstehende Katastrophe geeinigt.
»Madam President, ich habe mit Vertretern aus Deutschland, Großbritannien, Australien und der Volksrepublik China gesprochen. Alle sind über Indigo und darüber informiert, was auf uns alle zukommt. Vorerst haben sie alle möglichen Lecks in ihren jeweiligen Ländern gestopft und hoffen, dass jemand bei der ISF irgendwelche Ideen zu den nächsten Schritten hat.«
Margaret schwenkte den Blick auf den entwaffnend gutaussehenden Mann, der ihr gegenüber auf einem alten viktorianischen Stuhl saß. Kevin Baker war Direktor der CIA, einer der wenigen in dieser Position, die tatsächlich Zeit als Einsatzagent verbracht hatten. Insgesamt arbeitete er seit rund 30 Jahren bei der Behörde. Im Gegensatz zu Arroyo, der die diplomatischen Beziehungen pflegen sollte, hatte Kevin den Auftrag, internationale Geheiminformationen zu beschaffen.
»Kevin, die ISF hält weiterhin dicht, richtig? Gibt es irgendwo sonst Gerede über Indigo?«
»Bei unseren überwachten Ressourcen herrscht Funkstille über Indigo«, antwortete Kevin sofort, ohne in irgendwelchen Notizen nachzusehen. »Die Wissenschaftler, die Bescheid wissen, halten dicht, und ich habe beim Rechenzentrum der NSA in Utah nachgefragt – weder dort noch bei uns wurde ungewöhnliche Kommunikation festgestellt.«
»Gut.« Seufzend lehnte sich Margaret auf dem Sofa zurück. »Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, was passieren würde, wenn die Öffentlichkeit von Indigo wüsste. Ich hatte schon eine Besprechung mit Carol Chance ...«
»Landwirtschaftsministerin«, warf Doug ein.
»Sie setzt gerade einen beträchtlichen Teil ihres Budgets für Anreize ein, damit Landwirte Übermengen produzieren. Dadurch werden wir Kornkammern und sonstige Lager zum Ende der nächsten Ernte so gut wie randvoll haben. Es liegt auf der Hand, dass alle zusätzlichen Vorbereitungen, die wir treffen, unter dem Deckmantel anderer Projekte oder Initiativen getarnt werden müssen.«
»Entschuldigen Sie, Madam President.« Walter Keane, der Verteidigungsminister, meldete sich zu Wort. »Wissen Sie schon, wann wir mehr über mögliche Eventualitäten erfahren werden? Wir haben die größte Militärmacht der Welt, aber bei Indigo ist es schwierig, ohne weitere Daten zu planen ...«
»Walt, vertrauen Sie mir.« Die Präsidentin hob die Hand und unterbrach den Einwand des ehemaligen Generals. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, und zum hundertsten Mal, ich habe nicht, was Sie brauchen. Wir haben noch keinen Feind, den Sie bekämpfen können.«
Als Walt den Mund zu einer Erwiderung öffnete, kam ihm Dougs dröhnende Stimme zuvor. »Entschuldigung, aber es könnte sinnvoll sein, zu hören, welche Informationen wir im Land haben.«
Margaret sah die spindeldürre Frau zu ihrer Linken an, zuständig für sämtliche landesinternen Informationen. »Karen, was weiß das FBI über die Hauptakteure in Sachen Indigo?«
Karen Fultondale, Direktorin des FBI, öffnete einen großen Ringordner auf ihrem Schoß und fuhr mit einem Finger über ihre Unterlagen. »Madam President, ich habe mir die von Ihnen angeforderten Aufzeichnungen besorgt und beginne mit Greg Hildebrand. Wir haben eine überraschend dicke Akte über ihn, da er sich im Verlauf der Jahre um verschiedene Regierungsposten beworben hat. Über ihn haben wir ein detailliertes psychologisches Profil. Hildebrand hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung und ist ausgeprägt selbstherrlich. Er ist besessen von beruflichem Aufstieg und hat einen starken Geltungsdrang. Zusammen mit gewalttätigen häuslichen Auseinandersetzungen waren das ausschlaggebende Faktoren für seine drei gescheiterten Ehen. Mit den Scheidungen gingen Privatkonkurse einher. Derzeit steht er kurz vor dem Entzug seiner Sicherheitsfreigaben.«
Margaret seufzte und bedeutete Karen, fortzufahren. Greg war früher ein Freund der Familie gewesen, und es widerstrebte ihr, zu hören, wie er im Leben versagte.
Die FBI-Direktorin blätterte zur nächsten Registerkarte in ihrem Ordner und hielt inne, während sie die Daten überflog. »Es stimmt, dass David Wendell Holmes unter der Leitung von Mr. Hildebrand in Schutzhaft genommen wurde. Allerdings nur für wenige Wochen, bis Dr. Holmes mit Hilfe einer anderen Patientin entkommen konnte.«
»Wer war diese andere Patientin?«, fragte Margaret. Ihr Interesse war geweckt.
Mit gerunzelter Stirn seufzte die FBI-Direktorin: »Über sie wissen wir nur wenig. Sie ist die Tochter von General Albert McMillan, dem ehemaligen Leiter des geheimen Forschungsbereichs der Defense Intelligence Agency. Ungefähr ein halbes Jahr vor ihrer Flucht mit Dr. Holmes wurde General McMillan mit seiner Frau und seiner 21-jährigen Tochter in einen tragischen Autounfall verwickelt. Sowohl der General als auch seine Frau sind dabei ums Leben gekommen. Die Tochter lag fast sechs Monate lang im Koma. Aus den medizinischen Aufzeichnungen geht hervor, dass sie nach dem Erwachen kommunikationsunfähig und emotional instabil war. Seit ihrer Flucht fehlt jeder Hinweis auf ihren Verbleib und den von Dr. Holmes.«
Die Präsidentin zog eine Augenbraue hoch. »Tja, offensichtlich hat der gute Mann herausgefunden, wie man mit der jungen Frau kommuniziert. Erzählen Sie mir von unserem illustren NEO-Chef, der den Auftrag hat, mit DefenseNet irgendetwas zu unternehmen. Bei unserem ersten Treffen war er ziemlich still. Wie sieht sein Hintergrund aus?«
»Madam President, mich überrascht, dass Sie noch nicht von ihm gehört haben«, warf der Verteidigungsminister ein. »Er hätte mit seiner unkontrollierten Erfindung beinah Los Angeles in Finsternis gestürzt. Radcliffe war der Mann, der den ersten turingmächtigen Computer erfunden hat.«
»Turingmächtig?« Bei dem Begriff klingelte bei Margaret etwas.
Walt beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und nickte. »Die Maschine konnte tatsächlich eigenständig denken. Es heißt, dass jemand mitten in der Nacht ins Labor eingebrochen ist und etwas stehlen wollte. Der Computer hat den Einbruch bemerkt, das Gebäude abgeriegelt und die Polizei alarmiert.«
»Das klingt nicht unvernünftig ...«
»Sollte man meinen«, erwiderte er mit einem ironischen Lächeln. »Aber etwas im Protokoll des Rechners ging daneben. Als die Polizei eingetroffen ist und den Einbrecher abholen wollte, hat sich die verdammte Maschine geweigert, das Labor zu entriegeln. Als versucht wurde, gewaltsam einzudringen, hat das Ding die Versorgung aus dem Rest des Gebäudes abgezogen, die Stromkreise überlastet und alle zu Tode erschreckt. Erst als von außen der gesamte Versorgungsblock in der Innenstadt von Los Angeles abgeschaltet wurde, konnte der Computer deaktiviert werden, und man konnte das Chaos beseitigen.«
»Okay, also ist er ein Computerfreak.« Margaret unterdrückte mühsam ein Lächeln, als sie sich die damaligen Wirren vorzustellen versuchte. Sie richtete den Blick wieder auf die FBI-Direktorin. »Karen, was haben Sie über ihn?«
»Madam President, wir haben nicht viel an psychologischen Daten über Dr. Radcliffe, aber er steht unter Beobachtung, seit er Leiter des NASA-Programms Near Earth Object wurde. Er hat je einen Doktortitel in Informatik und Astrophysik, und es besteht kein Zweifel daran, dass er sehr diszipliniert und methodisch ist. Aus Befragungen seiner derzeitigen und früheren Mitarbeiter geht hervor, dass er besonnen ist und den Respekt seiner Kollegen genießt. Offensichtlich hat er pazifistische Tendenzen. Seit dem Vorfall in Los Angeles hat er etliche Abhandlungen über den Einsatz künstlicher Intelligenz in Friedenszeiten geschrieben. Außerdem hat er sich alle Mühe gegeben, die von ihm erfundene Computertechnologie zu vernichten. Er fürchtet ihre weitere Nutzung und hat sie öffentlich zum größten Fehler seines Lebens erklärt. Das Verteidigungsministerium ist in der Vergangenheit an ihn herangetreten und wollte ihn für die Weiterentwicklung von Aspekten seines intelligenten Rechensystems rekrutieren. Er hat aber immer abgelehnt, sich auch nur mit jemandem zu treffen, der die Technologie nutzen wollte.«
Margaret hob einen Finger, und Karen verstummte. Die Präsidentin schürzte die Lippen, während sie darüber nachdachte, was sie gerade gehört hatte. Stille senkte sich über den Raum. Alle warteten auf ihre Reaktion.
»Was ist mit der Wissenschaftlerin, die ihn begleitet hat? Ist sie nicht seine Stellvertreterin beim NEO-Programm?«
»Ja, Madam President. Und Dr. Neeta Patel gehört zweifelsfrei zur wissenschaftlichen Elite des Lands. Früher war sie Abteilungsleiterin bei der ISF und David Holmes unterstellt ...«
»Dem Holmes, der vermisst wird?«, fragte die Präsidentin dazwischen.
Karen nickte. »Dr. Patel hat wahrscheinlich nicht die ihr zustehende Aufmerksamkeit erhalten, weil sie in Dr. Holmes’ Schatten gestanden hat. Der nach allem, was man hört, so was wie eine Laune der Natur ist ...«
»Na, na«, unterbrach ihn Walt, der Verteidigungsminister, mit seiner Reibeisenstimme. »Aber er ist unsere Laune der Natur – und das muss uns klar sein!«
Margaret seufzte. »Hoffen wir einfach, dass wir ...«
Ein lautes Klopfen an der Tür hallte durch das Oval Office. Eine der Innentüren schwang auf, und ein Agent des Secret Service stürmte herein. »Entschuldigen Sie die Störung, Madam President. Aber Sie wollten in dem Fall sofort informiert werden ... Wir haben gerade einen Anruf von einer Außenstelle in Florida erhalten. Mr. Hildebrand hat Dr. Holmes gefunden. Er ist gerade unterwegs hierher. Wir rechnen damit, dass er in vier Stunden auf der Joint Base Andrews landet.«
Margaret sprang auf. Ein Energieschub durchströmte sie, als Hoffnung ihr Herz zum Rasen brachte. Sie wandte sich an ihren Stabschef und richtete den Zeigefinger auf ihn, während sie zackig Befehle erteilte. »Rufen Sie alle zusammen. Ich will das gesamte Kontingent der nationalen Sicherheitsberater im Lagebesprechungsraum, bevor die Räder der Maschine auf dem Boden sind. Sorgen Sie dafür, dass auch unsere Vertreter von NEO anwesend sind.«
»A-aber, Madam President«, stammelte Doug. »Ich weiß, dass Dr. Radcliffe gerade an der Westküste ist ...«
»Hören Sie mir zu«, fiel Margaret ihm mit entschlossener Kieferpartie ins Wort. »Mir ist egal, was nötig ist.« Sie warf Walt einen Blick zu. »Und wenn Sie den guten Mann in einen Kampfjet mit Luftbetankung setzen müssen, holen Sie ihn her. Sofort! Verstehen wir uns alle?«
Kaum hatte Margaret den bejahenden Chor der Anwesenden gehört, winkte sie alle zu ihren jeweiligen Aufgaben davon. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, als sie mit verkniffener Miene durch die Fenster des Oval Office hinausschaute.
Was, wenn Dr. Holmes keine guten Antworten hat?