Bei der ersten geschlossenen gemeinsamen Sitzung des Kongresses überhaupt befanden sich weder Zuschauer noch nicht notwendige Mitarbeiter auf den sonst öffentlichen Galerien oder in den Räumlichkeiten selbst. Alles, was besprochen wurde, fiel unter die Vertraulichkeitsstufe von Angelegenheiten der nationalen Sicherheit. Burt hatte gerade fast eine Stunde ununterbrochen geredet, und seine Nerven lagen blank.
Er wartete, während sich einige der 535 gewählten Vertreter der Nation schwerfällig den Weg aus den Sitzreihen bahnten, die an alte Kirchenbänke aus Holz erinnerten. Nicht unbedingt Sitze, die er in einem der prächtigsten Gebäude der Hauptstadt erwartet hätte.
Während einige Senatoren und Kongressabgeordnete hinter den für die Fragerunde aufgestellten Mikrofonen in Stellung gingen, atmete Burt tief Luft durch. Er wusste, dass einige merkwürdige Fragen kommen würden. Immerhin befand sich unter diesen Leuten kein Wissenschaftler.
Nach seiner Enthüllung der Bedrohung durch das schwarze Loch hatten die Anwesenden schlagartig reagiert. Da hatte Burt erkannt, dass viele noch überhaupt nicht über Indigo informiert gewesen waren. Während Burts Rede hatte der Sprecher des Repräsentantenhauses mindestens fünfmal seinen Hammer benutzt, um die Ordnung im Saal wiederherzustellen.
Plötzlich kehrte Stille ein, und die Anwesenden drehten sich um, als die Präsidentin eintrat. Anders als bei öffentlichen Foren oder bei der Rede zur Lage der Nation marschierte sie zügig an den Sitzreihen und den an den Mikrofonen wartenden Politikern vorbei. Rasch ging sie in den vorderen Bereich und nahm keinen Meter von Burt entfernt Platz.
Es gab kein Händeschütteln, keine politische Schmeichelei, keine formelle Ankündigung ihrer Gegenwart durch den Sprecher oder Zeremonienmeister. Was bei Burt ein etwas mulmiges Gefühl auslöste. Es lief völlig anders als das ab, was er aus Fernsehübertragungen der Rede zur Lage der Nation kannte.
Margaret zwinkerte ihm beruhigend zu. Der Sprecher des Repräsentantenhauses beugte sich in der Reihe direkt hinter ihm nach vorn. »Sind Sie bereit für Fragen, Dr. Radcliffe?«
Burt nickte. Der Sprecher klopfte dreimal mit dem Hammer und sprach laut in sein Mikrofon. »Mitglieder des Kongresses, ich erwarte, dass Anstand gewahrt wird. Dr. Burt Radcliffe, wissenschaftlicher Hauptberater der Präsidentin und Leiter des Programms Near Earth Object der NASA, steht für Ihre Fragen zur Verfügung. Der Sprecher erteilt das Wort an Repräsentantin Young aus dem Bundesstaat Vermont.«
»Dr. Radcliffe«, wurde eine weibliche Stimme durch den Saal übertragen. Burts Blick fiel auf die ältere Afroamerikanerin, die vor einem der drei Mikrofone stand. »Wenn dieses schwarze Loch so klein ist, woher wissen wir dann, ob es uns überhaupt erfassen wird? Besteht nicht auch die Möglichkeit, dass es an uns vorbeizieht, ohne Probleme zu verursachen?«
»Ausgezeichnete Frage.« Burt nickte ihr zu. »Es mag schwer vorstellbar sein, dass ein nur wenige Kilometer breites Objekt eine so verheerende Wirkung haben kann, aber lassen Sie es mich erklären. Wir befinden uns derzeit 150 Millionen Kilometer von der Sonne entfernt. Trotzdem ist ihre Schwerkraft stark genug, um unseren Planeten in einer Umlaufbahn zu halten. Es gibt noch viel weiter entfernte Planeten. Obwohl sie über eine Milliarde Kilometer im All liegen, beeinflusst die Sonne sie ähnlich wie uns. Auch sie bleiben durch die Schwerkraft der Sonne in ihrer Umlaufbahn.
Jetzt stellen Sie sich vor, dass dieses schwarze Loch fast drei Viertel der Masse unserer Sonne hat. Die gleiche Masse wie ein ganzer Stern, verdichtet in einem vergleichsweise winzigen Paket. Vielleicht können Sie es sich so leichter vorstellen. Was würde Ihrer Meinung nach passieren, wenn ein anderer Stern durch unser Sonnensystem wandert?«
Burt verstummte kurz, um die Worte einwirken zu lassen. »Chaos würde ausbrechen. Dieses schwarze Loch hat nicht nur dieselbe Gravitationswirkung wie jeder Stern, es rotiert zudem wie ein Kreisel. Nur schneller, als Sie es sich je vorstellen könnten. Was würde wohl passieren, wenn ein Stern, der sich wie ein Kreisel dreht, durch unser Sonnensystem pflügt?«
Burt zeigte mit dem Finger auf das Publikum und fuhr fort: »Ich sage es Ihnen. Es gibt zwei grundsätzliche Möglichkeiten. Alles, was dem schwarzen Loch zu nahe kommt, wird davon angesaugt und restlos vernichtet. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere wäre, vom Sog erfasst und hinaus in den interstellaren Raum geschleudert zu werden. Dort würde alles rasant erfrieren, auch unser Planet. Ich kann Ihnen nicht mit absoluter Gewissheit versichern, welches Schicksal uns ereilen würde, aber auf jeden Fall das eine oder das andere.
Um Ihre Frage konkret zu beantworten: Wir müssen nicht von dem schwarzen Loch erfasst werden, damit es Probleme verursacht. Es ist bereits ein Problem. Ich bin vorhin nicht darauf eingegangen, aber wir haben schon unbequeme Fragen von Astronomen, die nicht über die bevorstehende Katastrophe informiert worden sind. Der Saturn, der dem schwarzen Loch viel näher ist, wurde bereits aus seiner Umlaufbahn geschleudert. Tatsächlich sind wir schon betroffen. Die Flugkurve unserer Umlaufbahn um die Sonne hat sich etwas nach außen gewölbt. Es ist wie ein Tauziehen zwischen der Sonne und dieser Urgewalt, die wir als schwarzes Loch bezeichnen. Leider ist das ein Kampf ohne Gewinner, wenn wir nichts unternehmen.«
Einige Sekunden lang herrschte im Saal Totenstille, bevor der Sprecher verkündete: »Der Sprecher erteilt das Wort an Senator Hoffman aus dem Bundesstaat Connecticut.«
Burt richtete den Blick auf einen großen, dunkelhaarigen Mann auf der linken Seite des Raums. Die raue Stimme des Senators dröhnte durch den Saal. »Dr. Radcliffe, ich bin Vorsitzender des Bewilligungsausschusses. Ich habe diese Frage wiederholt gestellt und von der Regierung keinerlei Antwort erhalten. Ich hoffe, Sie können etwas Licht in die Sache bringen. Mir scheint, dass die Finanzierung dieser großen Lösung, von der Sie gesprochen haben, nie den Kongress durchlaufen hat. Ihre Untergangsrede hat zweifelsfrei angedeutet, dass die Mittel nötig sind. Dennoch bleibt die Tatsache, dass Finanzierungsanträge für solche Notfallmaßnahmen durch den Kongress müssen.« Der Ton des Politikers wurde tiefer, aggressiver. »Verdammt, der Kongress hat eine Aufsichtspflicht. Vor allem bei Bauvorhaben dieser Größenordnung. Von Ihrer Organisation wird erwartet, dass sie uns berät und unsere Zustimmung einholt, bevor sie solche Unterfangen umsetzt. So etwas muss nach Nutzen und Prioritäten bewertet werden. Ich verlange eine Erklärung und die Zusicherung, dass bei solchen Dingen künftig die ordnungsgemäßen Verfahrensweisen eingehalten werden.«
Burt legte den Kopf schief. Ein Gefühl der Fassungslosigkeit nistete sich in ihm ein. »Entschuldigen Sie, Mr. Hoffman ...«
»Senator Hoffman, danke sehr. Ich bin gewähltes Mitglied des Senats der Vereinigten Staaten.«
»Na schön. Hinsichtlich der Finanzierungsanträge müssen Sie sich an den Direktor der NASA wenden, meinen direkten Vorgesetzten, oder an die Präsidentin, meine andere direkte Vorgesetzte. Aber verlangen Sie angesichts der Lage allen Ernstes, dass wir von Ihrem Ausschuss die Prioritäten und den Nutzen bewerten lassen?« Burt stieß ein Lachen aus. »Entschuldigen Sie, aber wie viele Mitglieder in Ihrem Ausschuss sind Experten für Astrophysik? Wie viele anerkannte Experten für Materialwissenschaft oder Astronomie? Wie ...«
»Dr. Radcliffe, das ist keine Angelegenheit für Scherze. Wir werden konsultiert und erfüllen unsere Verpflichtungen als gewählte Vertreter, oder wir streichen die Finanzierung Ihres Programms. Und niemand von uns will, dass es dazu kommt.«
Sofort ging lautes Gemurmel durch den Saal, als die Anwesenden untereinander diskutierten. Der Sprecher klopfte mit dem Hammer und rief: »Ruhe! Ich verlange Ruhe!«
Burt sah den Kongressabgeordneten blinzelnd an. Die Worte des Mannes verschlugen ihm die Sprache.
Plötzlich spürte Burt ein Tippen auf der rechten Schulter. Überrascht erblickte er Präsidentin Hager, die mit tief gerunzelter Stirn neben ihm stand. Sie bedeckte mit der Hand das Mikrofon, beugte sich zu ihm und flüsterte: »Ich hatte schon das Gefühl, dass es dazu kommen würde. Andere Länder haben ähnliche Probleme erlebt. Macht nichts.« Sie bedeutete Burt, sich auf den von ihr verlassenen Platz zu setzen, schaute nach hinten und nickte.
Der Sprecher brachte den Hammer so wuchtig zum Einsatz, Burt hätte nicht überrascht, wenn das Ding zerbrochen wäre.
»Mitglieder des Kongresses, ich habe das Privileg und die besondere Ehre, Ihnen die Präsidentin der Vereinigten Staaten zu präsentieren.«
Margaret tippte auf das Mikrofon und richtete die Aufmerksamkeit auf Senator Hoffman. »Mr. Hoffman ...«
»Madam President, es heißt ...«
»Halten Sie die Klappe, Sie Schwachkopf.« Margaret warf der Frau neben dem Podium einen Blick zu und flüsterte: »Schalten Sie deren Mikrofone aus.«
Danach fuhr sie fort: »Als ich die Ehre hatte, zur Präsidentin gewählt zu werden, habe ich gewusst, worauf ich mich einlasse. Ich wusste, dass ich viele Babys küssen, Truthähne begnadigen und Gesetze unterzeichnen würde. Bestimmt würde mich die eine oder andere Krise erwarten. Es würde gelegentliche Naturkatastrophen geben und die unvermeidlichen Streitereien mit dem Kongress über alberne Kleinigkeiten. Aber seien wir ehrlich: Das Amt war nie mit der Erwartung verbunden, die drohende Auslöschung der menschlichen Rasse bewältigen zu müssen.
Niemand hätte ein solches Ereignis vorhersehen können, und die Autoren unserer Verfassung haben keine Anweisungen für den Umgang mit einem solchen Weltuntergangsszenario in einem versteckten, nur für Präsidenten gedachten Brief niedergeschrieben.
Sehr wohl jedoch haben sie vorhergesehen, dass in Zeiten einer Rebellion oder Invasion eine starke Führung nötig sein würde – oder wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert. Sie haben gewusst, dass die Verantwortung am Ende unweigerlich auf den Schultern einer Person landen würde. Und dass es der Präsident oder die Präsidentin sein würde.
Senator Hoffmans hirnloser Wunsch, Politik mit dem Überleben der Menschheit zu vermischen, ist ein Beispiel dafür, wann es an der Zeit ist, dass ein Anführer den Schwachsinn abstellt und Hürden für diejenigen beseitigt, die wirklich helfen können wie Dr. Radcliffe.
In Anbetracht dessen habe ich keine andere Wahl, als Artikel 1, Absatz 9 der Verfassung geltend zu machen, wie es mein Recht ist. Ich hebe per sofortiger Wirkung den Habeas Corpus -Grundsatz auf und verhänge das Kriegsrecht.«
Burt beobachtete mit großen Augen, wie sich die Türen zum Saal öffneten, zig bewaffnete Soldaten hereinströmten und entlang der Wände in Position gingen. Er spähte zur Präsidentin und bemerkte ihren unerbittlichen, entschlossenen Ausdruck. Sie hatte geahnt, dass so etwas passieren könnte, und hatte für den Fall vorausgeplant.
»Bitte nehmen Sie Senator Hoffman in Gewahrsam.« Sie zeigte auf den dunkelhaarigen Politiker. Zwei Soldaten setzten sich in Bewegung, packten ihn an den Armen und zerrten den strampelnden, schreienden Politiker aus dem Saal.
»Mit dieser Erklärung setzte ich alle Ausschüsse im Kongress außer Kraft. Sie werden nicht mehr gebraucht, denn schon bald blüht uns allen eine Ausgangssperre und ein Umsiedlungsprozess. Ja, sogar mir. Die Einzelheiten besprechen wir zu einem späteren Zeitpunkt. Vorerst möchte ich Sie alle hier auf eine neue Reihe von Aufgaben einstimmen. Priorität für Sie hat, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung beizutragen.
In den kommenden Monaten werden wir viele Unannehmlichkeiten erleiden. Und wir brauchen Sie alle, damit Sie mit Ihren Bürgern kommunizieren und sie beruhigen. Das Letzte, was wir brauchen, sind Unruhen auf den Straßen. Und glauben Sie mir, gegen öffentliche Unruhen wird auf die härteste erdenkliche Weise vorgegangen.
Ist jemanden anwesend, der das Gefühl hat, diese Erwartungen nicht erfüllen zu können? Melden Sie sich jetzt, dann wende ich mich an den Gouverneur Ihres Staats und sorge dafür, dass Sie ersetzt werden, damit Sie nach Hause können. Falls ich aber herausfinde, dass jemand von Ihnen das Unterfangen irgendwie sabotiert oder gegen die Interessen der Menschen arbeitet, werden Sie auf unbestimmte Zeit eingesperrt. Auf jeden Fall, bis diese Krise vorüber ist.«
Burt starrte auf das Meer der Gesichter. Alle schienen zu Statuen erstarrt zu sein. Offensichtlich hatte niemand vor, sich mit dieser geradlinigen, entschlossenen Präsidentin anzulegen.
»Gut.« Margaret nickte. »Ich möchte noch ein feierliches Versprechen hinzufügen. Sobald die Gefahr gebannt ist, werde ich alles wieder so herstellen, wie es war. Glauben Sie mir, es bereitet mir keinerlei Freude, was ich gerade tue.«
Die Präsidentin warf Burt einen Blick zu. Mit einem kaum verhohlenen Lächeln fragte sie: »Sind Sie bereit für weitere Fragen? Ich denke, ab jetzt wird es produktiver laufen.«
Burt nickte, und die Präsidentin lehnte sich näher zum Mikrofon. »Da wird das nun geklärt haben, Dr. Radcliffe, hoffe ich, dass Sie über die unerfreuliche Ignoranz eines faulen Eis hinwegsehen können. Die meisten der hier Anwesenden sind wesentlich vernünftiger, und ich betrachte viele von ihnen als enge, persönliche Freunde. Sie werden Ihre Hilfe brauchen, um ihren Bürgern zu erklären, was vor sich geht.
Die Bühne gehört Ihnen.«