Kapitel Zwanzig

Neeta beobachtete, wie Dave einen der Weltraumanker von DefenseNet untersuchte. Es handelte sich um eine riesige Metallbox, locker fünf Tonnen schwer, und sie war einsatzbereit. Aber Dave bestand darauf, den Laser und den Rest der Ladung zu inspizieren. Er hob eine der Zugangsklappen an, um hineinzuspähen, und fragte: »Der Laser ist auf sechs Megawatt ausgelegt, richtig?«

»Ja.« Neeta nickte. »Den Leuten von der ISF ist letztlich eine Konstruktion gelungen, die im All zuverlässig funktioniert. Alles in allem können wir fast 200 Megawatt koordinierte Laserleistung ins Gefecht werfen, wenn wir einen heranrasenden Asteroiden ablenken müssen, damit er uns verfehlt.«

»Das wird nicht ausreichen«, verkündete Bella düster. Sie stand an der Wand des Versorgungsraums. »Auch wenn sich kleinere Objekte damit entschärfen lassen, größere sind ein Problem. Bei einem mehr als 30 Kilometer breiten Asteroiden würden die Laser nur Teile der Oberfläche abtragen und einen leichten Schubs bewirken, selbst wenn sie noch heute feuern könnten. Ein brauchbarer Effekt ließe sich nur erzielen, wenn der Asteroid noch weiter entfernt wäre.«

»Sie hat recht, Neeta«, sagte Dave. »Außerdem sind die Laser von DefenseNet auf dem Papier schön und gut. Und sie helfen der Öffentlichkeit zu verstehen, was wir tun. Aber was wir unmittelbar brauchen, liefern sie nicht wirklich. Die Zeit ist zu knapp, um sie wirksam gegen die heranrasenden Trümmer einzusetzen. Und wir wissen beide, dass sie gegen das schwarze Loch nicht das Geringste ausrichten können.«

Nachdem Dave die Seitenverkleidung wieder geschlossen hatte, starrte er auf den Text seitlich auf den mehrere Tonnen schweren, in den Weltraumanker eingebauten Komponenten. »Was ist mit der Batterie? Kann sie Versorgungsausfälle vom Boden verkraften, ohne den Laserbetrieb zu unterbrechen?«

»Für den Fall einer Unterbrechung der Stromversorgung vom Boden kann die Batterie genug Energie speichern, um die maximale Laserleistung etwa einen halben Tag lang aufrechtzuerhalten, bevor sie sinkt. Ich denke nicht, dass wir mehr brauchen.«

Dave warf ihr denselben Seitenblick wie immer zu, wenn sie etwas sagenhaft Dummes von sich gab. »Für unsere unmittelbaren Zwecke ist mir der Laser eigentlich schnurzegal. Der Laser ist dazu da, um den Rest zu rechtfertigen. Die Menschen können den Laser verstehen, aber nicht den Rest. Weißt du noch, dass ich im Lagebesprechungsraum gesagt habe, wir würden fast 75 Prozent der weltweiten Stromproduktion durch die sogenannten Aufzüge leiten? Ein Sechs-Megawatt-Laser braucht nicht mal annähernd so viel Energie. Wenn wir die Laser nur zur Objektabwehr bräuchten, hätten wir sie auch mit großen Solarstrom-Aggregatoren ins All schießen können. Damit hätten sie genug Energie für ihren Betrieb speichern können. Nein, wir werden insgesamt fast dreißig Terawatt Leistung in den angeschlossenen Ring am Ende der Aufzugsspeichen speisen.«

»Wow, ich hätte nicht gedacht ...« Neeta überschlug die Zahlen im Kopf. »Also, wenn wir 36 davon über uns haben, und wenn der Ring über die Batterien versorgt werden muss, glaub ich nicht, dass die gesamte nötige Leistung schnell genug aus ihnen bezogen werden kann. Und selbst wenn, wären sie innerhalb von Sekunden leer.« Neetas Augen weiteten sich, als sie sich einen glühenden Energiering um die Erde vorstellte. Erst da rasteten die Bilder auch visuell für sie ein. »Und die Batterien könnten einem solchen Leistungsfluss unmöglich standhalten. Sie würden in Flammen aufgehen.«

Dave bedachte Neeta mit einem wissenden Lächeln. »Keine Sorge, ich lasse ein paar von mir entwickelte Teile von der Mondbasis herbringen, wo ich mich die letzten Jahre versteckt hatte. Sie werden dabei helfen, die Leistung in den von mir so getauften Warp-Ring zu leiten und zu schalten. Nur, damit du Bescheid weißt: Bei meinen Experimenten konnte ich beim Erzeugen einer stabilen Blase durch den Gleichstrom aus einer Batterie wesentlich bessere Ergebnisse erzielen als mit Netzstrom. Ich habe das System nur deshalb mit den Batterien als Weltraumanker konzipiert, um Schwankungen im Strom aus unseren elektrischen Umspannwerken auszugleichen.«

Neeta schauderte. »Ich will mir gar nicht ausmalen, was passieren könnte, wenn wir in deiner Blase dahinrasen und sie in sich zusammenfällt.«

»Deshalb haben wir die Batterien«, antwortete Dave. »Ein paar Sekunden sollten für kurze Aussetzer reichen. Wir könnten sogar eine vollständige Abschaltung von ein oder zwei Speichen gleichzeitig überstehen. Die Versorgung vom Rest sollte ausreichen, um die Gravitationsblase aufrechtzuerhalten. Ich will aus einigen der von dir genannten Gründe bloß kein Risiko eingehen.« Dave versiegelte das Metallgehäuse des Weltraumankers wieder und richtete sich auf. »Sieht recht gut aus. Zeig mir, was mit den Graphen-Trommeln gemacht wird. Wenn wir dieses Monstrum nicht ins All und an die Stromversorgung hier unten angeschlossen bekommen, ist sowieso alles umsonst.«

* * *

Dave und Bella standen in der Nähe der Tür, während Neeta einen Aktenschrank in einem der überfüllten Lagerbüros der ISF-Zentrale durchstöberte. Es dauerte eine Weile, aber schließlich fand sie den Ordner mit Produktionsmustern, die sie kurz vor der Abreise an die Westküste für die Arbeit bei der NASA genehmigt hatte. Sie reichte Dave eine der Musterfolien des Graphens, das die ISF seither produziert hatte. »Wenn du es dir genau ansiehst, wirst du feststellen, dass es wesentlich dicker als mit den Produktionsmethoden ist, die du für die ursprünglichen Trommeln verwendet hast. Wir haben eine Möglichkeit gefunden, eine dickere Anordnung verschmolzener Graphen-Lagen herzustellen. Dabei bleiben sowohl die elektrische und thermische Leitfähigkeit als auch die strukturelle Integrität gewahrt.«

Dave schwenkte die nahezu durchsichtige Folie in der Luft und begutachtete sie im grellen Licht einer nahen Schreibtischlampe. Schließlich fragte er: »Wie viel haben wir davon hergestellt? Und kann die Produktion beschleunigt werden?«

Neeta blätterte einen Stapel Unterlagen durch und überflog die Bestände der verschiedenen ISF-Lagerhäuser in aller Welt. »Ich würde sagen, wir haben etwa 1,1 Millionen Kilometer Material, alles auf riesigen Trommeln und bereit für den Einsatz.«

Nach einem tiefen Seufzen murmelte Dave: »Das reicht nicht. Wir brauchen eher 1,6 Millionen Kilometer, wenn wir alle zehn Grad parallel zum Äquator einen Aufzug platzieren wollen.«

Neeta runzelte die Stirn. Sie wusste, dass es fast drei Jahre gedauert hatte, um zu produzieren, was sie auf Lager hatten. »Bist du sicher, dass wir so viel brauchen? Ich telefoniere mal rum und sehe zu, was sich machen lässt.«

In Bellas sonst so ruhiger Stimme schwang Besorgnis mit, als sie hervorplatzte: »Bei 36.800 Kilometern je Aufzug und 36 Aufzügen brauchen wir insgesamt 1.324.800 Kilometer von dem Band und weitere 272.000 Kilometer, um alle Weltraumanker miteinander zu verbinden.«

Mit einem herzlichen Lächeln streckte Dave die Hand nach Bella aus und massierte ihr den Nacken. »Wie von Bella gerade bestätigt habe ich wohl richtig gerechnet. 1.324.800 und 272.000 ergibt nicht ganz 1,6 Millionen Kilometer Material. Wenn wir nicht genug zusammenbekommen, können wir versuchen, den Abstand zwischen den Aufzügen zu vergrößern, damit es weniger werden. Aber ich bin mir nicht sicher, ob der steilere Winkel, durch den der Strom dann fließen würde, den Wirkungsgrad ...«

»Hör auf. Wir kriegen das irgendwie hin«, fiel Neeta ihm mürrisch ins Wort. Dann tippte sie an ihr In-Ear-Telefon und sagte: »Burt Radcliffe anrufen.«

Sie wartete, während das Handy einen Klingelton in ihr Ohr projizierte. Einmal ... zweimal ... Dann ging Burt ran. »Was willst du? Ich bin kurz vor einer Besprechung mit mehr Generälen, als ich je im Leben kennenlernen wollte.«

»Burt, wir haben Probleme«, sagte sie. »Wir haben nur etwa 70 Prozent des Graphens, das wir für Indigo brauchen. Ich glaube nicht, dass die Fabriken, die wir in Betrieb haben, die Differenz ausgleichen können, und wir haben nur fünf Monate, um ...«

Dave klopfte Neeta auf die Schulter, schüttelte den Kopf und flüsterte: »Vier Monate. Wir brauchen Zeit zum Testen aller Verbindungen zu den Kraftwerken und ...«

»Streich das, Burt, wir haben nur vier Monate. Kannst du was machen?«

»Ich kümmere mich darum, sobald ich die Besprechung hinter mir habe. Schick mir eine E-Mail mit den Einzelheiten. Schreib auch rein, welche Fertigungstechniker mit dem nötigen Knowhow wir kennen. Egal, wen wir wo hinschicken müssen, um andere Fabriken zu schulen, ich sorge dafür, dass wir es hinbiegen. Konzentrier du dich nur darauf, Dave bei der Umsetzung der Indigo-Lösung zu helfen. Ich kümmere mich darum, euch zu beschaffen, was ihr braucht. Du, ich muss jetzt los. Schick mir die Details.«

Damit wurde die Verbindung unterbrochen. Neeta drehte sich Dave zu und nickte knapp. »Wir bekommen, was wir brauchen.«

Dave schlang den Arm um Bellas Taille und drückte sie. »In der Zwischenzeit lasse ich die Modifikationen an den Weltraumankern erledigen. Während wir damit beschäftigt sind, kann Burt uns das nötige Material beschaffen. Und Neeta, kannst du rausfinden, wie weit wir damit sind, Strom in sämtliche Ankerstationen auf der Erde zu leiten? Ohne genügend Saft ist das alles sinnlos, wie du weißt.«

Neeta seufzte. Sie wusste, dass er recht hatte, und ihr widerstrebte zutiefst, dass ihr Leben plötzlich so kompliziert geworden war. Wieder mit Dave zusammenzuarbeiten, erinnerte sie an den Druck, den sie schon früher im Umfeld von jemandem verspürt hatte, der anscheinend über unbegrenzten Intellekt und unerschöpfliche Energie verfügte.

Sie vermisste die Arbeit mit Burt und dem Rest der Mannschaft am JPL.

»Ich habe mit dem Außenminister und dem Leiter des Energieministeriums gesprochen. Die Verbindungen von den nationalen Stromnetzen zu den Basisstationen sind mit fast allen arrangiert. Aber ich überprüfe das noch mal.«

Dave bedachte sie mit einem allzu vertrauten Gesichtsausdruck. Er setzte ihn immer dann auf, wenn sein Verstand auf Hochtouren arbeitete und er allmählich die Geduld mit den Leuten um ihn herum verlor. »Überprüf es sofort. Ich will in ein Shuttle und so bald wie möglich loslegen. Die erste Station südlich von uns ist in der Nähe von Quito in Ecuador. Ich will die Verbindungen nach und nach testen. Sie sind die Fehlerquellen. Verzögerungen können wir uns nicht leisten.«

»Gut. Ich suche mir irgendwo hier eine sichere Leitung und kümmere mich auf der Stelle darum.«

Als Neeta das Büro dicht gefolgt von Dave und Bella verließ, sehnte sie sich die ruhigen Zeiten herbei, die sie hatte, als sie sich nur um die Überwachung erdnaher Objekte kümmern musste.

* * *

Neeta, Dave und Bella waren vor wenigen Stunden auf dem Luftwaffenstützpunkt Mariscal Sucre in Quito in Ecuador eingetroffen. Neeta hatte mit schier unerträglicher Hitze gerechnet. Stattdessen bereitete ihr eher die Höhenlage Unbehagen. In über 2.400 Metern Höhe erwies sich zwar die Luft als kühl, aber der geringe Sauerstoffgehalt verursachte ihr entsetzliche Kopfschmerzen.

Man hatte ihnen eine Suite mit mehreren Schlafzimmern in einem recht noblen Hotel besorgt. Während Dave noch über die Pläne für den nächsten Tag sprach, war Bella eingeschlafen. Neeta saß zurückgelehnt auf einem Stuhl und wünschte, sie könnte ihre Kopfschmerzen loswerden.

Plötzlich klopfte es laut an der Tür der Suite. Neeta sprang auf und eilte hin. Als Dave sich hinter ihr näherte, spähte sie durch den Spion. Die vertraute Stimme eines der Agenten vom Secret Service dröhnte durch die Tür. »Dr. Patel, Dr. Holmes, ich habe eine Kuriersendung für Sie.«

Als Neeta die Tür öffnete, erwartete sie der harte Blick des Leiters ihres Sicherheitsteams. Hinter ihm stand eine Frau, die sich mit großen Augen einen Segeltuchbeutel der Größe eines Notebooks an die Brust drückte. Dave befand sich dicht hinter Neeta, als sich der Agent näher zu ihr beugte und im Flüsterton sagte: »Tut mir leid, Sie zu stören, aber der DCS hat etwas geschickt.« Er deutete auf die nervös wirkende Frau hinter ihm. »Sie hat etwas, das nur für Sie persönlich bestimmt ist. Dachte mir, es könnte dringend sein.«

Neeta fragte die Kurierin: »DCS?«

»Kurierdienst des Verteidigungsministeriums, Ma’am. Ich überbringe sichere Sendungen ...«

»Schon verstanden«, fiel Neeta ihr ins Wort und streckte die Hand aus. Die Kurierin reichte ihr den versiegelten Segeltuchbeutel. Eine knapp einen Meter lange Metallkette erstreckte sich vom Handgelenk der Frau zum Beutel.

Neeta warf einen Blick auf das dreiköpfige Sicherheitsteam vor der Suite. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass an jedem Ende des Flurs ebenfalls eine Handvoll Agenten stand. Sie fragte sich, ob sie von Anfang an hier gewesen waren oder ob sich etwas ereignet hatte.

»Verschwinden wir aus dem Gang«, schlug Dave vor.

Neeta drehte sich der Suite zu und bedeutete der Kurierin, ihr zu folgen.

Dave und Neeta nahmen ihre Plätze am Esszimmertisch ein, den ein Durcheinander aus Karten und gekritzelten Logistiknotizen übersäte. Die Kurierin stand mit ausdrucksloser Miene über Neeta. Einer der Leibwächter des Secret Service hielt anderthalb Meter entfernt Wache. Als Neeta den Beutel umdrehte, stellte sie fest, dass er nur den Namen des Hotels und ihre Zimmernummer aufwies. Ein strapazierfähiger Metallreißverschluss versiegelte die Tasche mit einem Fingerabdruckschloss. Neeta drückte den Daumen auf den Fingerabdruckscanner. Fast sofort hörte sie ein leises Klicken.

Die Frau nickte. »Dr. Patel, ich soll Ihnen mitteilen, dass sich die Tinte auf dem Papier nun, da sie mit Luft in Berührung gekommen ist, in 30 Minuten entzünden wird. Ich soll die Überreste des Dokuments in dem feuerfesten Beutel zurückbringen.«

Dave lehnte sich über Neetas Schulter, als sie einen Umschlag aus dem Kurierbeutel holte. Sie achtete nicht auf das »Streng geheim – INDIGO« in knallroten Buchstaben auf dem Umschlag und begann stattdessen, den Inhalt zu lesen.

Dr. Holmes und Dr. Patel,

Die Präsidentin hat darum ersucht, bestimmte Informationen an Sie beide weiterzugeben.

Wir haben Ihre Sicherheitsmannschaft vervierfacht und arbeiten an weiteren Maßnahmen, um Ihre Mission zu schützen.

Leider wurden wir auf eine Sicherheitsverletzung aufmerksam. Wir vermuten, dass sie von der in Andrews arbeitenden Wartungsmannschaft ausgeht. Trotz des Informationslecks glauben wir nicht, dass Ihre Mission kompromittiert wurde.

Unsere Geheimdienstmitarbeiter haben eine Übertragung abgefangen, aus der hervorgeht, dass Dr. Holmes zur Zielscheibe geworden ist.

Seien Sie versichert, dass wir für Ihre persönliche Sicherheit sorgen.

------------------------------------------------------

Datum der abgefangenen Übertragung: 13. JULI 2066

Zeitstempel: 13:51 GMT

»Es wurde ein außerplanmäßiger Militärflug zum internationalen Flughafen Mariscal Sucre mit Genehmigung der Präsidentin gebucht.

Dr. David Wendell Holmes geht gerade mit mehreren anderen nicht identifizierten Zivilisten an Bord. Seine Gruppe wird von einem starken Sicherheitskontingent begleitet.«

------------------------------------------------------

Datum der abgefangenen Übertragung: 13. JULI 2066

Zeitstempel: 15:23 GMT

Automatisch übersetzt aus: Bulgarisch

»Gelobt seien Gott und alle seine Gläubigen. Armageddon ist nah.

Nur durch den Willen des Herrn kann sich der Erlöser zeigen. Aber wir haben die Bestätigung erhalten, dass die ecuadorianische Regierung mit den USA an etwas zusammenarbeitet, das die gesamte Bruderschaft betrifft.

Ein amerikanischer Wissenschaftler namens David Wendell Holmes trifft laut Flugplan mit einem amerikanischen Militärtransporter auf dem internationalen Flughafen Mariscal Sucre ein. Sein plötzliches Auftauchen ist beunruhigend. Wir befürchten, dass er daran arbeitet, Gottes Plan zu ändern. Er muss um jeden Preis aufgehalten werden; Gottes Wille muss geschehen. Niemand darf sich einmischen.

Scheut keine Kosten und Mühen und zeigt keine Gnade.

BR«

Neeta lief ein eiskalter Schauder über den Rücken, während sie auf das Papier starrte. Wenn diese Wahnsinnigen wussten, wohin sie unterwegs waren, mussten sie die Information von jemandem innerhalb der Regierung haben. Mit besorgter Miene drehte sie sich zu Dave um. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und starrte ins Leere.

Der für ihre Sicherheit verantwortliche Agent drückte die Hand auf seinen Ohrstöpsel, bevor er sich an Neeta und Dave wandte. »Das Hotel ist abgeriegelt und wird in diesem Augenblick durchsucht. Die Fenster in dieser Suite sind kugelsicher. Ihnen passiert also nichts, wenn Sie bis zur Abfahrt zum Ankerplatz hierbleiben. Auf dem Weg dorthin werden wir eine umfangreiche Eskorte haben.«

Mit einem tiefen, zittrigen Atemzug stopfte Neeta das Papier zurück in den feuerfesten Beutel, übergab ihn der Kurierin und flüsterte: »Richten Sie aus, wir bedanken uns, dass man uns Bescheid gegeben hat.«

* * *

Offensichtlich fand ein Angriff auf das Hotel statt, während sie schliefen. Aber da weit über hundert Soldaten ihren Standort bewachten, hätte Neeta nie davon erfahren, wenn ihr Sicherheitsteam sie nicht beim Frühstück darüber informiert hätte.

Zielscheibe religiöser Spinner zu sein, jagte ihr solche Angst ein, dass sie es zuerst für unmöglich hielt, sich davon abzulenken. Aber die ruppige Fahrt durch den Dschungel schaffte es.

Ihrer Eskorte war es tatsächlich gelungen, ein Transportmittel zu finden, dass Neeta noch schlimmer fand als ein Flugzeug. Auf dem Weg zu ihrem 150 Kilometer west-nordwestlich von Quito gelegenen Ziel holperte das ecuadorianische Militärfahrzeug derart über unbefestigte Straßen, hatte Neeta das Gefühl, all ihre Gelenke würden aus den Pfannen gerüttelt. Sie entwickelte einen inständigen Hass auf den Transporter.

Bella und Dave, die ihr gegenübersaßen, wirkten unbeeindruckt von den chaotischen Umständen. Tatsächlich plapperte Dave ununterbrochen, seit sie das Hotel etwas außerhalb der ecuadorianischen Hauptstadt verlassen hatten. Während er unablässig über die kleinsten Details beim Zusammenbau der Weltraumaufzüge auf dem Mond faselte, schweiften Neetas Gedanken ab.

Sie war sich nicht sicher, was ihr mehr Übelkeit verursachte – der beißende Gestank der Auspuffgase des Wagens, der penetrante Geruch verrottender Vegetation im umliegenden Dschungel oder das Holpern im Fond. Die Gerüche hingen durchdringend in der warmen, feuchten Luft. Neeta hatte Mühe, sich nicht zu übergeben, während sie sich krampfhaft an der mit der Ladefläche des Militärfahrzeugs verschweißten Sitzbank festklammerte. Sie schaute zum Heck und sah vier Männer in bunten Hawaii-Hemden. Ihnen schien es genauso elend zu gehen wie ihr. Die Männer bildeten nur einen kleinen Teil der von der Regierung abgestellten Sicherheitsmannschaft.

Ihrem Transporter folgte eine Kolonne identischer Fahrzeuge, angeführt wurde der Konvoi von noch mehr Transportern. Insgesamt hatte die ecuadorianische Armee eine volle Kompanie schwer bewaffneter Soldaten geschickt, um sie durch den Dschungel zu ihrem Ziel zu eskortieren.

Neeta war nicht daran gewöhnt, dass sie Schutz vor jemandem brauchte. Erst recht nicht den Schutz von deutlich über 100 Soldaten. Doch obwohl die Dschungel als sicher galten, wollte weder die ihre eigene noch die ecuadorianische Regierung ein Risiko bei den Wissenschaftlern eingehen, insbesondere bei Dave nicht.

»Dr. Patel, Dr. Holmes«, sagte einer der Agenten des Secret Service mit einem Finger am Ohr. »Der befehlshabende Offizier unserer Eskorte fährt vor uns und meldet, dass es noch acht Kilometer zum Ziel sind. Bei unserem derzeitigen Tempo etwa zehn Minuten. Außerdem habe ich gerade einen Statusbericht von der ISF-Überwachungsmannschaft aus Quito erhalten. Das Leitsystem des Aufzugs ist beim Abstieg gerade in die Erdatmosphäre eingedrungen.«

Neeta richtete den Blick auf Dave. Er schaute in Bellas Richtung und beobachtete fasziniert, wie sie seinen Arm leicht berührte. Wortlos starrten sich die beiden gegenseitig an. Plötzlich drehte sich Dave zu Neeta um.

»Perfektes Timing«, meinte er. »Wahrscheinlich haben wir in etwa 20 Minuten Sichtkontakt mit dem Leitsystem.« Er zwinkerte Neeta zu. »Ich merke dir an, dass du dich in der Hitze hier elend fühlst. Offen gestanden hätte ich bei deiner indischen Herkunft gedacht, du wärst daran gewöhnt. Ich versprech dir, dass wir so kurz wie möglich bleiben.«

Neetas Rücken versteifte sich, als sie ungläubig die Augenbrauen hochzog. »Echt jetzt? Ich bin in London geboren, du Arsch. Zufällig bin ich an Klimaanlagen, kaltes Wetter und Nebel gewöhnt. Gerade von dir hätte ich nicht erwartet, dass du mich wegen meiner Hautfarbe in eine Schublade steckst.«

Dave brach in Gelächter aus und schüttelte den Kopf. »Neeta, mich begeistert immer wieder, wie leicht ich dich aus der Fassung bringen kann. Du bist noch so kratzbürstig wie eh und je.«

Bella wischte sich eine verschwitzte rote Strähne aus dem Gesicht. Mir verdutzter Miene schaute sie zwischen Dave und Neeta hin und her.

Neeta lag der Konter auf der Zunge, dass er als Schwarzer die Hitze wohl wegen seiner afrikanischen Herkunft besser vertrug. Aber sie beherrschte sich und starrte ihn nur finster an. Der Mistkerl sah tatsächlich putzmunter aus und schwitzte kein bisschen. Im Verlauf der Jahre, die sie Dave schon kannte, hatte er sich als einer der wenigen erwiesen, die sie wegen ihrer Befindlichkeiten in Hinblick auf Stereotypen aus der Reserve locken konnte. Als sich ihre Wut legte, wurde ihr peinlich, wie sie reagiert hatte.

Sie sammelte das lange, verschwitzte Haar zusammen und begann, es zu einem praktischeren Zopf zu binden. Dabei warf sie Dave ein schiefes Grinsen zu und brummelte: »Manchmal kann ich dich echt nicht ausstehen.«

Dave lehnte sich mit zufriedener Miene zurück. »Nur, weil ich immer recht habe.«

Neeta verdrehte die Augen und grunzte frustriert.

* * *

»Daddy, wann kommst du nach Hause?«, fragte Emma. Ihre Stimme dröhnte aus der Freisprecheinrichtung in Strykers kleinem Hotelzimmer.

»Weiß ich noch nicht genau, Schatz. Sobald ich mit der Arbeit fertig bin.«

»Hey, weißt du was?«, flüsterte die Sechsjährige.

»Was?«, fragte Stryker, während er sich am Waschbecken im Badezimmer zu Ende rasierte.

»Mama sagt, die Armee ist kacke. Aber sie hat nicht kacke gesagt, sondern das ›Sch‹-Wort.«

Stryker wischte sich das Gesicht mit einem Handtuch ab und stellte sich vor, wie verdattert Emma dreingeschaut haben musste, als seine Exfrau die Armee als »scheiße« beschrieben hatte. Als Lainie und er verheiratet waren, hatte sie noch viel fantasievollere Ausdrücke dafür benutzt.

»Sie hat echt das ›Sch‹-Wort benutzt?« Er lächelte und hoffte inständig, Emma würde sich ihre Unschuld einer Sechsjährigen so lange wie möglich bewahren. »Na ja, weißt du, manchmal regt sich deine Mama leicht auf.«

»Sie hat’s auch nicht so gemeint. Ich hab zu ihr gesagt, dass es nicht nett war, so was zu sagen, und sie hat sich entschuldigt.« Im Hintergrund ertönte laut Lainies Stimme, und Emma flüsterte: »Okay, ich muss auflegen. Mama ruft mich für die Schule.«

»Hab dich lieb, Emma.«

»Hab dich auch lieb. Bis dann.«

Der Rufton dröhnte wiederholt aus dem Lautsprecher, dann ende die Verbindung. Gespenstische Stille trat ein.

Stryker betrachtete sich im Spiegel. Die dunklen Ringe unter den Augen und der abgehärmte Gesichtsausdruck zeugten von den langen Arbeitsstunden. »Jon«, sagte er zu sich, »du siehst scheiße aus.«

Er warf einen Blick auf die Uhr am Nachttisch und stellte fest, dass ihm bis zum Treffen mit seinen Zugleitern volle sechs Stunden Zeit blieben.

Genug, um die letzten Geheimdienstberichte durchzugehen, die der Captain ihm übermittelt hatte.

Plötzlich ertönte vom Nachttisch ein lautes Summen. Nach zwei schnellen Schritten griff er sich das vibrierende Handy und hielt es sich ans Ohr. »Hallo?«

»Lieutenant Stryker?«

Es war Mia. Obwohl er sie vor Wochen zuletzt gesehen hatte, erkannte er die Stimme auf Anhieb.

»Ihnen ist klar, dass wir noch nicht mal 0600 haben, oder?«

»Tut mir leid, aber ich habe gerade mit meinem Bruder gesprochen. Er hat mir Informationen gegeben, die Sie vielleicht nützlich finden. Ich wollte gerade frühstücken gehen. Interessiert?«

Er schaltete das Gespräch auf Lautsprecher und wechselte zur Stadtplan-App. »Wo?«

»Das Lokal heißt The Corner Diner. Hier in meiner Gegend an der Ecke Leber und Rainier Lane.« Strykers Telefon vibrierte kurz. »Ich habe Ihnen gerade die Koordinaten geschickt.«

»Angekommen. Ich bin in Kürze dort.«

Stryker legte auf, vergewisserte sich, dass seine Pistole sicher im Holster saß, und fragte sich, was der Bruder der Polizeichefin ihr erzählt haben könnte.

Er griff sich die Autoschlüssel vom Nachttisch und spürte, wie sich seine Lippen beim Gedanken, Mia wiederzusehen, zu einem Lächeln verzogen.

Ein Frühstück mit einer attraktiven Frau. Keine schlechte Art, den Tag zu beginnen.

* * *

Stryker betrat das lärmende Lokal. Trotz der frühen Stunde strotzte es bereits vor Gästen, die sich lautstark unterhielten. Im Hintergrund lief ein Oldie-Radiosender, der etwas von Taylor Swift spielte.

Der Laden versprühte eine andere Atmosphäre als die der New Yorker Lokale, die Stryker kannte. Der Geruch von Speck erfasste ihn mit der Wucht eines Trucks.

Die meisten Gäste sahen nach Bauarbeitern aus. Viele hatten gelbe Schutzhelme dabei, die sie entweder auf dem Tisch oder unter dem Stuhl abgelegt hatten.

Stryker hingegen trug seine Tarnuniform und fiel auf wie ein bunter Hund.

Während er sich im Restaurant umsah, spürte er, wie sich die Aufmerksamkeit von zehn oder mehr Arbeitern in der Nähe auf ihn richtete. Die Gespräche wurden leiser, während er Ausschau nach der Polizeichefin hielt.

»Stryker!« Mias Stimme drang durch die Musik und das Gemurmel der Gäste des Lokals.

Er schaute nach links. Sie winkte ihm von einem der Tische auf der anderen Seite des Gastraums zu.

Als er auf sie zuging, konnte er kaum ein Lächeln unterdrücken. Mia trug Zivilkleidung und das Haar offen, noch feucht vom Duschen.

Sie sah fantastisch aus.

Als er sich auf dem Sitz ihr gegenüber niederließ, kam eine grauhaarige Kellnerin und fragte: »Was kann ich euch bringen?

Mia sagte: »Hi, Debbie. Für mich das Übliche.«

Die Kellnerin tippte ein paar Mal auf den Touchscreen ihres Tablet-PCs. »Drei Waffeln mit braunem Zucker, zwei Scheiben Speck, extra knusprig, zwei Rühreier, einmal Rösti und Kaffee schwarz.«

Stryker starrte Mia mit offenem Mund an. »Du meine Güte, das ist ...«

»Ich bin ein Frühstücksmensch.« Mia lächelte verlegen und zuckte mit den Schultern.

»Sieht ganz so aus.«

Die Kellnerin drehte sich ihm zu. »Und du, Schätzchen? Was hättest du gern?«

»Kaffee. Und habt ihr Plunder?«

»Keine Plunder, aber Milchbrötchen mit Himbeerfülle, wenn du willst.«

»Nehme ich.«

»Sahne, Zucker, Vanille, Zimt?«

»Nein, schwarz und reiner Kaffeegeschmack passt schon.«

»Sonst noch was?«

»Nein, das reicht. Danke.«

Die Kellnerin tippte auf ihr Tablett, bevor sie zu einem anderen Tisch weiterzog.

»Ein Milchbrötchen?« Mia zog eine Augenbraue hoch und sah ihn fragend an. »Lieutenant, hat Ihnen noch niemand gesagt, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tags ist? Das ist ja bloß ein Snack.«

Eine Kellnerin mit einem Tablett voll Getränken lief vorbei, stellte wortlos zwei Becher Kaffee auf dem Tisch ab und marschierte weiter.

Stryker zuckte mit den Schultern. »Schätze, ich bin eher der Typ fürs Abendessen. Übrigens, ich bin Jon und kann meinetwegen gern auch geduzt werden.«

»Geht klar, und solange ich nicht in Uniform bin, kannst du mich ruhig Mia nennen.« Sie schob einen weißen Umschlag über den Tisch. »Das hat Billy mir gegeben. Es ist Raven Millers DD-214.«

»Also war Raven beim Militär? Wie ist dein Bruder an seine Entlassungspapiere bekommen?« Stryker öffnete den Umschlag und überflog den Inhalt.

»Ich hab ihn nicht gefragt.« Mia zuckte mit den Schultern. »Billy hatte schon immer ein Talent dafür, an Dinge ranzukommen, an die er nicht rankommen sollte. Nichts wirklich Illegales, aber du weißt schon ... Manchmal halte ich es für klüger, nicht nachzufragen. Was diesen Raven angeht, merke ich, dass Billy ihn unbedingt geschnappt haben will.«

Stryker trank einen Schluck von dem starken Kaffee und schüttelte den Kopf, während er in den Entlassungspapieren des Verdächtigen las. »Raven Blackfeather Miller. Eingerückt in Fort Benning, Qualifikation für die Special Forces in Fort Bragg, danach vier Jahre als Waffenspezialist bei den Special Forces. Der Typ war kein bloßer Mitläufer.«

Stryker faltete die Akte zusammen und steckte sie zurück in den Umschlag, als eine Kellnerin mit ihrer Bestellung erschien.

Mit dem schwer beladenen Teller Essen vor sich machte sich Mia über ihr Frühstück her.

Sie biss von einem Speckstreifen ab, zeigte mit dem Rest in seine Richtung und sagte: »Billy hat mir erzählt, dass Raven so was wie Bombenspezialist war. In den 50er Jahren, als in Rumänien diese Terroranschläge verübt wurden, hat er viel Zeit in Osteuropa verbracht. Du weißt schon, als sich die Muslime und die Christen gegenseitig an die Kehle gegangen sind.«

Vor seinem geistigen Auge sah Stryker die ausgebrannte Hülle der Moschee, in der er viele seiner Männer verloren hatte. In Bukarest, der Hauptstadt Rumäniens: 3. Oktober 2055.

Strykers rümpfte die Nase, als er die zehn Jahre zurückliegenden Momente noch einmal durchlebte. Ein beinah überwältigender Geruch von verbranntem Fleisch beherrschte seine Sinne. Er schluckte schwer gegen die aufsteigende Galle an. Seine Männer und er sollten eine alte Moschee in der Nähe des Messegeländes Romexpo bewachen. Die christlichen Separatisten hatten mit derselben Taktik, die man gegen sie eingesetzt hatte, einen Vergeltungsschlag gegen die muslimische Andachtsstätte ausgeführt. Damit hatte niemand gerechnet.

Selbstmordattentäter.

»Jon? Was ist los?«, fragte Mia.

Kopfschüttelnd griff Stryker nach seinem Kaffeebecher und trank einen ausgiebigen Schluck. Die noch dampfende Flüssigkeit brannte seine Kehle hinab und nistete sich warm in seinem Magen ein. Er konzentrierte sich wieder auf Mias braune Augen. »Nichts.«

Er holte tief Luft. »Dieser Sergeant Miller wurde unehrenhaft entlassen. Dem muss ich nachgehen. Sonst noch was, das dein Bruder über ihn erfahren hat? Wohin er gegangen ist oder so?«

»Na ja, jemand aus Billys Gruppe ist an einer Vergiftung gestorben.« Mia schob sich ein großes Stück einer in Sirup ertränkten Waffel in den Mund. Sie kaute kurz, schluckte, beugte sich vor und flüsterte: »Er hat Cookie geheißen. Niemand kennt seinen richtigen Namen, aber er hat für alle gekocht. Anscheinend hat Cookie am Tag, als Raven verschwunden ist, wie immer das Essen zubereitet, als er plötzlich umgekippt und gestorben ist.

Cookie war alt. Hätte auch ein Herzinfarkt sein können. Aber aus irgendeinem Grund hat Billy etwas von dem Eintopf, den Cookie zubereiten wollte, an einen der Hunde verfüttert. Das Tier ist auch gestorben.«

»Also wollte dieser Raven alle vergiften und dann abhauen?« Stryker ballte die Hände zu Fäusten, als er an den Versuch seines Ex-Partners zurückdachte, ihn unter Drogen zu setzen.

»Scheint so. Falls du meinst, es hilft, hat mein Bruder angeboten, dich zu der Stelle zu führen, wo er den Hund begraben hat. Das Gift könnte noch nachweisbar sein.«

Stryker schürzte die Lippen, als der spanische Text des 50 Jahre alten Songs »Despacito« durch die Lautsprecher an der Decke dröhnte.

»Darauf komme ich vielleicht noch ...« Eine schrille Rückkoppelung kreischte aus den Lautsprechern, bevor sie verstummten und nur noch ein statisches Knistern aus ihnen drang.

Mia schaute zur Decke. »Was zum Geier war das?« Sie tippte auf das In-Ear-Telefon in ihrem Ohr. »Hi, Meredith, was gibt’s?«

Stryker musterte die Miene der Polizeichefin, während sie mit Meredith sprach. Die Fältchen um ihre Mundwinkel vertieften sich.

»Ist nicht nötig, einen Wagen loszuschicken. Ich bin nur fünf Minuten entfernt. Ich seh mir das mal an. Außerdem ist er wahrscheinlich bloß eingeschlafen.«

Mia tippte erneut auf das In-Ear-Telefon, und Stryker fragte: »Ein Anruf aus der Zentrale?«

»Ja, jemand hat sich über einen Vorfall beim Radiosender beschwert.«

Stryker runzelte die Stirn und deutete mit dem Daumen zu den Deckenlautsprechern, die immer noch ein knisterndes Rauschen übertrugen. »Du meinst eine Beschwerde darüber?«

Mia nickte.

Eine dunkle Vorahnung überkam ihn. Seine Nackenhaare sträubten sich. »Unsinn. So schnell kann auf keinen Fall jemand bei der Zentrale angerufen haben.«

Mias Augen weiteten sich. Ihr Gesichtsausdruck wurde skeptisch. »Der Sendeturm ist keine anderthalb Kilometer von hier«, erklärte sie, als er nach seinem Handy griff.

Erst vor zwei Tagen hatte der Befehlshaber der 42. MP-Brigade ihn und den Rest ihres Bataillons darüber informiert, dass man im ganzen Land mit Blockaden ziviler Kommunikation beginnen würde.

Seitdem hatte er nichts mehr gehört, aber vielleicht war das der Anfang.

Stryker rief eine Kurzwahlnummer an, hielt sich das Telefon ans Ohr und hörte: »Cohen.«

»Cohen, Ihr Team durchkämmt das Gelände knapp außerhalb des Tals von Orting, richtig?«

»Ja, Sir. Wir gehen einer Spur nach, die wir von der Polizei von Pierce County bekommen haben. Was gibt’s?«

»Ich sitze gerade mit der Polizeichefin von Orting zusammen. Sie und ich gehen zum Sendeturm. Er liegt ...« Stryker sah Mia an und hielt das Mikrofon des Handys in ihre Richtung.

»Er steht dort, wo die Forellenzucht den Canyonfalls Creek kreuzt«, sagte sie. »Ist ein 30 Meter hoher Turm mit einem zweigeschossigen Gebäude unten und einem kleinen Parkplatz. Kaum zu verfehlen.«

»Alles verstanden, Cohen?«

»Verstanden, Sir. Wir sind etwa zehn Minuten entfernt. Wonach sollen wir suchen?«

»Wir treffen uns dort, dann sehen wir weiter.«

Mia legte mit verwirrter Miene den Kopf schief. »Glaubst du wirklich, dass dafür Verstärkung nötig ist? Wahrscheinlich ist dort bloß ein Generator ausgefallen oder so. Weißt du irgendwas?«

Er ignorierte ihre Frage, hob einen Finger und wählte eine andere Nummer.

»Was gibt’s, Stryker?«

»Captain, wir haben eine mögliche Aktivität in einem örtlichen Sendeturm. Hat die Operation, von der Colonel Gibbons gesprochen hat, schon begonnen?«

»Mir ist nicht bekannt, dass in Ihrer Gegend schon etwas aktiviert worden ist, aber ich bin vielleicht nicht auf dem letzten Stand. Ich überprüfe das und gebe Ihnen Bescheid. Passen Sie da draußen auf sich auf, hören Sie?«

»Ja, Sir. Danke, Sir.«

Der Anruf endete. Stryker biss rasch von seinem Gebäck ab, ließ ein paar Scheine auf dem Tisch zurück und stand auf. »Gehen wir.« Er warf einen Blick auf Mias zierlich Gestalt. »Trägst du eine Schutzweste?«

Sie wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und schnaubte frustriert, als sie aufstand. »Keine Sorge, ich hab die Weste im Kofferraum und meine Dienstwaffe immer bei mir.« Mia legte ebenfalls Geld auf den Tisch, gab der Kellnerin ein Zeichen und trat den Weg zum Ausgang an.

* * *

Stryker legte den Kopf nach rechts schief und hörte, wie ein Halswirbel knackte, als er das Auto durch den Verkehr schlängelte. Sein Navigationssystem behielt Mias Fahrzeug im Auge.

Als sie von der Hauptstraße abbogen und auf einem Feldweg entlang des Puyallup River weiterfuhren, klingelte das Mobiltelefon. Stryker lehnte sich vor und tippte auf die Rufannahme auf dem Touchscreen des alten Chevy.

»Stryker?« Die Stimme des Captains dröhnte durch die Autolautsprecher.

»Ja, Sir?«

»Ich habe gerade die G2-Information für Ihr Gebiet bekommen. Sieht so aus, als hätten die Blockaden aller kommerziellen Frequenzen begonnen. In der nächsten Stunde wird über Notkanäle eine Mitteilung darüber an alle Einwohner im Bundesstaat Washington ausgestrahlt.«

Ein kalter Schauder lief Stryker über den Rücken. »Scheiße! Entschuldigung, Sir. Aber wenn alle Frequenzen blockiert werden, muss es sich um mehr als irgendeine lokale Terroristenzelle handeln. Was ist los?«

Zehn Sekunden lang drangen nur die Geräusche schwerer Atmung über die Leitung. Lief der Mann gerade?

»Stryker, ich weiß es nicht, und ich habe dieselben Fragen wie Sie. Ich gehe damit die Befehlskette rauf. Mal sehen, was ich rausfinden kann. In der Zwischenzeit tun Sie einfach, was Sie tun müssen.«

»Verstanden. Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben.«

Der Anruf endete in dem Moment, als er auf einen abgelegenen Parkplatz in der Nähe eines 30 Meter hohen Sendeturms fuhr.

Stryker rollte neben Mias Polizeiwagen und sprang aus dem Auto.

Die Polizeichefin stand hinter dem Streifenwagen und hielt sich eine Hand übers Ohr, als er sich näherte. »Geh schon ran, verdammt.«

Ihr Blick schwenkte vom Gebäude zu einem anderen Auto auf dem Parkplatz und wieder zurück.

Dann schüttelte sie laut seufzend den Kopf. »Der alte Kauz ist wahrscheinlich wieder eingeschlafen. Er geht nicht ans Telefon.«

»Der alte Kauz?«

»Wendell Litchford. Ein netter alter Kerl, der den Radiosender betreibt.« Mia deutete mit dem Daumen auf einen alten Buick, der auf dem Parkplatz stand. »Der gehört ihm. Wäre nicht das erste Mal, dass er an der Konsole einschläft und der Sender nur leere Luft überträgt. Ich gehe voraus und sehe mal nach.«

»Moment.« Stryker bedeutete ihr, zu warten, als er zu seinem Wagen ging. Cohen war mit dem Ermittlerteam noch nicht eingetroffen, und er sollte Mia eigentlich nicht bei der Arbeit in die Quere kommen.

Außerdem durfte er ihr nichts von den Signalblockaden sagen. Aber irgendetwas fühlte sich nicht richtig an.

Er entriegelte den Kofferraum seines Wagens, öffnete eine große Reisetasche und holte eine kameraähnliche Vorrichtung daraus hervor.

»Was ist das?«

Stryker schaltete die FLIR-Gerät ein und betrachtete durch das Okular das Gebäude. »Eine Wärmebildkamera.«

Er schwenkte die Kamera über das Bauwerk. Im Sucher wirkte es fast so, als wären die Außenwände verschwunden, und er erblickte im Inneren verschiedene Blautöne mit einem orange-roten Objekt dazwischen.

»Sieht so aus, als wäre da drin eine Person, anscheinend im ersten Stock.«

»Und bewegt sich die Person?«, fragte Mia.

Nachdem Stryker einige Sekunden lang auf das farboptimierte Wärmebild gestarrt hatte, richtete sich die Gestalt aus sitzender Position auf. »Ja, wer immer da oben ist, derjenige schläft nicht.«

Mia schnaubte. »Ich bezweifle stark, dass ich von einem über 70-jährigen Großvater viel zu befürchten habe.«

Stryker verstaute die Kamera wieder, schloss den Kofferraum und eilte hinter Mia her, die bereits den Weg zum Gebäude angetreten hatte.

Vermutlich versuchte der alte Mann, herauszufinden, was mit dem Radiosignal des Senders los war.

Mia öffnete die Eingangstür des Senders. Sie schwang mühelos auf. Die Polizeichefin ging hinein und rief: »Mr. Litchford?«

Als Stryker ein metallisches Klirren von der Treppe hörte, griff er nach seiner Handfeuerwaffe.

Mia bewegte sich auf das Geräusch zu. Ihm fiel auf, dass auch sie den Verschluss am Holster ihrer Dienstwaffe löste. »Mr. Litchford?«

Ein irres Lachen hallte durch den Betonkorridor, unmittelbar gefolgt von einem Schluchzen.

Stryker sichtete einen kahlen Mann Mitte 70, der am Fuß einer Metalltreppe saß. Er presste die Hände gegen die Schläfen, wippte vor und zurück und murmelte dabei etwas vor sich hin.

Stryker trat neben Mia, zeigte auf den Mann und flüsterte: »Er hat etwas in der rechten Hand.«

Die Polizeichefin bewegte sich näher hin. Stryker folgte ihr mit gezückter Waffe.

Der alte Mann schluchzte und wiederholte immer wieder: »Es tut mir leid«.

»Mr. Litchford«, redete Mia in beruhigendem Tonfall auf ihn ein. »Was ist los?«

Litchford schaute zu Mia auf, bevor er den Blick der blutunterlaufenen Augen auf Stryker richtete. »Die Stimmen ... Ich konnte nicht anders. Aber jetzt sind die Stimmen weg. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«

Stryker konnte nicht richtig erkennen, was der Mann mit der rechten Hand umklammerte, aber ihm gefror das Blut in den Adern, als er einen Draht bemerkte, der seinen Arm entlang verlief.

Mia trat noch einen Schritt näher. Stryker packte sie am Gürtel und zischte: »Zurück!«

Der alte Mann stöhnte. »Es tut mir leid. Ich kann einfach nicht mehr.«

Ohne auf eine Reaktion von Mia zu warten, riss Stryker sie nach hinten. Im selben Moment fegte eine Druckwelle sie beide von den Beinen.

Die Welt neigte sich in seltsamen Winkeln. Stryker krachte auf den Boden. Die Luft wurde ihm explosiv aus der Brust gepresst, als Mia schwer auf ihm landete.

Sofort füllte Rauch den Gang aus. Auf den Lippen nahm er den Kupfergeschmack von Blut wahr.

Stryker mühte sich auf die Beine, hob Mias erschlafften, blutenden Körper hoch und kämpfte sich zum Ausgang des Gebäudes.

Als er hinaus ins Tageslicht stolperte, packten ihn mehrere Hände. Er hörte Cohens Stimme kaum, als der Sergeant seinen Männern Befehle zurief.

Strykers Knie knickten ein, und er fühlte, wie er hochgehoben und weg von dem Gebäude getragen wurde.

Seine Sicht verschwamm, und er schloss die Augen. Ein überwältigender Anflug von Übelkeit schwappte über ihn hinweg.

Vor seinem geistigen Auge sah er nun deutlich den an der Sprengstoffweste des alten Mannes befestigten Totmannschalter.

Die Anordnung hatte er schon einmal gesehen ... in Rumänien.

Als er spürte, wie er auf den Boden gelegt wurde, wandten sich seine Gedanken der Polizeichefin zu.

»Mia.« Er stöhnte, als jemand etwas gegen seine Stirn drückte.

Dann kniff ihn jemand in den Arm, und er hörte Cohen etwas über eine Infusion brüllen.

Stryker versuchte, die Augen zu öffnen, aber Schwärze raste auf ihn zu, und alles wurde still.

* * *

Neeta erklomm das große Betongebäude mitten im ecuadorianischen Dschungel. Dave stand am Fuß eines drei Meter hohen Metallgerüsts mit einem roten Stroboskoplicht an der Spitze. Seine Aufmerksamkeit galt einem großen Tablet-PC mit einer 30 Zentimeter langen Antenne, die gen Himmel gerichtet aus der Seite ragte.

Obwohl sie sich auf dem Dach eines zwölf Meter hohen Gebäudes befand, spürte und hörte Neeta das Summen des elektrischen Umspannwerks unter ihr. Als sie über den Rand blickte, stellte sie fest, dass die Soldaten einen Schutzring um die Station gebildet hatten. Sie schüttelte den Kopf. »Sieht so aus, als wären wir in Sicherheit, falls Bigfoot oder der Chupacabra anzugreifen versucht.«

»Sie tun nur, was man ihnen sagt.« Dave lächelte, während er auf den Touchscreen tippte. »Wenn du nach oben schaust, sollte es jeden Moment aus den Wolken hervorbrechen, in drei ... zwei ... eins ...«

Neeta schirmte die Augen gegen die Sonne ab, legte den Kopf zurück und schaute auf, als ein dunkles Objekt hoch über ihnen durch die Dunstschleier auftauchte. Ihr Herz vollführte einen Satz, und sie rief: »Ich seh es! Aber es ist nicht ganz über uns.«

»Keine Sorgen«, erwiderte Dave und entfernte sich von der Mitte des Dachs. »Wahrscheinlich haben die Wolken das Steuersignal leicht verzerrt, aber der Rover sollte sich automatisch zentrieren. Schau zu.«

Neeta starrte hin, während der dunkelgraue Fleck größer wurde. Der Klang von Triebwerken wurde lauter, als sich das Objekt näherte. Sie wollte schon fragen, ob das Graphen-Band gerissen war. Dann jedoch sah sie das Funkeln des reflektierten Sonnenlichts auf dem beinah transparenten Material, das sich über dem herabsinkenden Transporter spannte.

Als sich das Objekt im kontrollierten Abstieg näherte, wurden Einzelheiten eines Fahrzeugs mit vier Rädern sichtbar. Sie warf Dave einen Blick zu und fragte: »Du hast ein Mondfahrzeug für den Abstieg benutzt?«

Dave hielt sich die Ohren zu und nickte, als das Stakkato der horizontalen Schubdüsen des Rovers den Kurs veränderte.

Neeta zog sich innerlich alles zusammen, als das Zischen der Schubdüsen lauter und lauter wurde, während sie beobachtete, wie sich das Fahrzeug langsam herabsenkte und schließlich auf dem Dach des Gebäudes landete.

Dave ging zum Rover, berührte das Ende des 36.800 Kilometer langen Bands und schaute mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf. »Das hat ja wunderbar geklappt.«

Neeta starrte das durchscheinende Band an, das wie durch Magie in den Himmel ragte. Ihr Verstand hatte Mühe, zu verarbeiten, was sie sah. »Unglaublich.«

Dave schob den Rover ein Stück vorwärts zur Mitte des Dachs, wo der Steuersignalsender automatisch eingefahren worden war. Er tippte auf den Bildschirm seines Tablets, und im Dach öffnete sich ein Schlitz. »Zeit, die erste Speiche von DefenseNet mit ihrer Versorgungsquelle zu verbinden.«

»Besteht die Gefahr eines Stromschlags?« Bellas besorgte Stimme drang von der Ecke des Dachs zu ihm, wo sie schweigend beobachtet hatte.

Dave schüttelte den Kopf, als er an etwas oben auf dem Rover fingerte. »Nein. Der Strom fließt erst dann durch die Verbindung, wenn wir einen manuellen Schalter umlegen, der nur im Umspannwerk zugänglich ist. Und selbst dann wird der Leistungsfluss computergesteuert, es besteht also kein Grund zur Sorge.«

Dave öffnete eine Zugangsklappe an der Seite des Mondfahrzeugs und zog einen verborgenen Hebel. Die Metallstange am Ende des Bands begann, sich vom Heck des Rovers zu lösen.

Dave sprang hinten auf das Mondfahrzeug, ergriff das knapp einen Meter breite Band an der schweren Metallstange und führte es durch den Schlitz im Dach. »Dann verbinden wir die beiden Ankerpunkte mal miteinander.«

Neeta sah zu, wie Dave erneut auf den Touchscreen tippte. Langsam schloss sich der Schlitz und verschluckte das Ende des Bands. Mehrere Verriegelungen wurden gelöst, und nach einem weiteren Tippen auf das Tablet klappte der hintere obere Teil des Rovers auf. Das Band blieb von dem schweren Fahrzeug befreit zurück.

»Äh, Dave, was jetzt?«, fragte Neeta.

Dave beugte sich näher zum Tablet. »Hey, Byron, hören Sie mich?«

»Ja. Ich bin noch im Frachtraum der Fähre, beobachte, wie die Eingeweide raushängen, und warte auf Sie, Boss.«

»Alles klar, Byron. Hier unten sind wir verbunden. Bringen Sie den Anker in seine Umlaufbahnposition, dann wir sind bereit.«

Dave setzte den Dialog mit dem Techniker im Frachtraum der Raumfähre fort. Byron war dafür zuständig, das obere Ende des DefenseNet-Lasers und das Zielsystem zu installieren.

Während sie sprachen, spannte sich das am Dach des Gebäudes befestigte Band, und der Techniker verkündigte: »Anker in Position. Die Kommunikationseinheit ist ausgefahren, und das aktive Ende des Ankers zielt von euch da unten weg. Scheint also alles geklappt zu haben, Boss.«

Dave trommelte mit den Fingern auf das durchscheinende Graphen-Band. Es war so fest gespannt, dass es klang, als klopfte er auf Holz. Er zeigte Bella den Daumen hoch und hob sich das Mikrofon des Tablets näher ans Gesicht. »Byron, gute Arbeit. Jetzt schwingen Sie sich zurück auf die Erde. In wenigen Tagen steht der nächste Durchlauf an.«

»Roger. Schließe jetzt die Laderaumtüren. Wir sehen uns in Canaveral.«

Nach einem letzten Tippen auf das Tablet schaute Dave zufrieden auf. »Dauert in Summe doch ziemlich lange, die DefenseNet-Module ins Shuttle zu laden, sie ins All zu bringen und die Bänder herunterzulassen. Wir werden jeden Moment brauchen, den wir haben, um rechtzeitig fertig zu werden.«

Neeta rechnete im Kopf nach und stellte fest, dass er recht hatte. Es würde so gut wie keine Reservezeit bleiben, bevor die Tests beginnen mussten. »Dave, das können auch andere, und wir können den Ablauf parallel durchführen.«

»Nein«, herrschte Dave sie an und wirkte plötzlich aufgebracht. »Ich vertraue niemandem an, die ...«

»Dave«, warf Bella ein und legte ihm sanft die Hand auf den Oberarm. »Neeta hat recht. Was am meisten Zeit in Anspruch nimmt, ist der kontrollierte Abstieg des Bands. Warum setzt du nicht zwei Shuttles gleichzeitig ein? Dann könntest du die Starts zeitlich staffeln. Während du eine DefenseNet-Speiche anschließt, wird für die nächste das Band heruntergelassen.«

Dankbar, dass ausnahmsweise jemand auf ihrer Seite war, rief Neeta: »Genau das wollte ich vorschlagen. So könntest du immer noch sicherstellen, dass die heiklen Aufgaben richtig erledigt werden, aber du könntest den Ablauf etwas komprimieren.«

Mit skeptischer Miene schaute Dave zwischen den beiden Frauen hin und her, holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Na schön, wahrscheinlich habt ihr recht.«

»Haben wir«, bestätigte Bella nüchtern.

Neeta verscheuchte eine gefühlt zitronengroße Stechmücke und fragte verdrossen: »Da die Frauen jetzt einen kleinen Sieg errungen haben, können wir hier weg?«

Bella deutete mit dem Kinn zum Rover und fragte: »Dave, wie kriegst du das Ding vom Dach?«

Dave deutete auf etwas, das Neeta für einen freiliegenden, seitlich entlang des Dachs verlaufenden Metallbalken gehalten hatte. »In jede dieser Stationen ist ein Kran eingebaut.« Er ging näher zum Rand und zeigte hinunter auf einen der Militärtransporter mit Flachbett. »Deshalb haben wir ein zusätzliches Fahrzeug dabei. Für den Rücktransport des Rovers.«

Als Neeta die Reihe der abgestellten Wagen betrachtete, kehrte ein flaues Gefühl in ihren Magen zurück. »Gott, bringen wir es einfach hinter uns. Je schneller wir hier weg können, desto eher werden wir fertig.«

Neetas Mobiltelefon klingelte. In ihrem Ohr wurde Burts Anruferkennung angekündigt.

»Burt! Wir haben gerade die erste Speiche im DefenseNet-Ring eingerichtet. Ist schon ein verblüffender Anblick, wenn etwas einfach so vom Himmel herunterschwebt. Hättest du sehen sollen.«

»Neeta, das ist fantastisch, aber deswegen rufe ich nicht an. Ich hab ein bisschen gezaubert und dafür gesorgt, dass ihr rechtzeitig etwa 1,7 Millionen Kilometer von dem Graphen-Gerüst für die Aufzüge zur Verfügung haben werdet. Aber ich brauche dich dringend wieder in Los Angeles beim JPL, während ich in Washington bin. Ich schlage mich hier mit Politikern und einer ständig wachsenden Liste von Idioten herum, die in Indigo eingeweiht werden. Von hier aus kann ich das NEO-Programm nicht effektiv leiten. Und du bist die Einzige, der ich vertrauen kann und die außerdem die nötige Sicherheitsfreigabe für Indigo-Angelegenheiten hat.«

Neeta warf einen Blick zu Dave und Bella, die sich in Richtung der Treppe entfernten. »Wann brauchst du mich dort?«

»Äh, wie wär’s mit gestern? Ich schicke dir eine E-Mail mit den Einzelheiten. Jedenfalls brauche ich haufenweise astronomische Vermessungen. Dafür brauche ich vor Ort jemanden, der Klartext mit den Leuten redet.«

Unwillkürlich breitete sich ein Lächeln in Neetas Zügen aus, als sie zur Treppe trabte. »Ich fliege hin, sobald ich aus diesem widerlichen Dschungel raus kann.«

»Dschungel? Ach ja, richtig. Einige der Umspannwerke liegen in nicht unbedingt idealen Gebieten. Ich weiß, dass du’s nicht ausstehen kannst, wenn es heiß und verschwitzt zugeht. Muss die Hölle für dich sein.«

»Burt, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich für diese Worte liebe. Ich bin so bald wie möglich zurück in Los Angeles.«

»Danke. Dafür bin ich dir was schuldig.«

In verspieltem Ton rutschte Neeta heraus: »Und ich erwarte dafür ’ne mächtige Gegenleistung.« Jäh erstarrte sie, als ihr klar wurde, was sie gerade von sich gegeben hatte. »Bis dann!« Der letzte Zusatz drang krächzend aus ihr. Als sie abrupt auflegte, fühlten sich ihre Wangen wie glühende Kohlen an. »Verdammt, jetzt denkt er wahrscheinlich, ich wollte ihn anbaggern! Was zum Teufel stimmt nicht mit mir?«