Kapitel Ein­und­zwanzig

Es war fast 23:00 Uhr, als sich Stryker mit einem großen Seesack über der rechten Schulter der Tür seiner Wohnung im Stadtzentrum näherte. Stumm bete er, dass er die Kinder nicht wecken würde. Er würde schon von Lainie genug zu hören bekommen, weil er nicht vorher angerufen hatte.

Die letzten drei Tage waren wie ein Wirbelsturm über ihn gekommen.

Angefangen damit, dass er beinah in Stücke gefetzt worden wäre, weil ein alter Mann Selbstmord begehen und andere mit in den Tod reißen wollte.

Stryker wusste nur noch, dass er sich mit Mias schlaffem Körper auf dem Rücken irgendwie aus dem Gebäude geschleppt hatte, mehr nicht. Als Nächstes erinnerte er sich daran, dass er im Krankenhaus mit übler Laune und einer Naht am Haaransatz aufgewacht war.

Die Armeeärzte in Madigan behielten ihn 24 Stunden zur Beobachtung dort, und er bemühte sich, so unleidlich wie möglich zu sein. Nachdem er genug gemeckert und dazu ein wenig gebettelt hatte, ließen sie ihn schließlich gehen. Abgesehen von den erlittenen Schnittwunden und Blutergüssen hatte man keine Rechtfertigung, ihn weiter stationär zu behandeln. Es ging ihm gut.

Tatsächlich hatte er sich in dem Moment besser gefühlt, als er erfahren hatte, dass Mia nicht umgekommen war.

Davor hatte ihr vermeintlicher Tod schwer auf seinem Gewissen gelastet. Offensichtlich war sie von mehreren Granatsplittern von der Sprengstoffweste des alten Kerls getroffen worden und musste operiert werden. Niemand wollte ihm verraten, wo sie sich aufhielt, auch sonst nichts, abgesehen davon, dass sie sich erholen würde.

Nachdem die Ärzte in Madigan ihn für diensttauglich erklärt hatten, meldete er sich bei seinem befehlshabenden Offizier zurück. Ihm wurde mitgeteilt, dass er nach New York City versetzt würde. Ihm blieb weniger als ein Tag, um etwaige Erledigungen zu machen und die erste C-130 Richtung Osten zu erwischen.

Vor fast zwölf Stunden war er an Bord der Transportmaschine gegangen. Nun war er endlich zu Hause.

Stryker steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete langsam die Tür.

Er rechnete damit, alles dunkel vorzufinden. Aber er sichtete fast sofort Lainie, die auf halbem Weg zwischen Wohnzimmer und der Tür stand und ihn mit großen Augen anstarrte.

Mist.

Mit wutentbrannter Miene stapfte sie auf ihn zu und flüsterte: »Du ...«

»Ich weiß, ich weiß. Ich hätte anrufen sollen. Aber ich hab erst kurzfristig erfahren, dass ich hierher versetzt werde und zu Hause schlafen darf.« Er streifte den großen Seesack ab und bewegte die Schulter, um die Verspannungen darin zu lockern.

Ihr Gesichtsausdruck wurde milder, als sie sich ihm näherte. Lainie hob die Hand und berührte ihn an der Schläfe. »Du bist verletzt.«

Stryker betastete die wunde Stelle, an der die Lagerkugeln von der Sprengstoffweste seinen Schädel erwischt hatten, und zuckte mit den Schultern. »Ist nichts weiter.«

Ein Anflug von Emotionen trübte Lainies Züge, und Stryker wappnete sich für den Vortrag, mit dem er rechnete.

Stattdessen schlang sie unverhofft die Arme um ihn, drückte den Kopf an seine Brust und hielt ihn fest. »Sie haben dich zurückgeschickt, weil du schlimmer verletzt bist, als du zugibst. Ich weiß es.«

Er seufzte und massierte ihr den Rücken, als er heiße Tränen an seinem Tarnanzug spürte.

»Lainie, ich lüge dich nicht an. Es geht mir gut. Ich hab drei Tage zu Hause, dann muss ich mich zurückmelden.«

Sie stieß sich von ihm ab und wischte sich übers Gesicht. »Du gehst wieder weg?«

»Nein. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Sie haben mich und ein Team zum Patrouillieren in der Innenstadt eingeteilt. Ist wie mein Job beim NYPD, nur in einer anderen Uniform.«

»Also holt man letztlich die Armee her?«

Stryker musterte seine Ex und versuchte, den Gesichtsausdruck der Frau zu lesen, die er seit über einem Jahrzehnt kannte. Sie schien durcheinander zu sein. Vielleicht weil er zu Hause war und sie nicht damit gerechnet hatte ... Aber nein. Da war noch etwas anderes.

»Was ...«

»Daddy?«

Wärme breitete sich in ihm aus, als er nach oben und links schaute.

»Daddy!«, quiekte Emma und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie kam die Treppe heruntergerannt und sprang ihm in die Arme.

»Dad ist zu Hause?«, hörte er Isaacs schlaftrunkene Stimme von oben. Wenig später umarmten sich alle vier. Eine Weile vergaß Stryker alles andere in der Welt und konzentrierte sich nur darauf, was wirklich zählte.

* * *

Dave bemühte sich, die kleine Armee von Agenten des Secret Service und von Soldaten um ihn herum zu ignorieren. Er lehnte sich auf dem Liegestuhl am Strand zurück, nippte an seiner Piña Colada und gönnte sich eine wohlverdiente Pause. Das angenehme Meeresrauschen hatte er auf dem Mond vermisst. Er warf einen Blick zu Bella, die völlig entspannt wirkte, trotz des hektischen Tempos, das sie für die Installation und Überprüfung der Verbindungen aller Speichen von DefenseNet vorgaben. Als die salzige Brise vom südchinesischen Meer herüberwehte, schloss Bella die Augen und lächelte verhalten.

Ihr Kopf drehte sich ihm gemächlich zu, und sie sah ihn mit einem Auge an, das Lid auf halbmast. »Mein Körper ist durcheinander. Ist jetzt Zeit für Frühstück oder für Mittagessen? So oder so, ich bin hungrig.«

Dave lächelte. »Also, da wir in Indonesien sind, ist es fast 7:30 Uhr. Ich denke, wir können uns ein gutes Frühstück genehmigen. Der Rover kommt ohnehin erst am späteren Nachmittag in Reichweite.«

Ein Agent des Secret Service näherte sich und übergab Dave ein Satellitentelefon. »Dr. Holmes, Dr. Radcliffe ist in der Leitung.«

Dave setzte sich auf und hielt sich das Telefon ans Ohr. »Hey, Burt, gutes Timing. Ich wollte Sie ohnehin heute noch anrufen. Ich sitze gerade an einem wunderschönen weißen Sandstrand an der Westküste Indonesiens, ein Stück nordwestlich des Maninjau-Sees. Damit hätten wir dann die Hälfte geschafft.«

»Das sind hervorragende Fortschritte. Ich glaube sogar, Sie sind dem Zeitplan voraus, was großartig ist. Aber ich rufe eigentlich an, um Sie zu informieren, dass die Präsidentin in Kürze mit einigen Informationen über Indigo an die Öffentlichkeit geht. Ich schlage vor, Sie suchen sich ein Plätzchen, wo Sie fernsehen können. Sie geht in etwa 30 Minuten auf Sendung.«

Ein Anflug von Neugier überkam Dave. Er winkte einen der Agenten näher und flüsterte: »Können Sie uns in 30 Minuten zu einem Fernseher mit Zugang zu US-Sendern bringen?«

Der Agent zögerte nur eine Sekunde, bevor er nickte. »Ja, Sir. Fünf Minuten entfernt ist ein Fünf-Sterne-Hotel. Ich brauche zwar zehn Minuten, um den Bereich vorher zu sichern, aber es ist machbar.«

»Dave, ich muss Sie vor etwas warnen ...« , ertönte Burts Stimme laut aus dem Satellitentelefon. »Sagen wir so: Die Bekanntgabe der Präsidentin und die Realität von Indigo stimmen nicht unbedingt genau überein. Als Wissenschaftler haben wir es gern präzise. Deshalb wollte ich Ihnen nur sagen, dass sie keine Idiotin ist. Sie wird das eine oder andere aus offensichtlichen Gründen bewusst beschönigen oder herunterspielen. Ich bin sicher, Sie verstehen das. Trotzdem wollte ich Sie vorwarnen, damit Sie keinen falschen Eindruck bekommen. Ist für sie kein einfaches Spiel mit der Öffentlichkeit.«

»Keine Sorge, Burt. Das verstehe ich besser, als Sie sich vorstellen können. Ich beiße mir einfach auf die Zunge, während ich es mir ansehe. So, ich suche mir jetzt einen Fernseher. Danke für die Information.« Dave beendete das Gespräch und stand auf, als mehrere der gepanzerten Transportfahrzeuge seiner Begleitgarde davonbrausten, um vor seiner Ankunft die Sicherheitschecks durchzuführen.

In den letzten Wochen hatte sich Dave an die anfänglich paranoid wirkenden Vorsichtsmaßnahmen gewöhnt. Erst nach dem Lesen jener Sicherheitswarnung hatte er wirklich schätzen gelernt, was die Agenten für ihn taten. Seither hatte er aufgehört, sich über die Unannehmlichkeiten zu ärgern, die mit all den Sicherheitsmaßnahmen einhergingen.

Als er mit Bellas Hand in seiner zu ihrem schwer gepanzerten SUV schlenderte, sah Dave sie an und fragte sich, wie viel ihm die Welt ohne sie eigentlich noch bedeuten würde.

* * *

Das Hotel ähnelte einigen Gebäuden, die er in Washington gesehen hatte – Säulen aus weißem Marmor, jede Menge behauener, polierter Stein. Die opulente Umgebung war beeindruckend, vor allem, als sich Dave vor Augen führte, wie weit der Ort von größeren Städten entfernt lag. Auf dem Weg durch die Lobby waren ihm rosa Marmorsäulen im Ballsaal und die Kuppeldecke mit schönen Wandmalereien von Gartenszenen aufgefallen. Mittlerweile jedoch galt Daves Aufmerksamkeit dem holografischen Bild des Weißen Hauses, das auf einen einzelnen Tisch in einem großen Ballsaal projiziert wurde. Seine Sicherheitsmannschaft hatte den Raum geleert. Die körperlose Stimme eines Reporters hallte laut aus einem verborgenen Lautsprecher. »Und jetzt schalte ich zum Weißen Haus für die Bekanntgabe, die jeden Moment beginnt.«

* * *

Uniformierte Beamte des NYPD strömten bei Schichtwechsel aus dem Revier Midtown South. Ein paar Bekannte grüßten Stryker, einige Kollegen klopften ihm im Vorbeigehen auf die Schulter.

Abgesehen von der anderen Uniform und dem Sturmgewehr, das er vor sich trug, fühlte es sich an, als ginge er mit ihnen auf Patrouille.

Allerdings hatten sich die Dinge geändert.

Er war Zugführer von 50 Mann der Militärpolizei aus Fort Drum, die gerade alle vor ihm strammstanden.

Stryker holte tief Luft und ergriff mit lauter Stimme das Wort. »Es ist fast 21:00 Uhr, und wir helfen dem NYPD dabei, die vom Gouverneur angeordnete, nächtliche Ausgangssperre durchzusetzen.

Ihr seid alle informiert, aber zur Erinnerung: Niemand außer Ersthelfern oder Personen in deren Begleitung dürfen sich auf den Straßen aufhalten. Keine Ausnahmen.

Für die Durchsetzung ist das NYPD zuständig, wir sind als Unterstützung hier.

Jeder Sergeant hat die Aufgabe, die Bewegungen seines Trupps mit den ihm zugeteilten Revierbeamten zu koordinieren. So soll gewährleistet werden, dass die Straßen und die U-Bahnstationen optimal abgedeckt werden.

Irgendwelche Fragen?«

Stryker verstummte kurz und ließ den Blick über die in voller Kampfmontur angetretenen Männer wandern.

»Okay, deckt euch gegenseitig den Rücken und passt auf euch auf. Wegtreten!«

Die Sergeants begannen, ihren jeweiligen Trupps Befehle zu erteilen, und sie trabten zu den ihnen zugewiesenen Orten los.

»Wenn Ihr Einsatz abgeschlossen ist«, sagte eine vertraute Stimme, »müssen wir über Ihre Beförderung reden.«

Stryker lächelte, drehte sich nach rechts und erblickte das willkommene Gesicht von Lieutenant Malacaria am Eingang des Reviers. »Hey, Lieutenant. Ist alles ganz schön heftig geworden, was?«

Der NYPD-Veteran mit über 20 Dienstjahren kam näher und deutete mit dem Kopf in Richtung der 8th Avenue. »Jon, gehen wir ein Stück.«

Stryker reihte sich neben Malacaria ein. Trotz der lauen Sommernacht lief ihm beim Anblick der verwaisten Hauptverkehrsader ein kalter Schauder über den Rücken. Es fühlte sich schlicht gespenstisch an, dass kein Mensch auf den Straßen der Innenstadt unterwegs war.

Es war die erste Nacht der Ausgangssperre. Er hätte vermutet, dass noch etliche Leute herumlaufen würden, die behaupteten, sie hätten nicht verstanden, was Ausgangssperre bedeutete, oder die irgendeine andere Ausrede dafür hatten, warum sie gegen den Erlass des Gouverneurs verstießen. Stryker war sich nicht sicher, ob es in New York City je eine so weitreichende Ankündigung gegeben hatte.

Nachdem sie ein paar Minuten schweigend marschiert waren und die surreale Umgebung auf sich wirken ließen, bogen sie in die West 42nd Street und näherten sich den schimmernden Lichtern des Times Square. »Lieutenant ...«

»Einfach Matt.«

»Matt, wissen Sie irgendwas darüber, warum der Gouverneur die Ausgangssperre angeordnet hat? Ich dachte, alle Anschläge hier hätten tagsüber stattgefunden.«

Der Lieutenant schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Wir waren völlig überrascht, als die Befehle eingetroffen sind, und haben uns in aller Eile dafür organisiert, sie durchzusetzen. Unsere Ressourcen sind dadurch an der Belastungsgrenze. Ich bin tatsächlich dankbar, dass uns die Armee dabei hilft.«

Stryker nickte, als sie eine beisammenstehende Gruppe passierten, zwei Streifenpolizisten, die sich mit zwei Militärpolizisten seines Zugs unterhielten.

Die holografischen Bilder schimmerten hell über ihnen, als sie den Times Square selbst betraten.

»Jon, hatten Sie im Einsatz beim Militär mit weiteren Verrückten zu tun? Sie wissen schon, wie bei dem Zwischenfall mit dem Neuling.«

»Sie meinen religiöse Fanatiker?« Stryker warf einen Blick auf Malacaria und bemerkte seinen verkniffenen Gesichtsausdruck.

»Sie waren im Westen im Einsatz, oder? Tja, hier hatten wir zuletzt eine Menge dieser selbstmörderischen Weltuntergangsverfechter. Hatten Sie am anderen Ende des Lands auch damit zu tun?«

»Ja. Aus irgendeinem Grund wird in den Nachrichten nicht darüber berichtet, aber es läuft definitiv etwas Sektenartiges ab. Keine Ahnung, was der Auslöser dafür ist.«

Plötzlich flackerten die funkelnden Lichter über ihnen, bevor das stete Bild des unverkennbaren Logos des Weißen Hauses auf jedem Bildschirm am Times Square erschien.

»Was zum ...«, entfuhr es beiden gleichzeitig aus, als sie zu den 15 Meter über ihnen schwebenden Bildern aufschauten.

Stryker hörte Alarmtöne sowohl aus Polizei- als auch aus Militärfunkgeräten, als eine Nachricht mit einem Countdown von 30 Sekunden über den unteren Bildschirmrand kroch.

*** Wichtige Botschaft –

Ausstrahlung auf allen Kanälen –

Mitteilung der Präsidentin der Vereinigten Staaten ***

In Sichtweite befanden sich um die zehn Polizeibeamte und Militärpolizisten. Alle starrten hinauf zu den Hologrammen, die zu einer Live-Übertragung aus dem Oval Office schalteten.

* * *

Dave hielt Bellas Hand, lehnte sich zurück und beobachtete das kristallklare Bild von Margaret Hager, die hinter ihrem Schreibtisch saß und sich an den größten Teil der bekannten Welt wandte.

»Guten Abend, meine lieben Mitbürger.

Heute spreche ich zu Ihnen nicht nur als Präsidentin der Vereinigten Staaten, sondern als Bürgerin dieser Welt. Alle, die sich in Reichweite meiner Stimme befinden, fordere ich auf, innezuhalten und zuzuhören. Denn was ich zu sagen habe, betrifft uns alle. Tatsächlich wird dieselbe Botschaft auf der ganzen Welt verbreitet, da sämtliche Anführer anderen Nationen zu ihren Bürgern sprechen und ihnen dasselbe mitteilen wie ich Ihnen.

In der Geschichte der Menschheit hat es immer wieder Zeiten der Zerrissenheit gegeben. Zeiten, in denen die Menschen verschiedener Nationen nicht miteinander ausgekommen sind und Krieg gegeneinander geführt haben.

Aber in solchen Zeiten der Zerrissenheit finden sich manchmal unwahrscheinliche Partner und verbünden sich. Ehemalige Feinde werden zu Verbündeten und sogar zu Freunden.

Nun stehen wir alle an einem Abgrund und sind mit einem Feind konfrontiert, der uns alle gefährdet. Nicht nur die Amerikaner, sondern die Bürger der gesamten Welt.

Mit Unterstützung des Kongresses habe ich ein verbindliches Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und allen Nationen der Welt unterzeichnet. Wir legen alle unsere Differenzen beiseite und stemmen uns vereint gegen eine gemeinsame Bedrohung durch eine Urgewalt.

Wenn nichts unternommen wird, könnte diese Bedrohung eine Katastrophe unvorstellbarer Ausmaße verursachen. Eine Katastrophe, die alles Leben auf dem Planeten auslöschen könnte, von winzigsten Bakterien über die Fische im Meer bis hin zu uns, die gesamte Menschheit. Schlagartig verschwunden.

Was ist nun diese Bedrohung, werden Sie sich fragen.

Es ist dieselbe Bedrohung, die in der Vergangenheit ein Massensterben verursacht hat. Ein globales Grauen, mit dem nie zuvor ein Mensch in irgendeiner Form konfrontiert war.

In ungefähr fünf Monaten wird aller Voraussicht nach eine Reihe großer Asteroiden – einige größer als jene, die vor 60 Millionen Jahren die Dinosaurier ausgelöscht haben – der Erde sehr nahe kommen. So nah, dass wir mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem oder mehreren getroffen werden könnten.«

Die Kamera folgte der Präsidentin, als sie sich langsam vom Schreibtisch zurückschob und aufstand. Dabei blickte sie mit ernster, entschlossener Miene ins Objektiv.

»Wie Abraham Lincoln 1858 in einer Rede gesagt hat: Ein untereinander gespaltenes Haus kann nicht bestehen. Damals hat Präsident Lincoln von der Spaltung zwischen den Staaten gesprochen. Heute gibt es keine Spaltung in unserem Land. Aber wir sind nicht so eng mit anderen Nationen verbunden, wie wir es sein könnten.

Ich stehe vor Ihnen als Präsidentin der Vereinigten Staaten und als ordnungsgemäß ernannte Vertreterin der Vereinten Nationen, und ich verspreche Ihnen, dass die Nationen der Welt nicht länger gespalten sind. Wir stemmen uns vereint gegen diese gemeinsame Bedrohung.«

Die Präsidentin hieb mit grimmiger Miene lautstark mit der Faust auf den Schreibtisch.

»Diese Bedrohung endet hier!

Sie endet jetzt!«

Dann sank sie zurück auf den Stuhl und lehnte sich vor, wandte sich entschlossen, aber ruhig an die Welt.

»Ich bin erleichtert, Ihnen mitteilen zu können, dass wir mit einer Reihe zuvor geheimer wissenschaftlicher Fortschritte gegen diese globale Bedrohung angehen. Wir werden nicht dasselbe Schicksal wie die Dinosaurier erleiden, als damals eine verheerende Bedrohung vom Himmel kam.

Dank der harten Arbeit vieler der weltbesten Wissenschaftler haben wir eine Lösung.

Lassen Sie mich das wiederholen. Wir haben eine Lösung für die nahende Bedrohung.

Die meisten von Ihnen haben bestimmt schon von der International Science Foundation gehört. Dabei handelt es sich um eine Einrichtung, an der modernste wissenschaftliche Forschung betrieben wird. Dort wurden schon auf verschiedenen Gebieten bedeutende Fortschritte erzielt. Vor allem aber ist die Einrichtung für die Entdeckung neuer Behandlungsmethoden für Multiple Sklerose und andere Krankheiten bekannt, die davor als unheilbar galten. Ich enthülle nun zum ersten Mal etwas, woran seit fast einem Jahrzehnt gearbeitet wird.

Unsere Wissenschaftler hatten die Möglichkeit einer solchen Bedrohung vorhergesehen und arbeiten seit fast zehn Jahren fieberhaft an einer Lösung. Während ich zu Ihnen spreche, richten wir aktiv ein Netzwerk von Satelliten ein, das als Schutzschild gegen diese Bedrohung unserer Existenz dienen soll.

Es nennt sich DefenseNet.

Dank einer Reihe von Satelliten mit unvorstellbar starken Lasern wird DefenseNet jede nahende Bedrohung erkennen und vernichten.«

* * *

Dave lehnte sich näher zu dem holografischen Bild, während er jedem einzelnen Wort der Präsidentin aufmerksam lauschte. Ihn überraschte nicht, dass sie weder ihn noch einen der anderen Beteiligten namentlich erwähnte. Er war nur einer der anonymen Wissenschaftler, und im Augenblick war Dave damit rundum zufrieden.

Präsidentin Hager sprach mit fester, ruhig und gemessener Stimme. Es gelang ihr, den schmalen Grat zwischen Ernst und Empathie entlangzuwandeln und nicht panisch zu klingen. Dave glaubte nicht, dass es viele Menschen so effektiv vermitteln könnten.

»Mit DefenseNet werden wir einem nahezu sicheren Tod entgehen. Und dafür werden wir unserer wissenschaftlichen Gemeinschaft auf ewig dankbar sein.

Dennoch möchte ich eines betonen:

Auch wenn ich Ihnen versichern möchte, dass die Bürger unserer Welt in Sicherheit sind, ist nichts je völlig narrensicher. Es besteht die geringe Gefahr, dass es einem Objekt gelingen könnte, nicht von DefenseNet abgelenkt oder vollständig zerstört zu werden.

Bei einem Treffen heute Morgen mit den Gouverneuren unserer Küstenstaaten waren wir uns alle einig, dass es im besten Interesse des amerikanischen Volks ist, äußerste Vorsicht walten zu lassen.

Deshalb habe ich die Gouverneure der Küstenstaaten ersucht, Evakuierungsbefehle für ihre an den Küsten lebenden Bewohner zu erlassen. Diese Evakuierungen werden vor Ablauf der vier Monate abgeschlossen sein.

Im Rahmen der mir durch die Verfassung übertragenen Befehlsgewalt und des allgemeinen Sicherheitsmandats der UNO habe ich angeordnet, dass folgende Maßnahmen unverzüglich durchgeführt werden:

Erstens: Bewohner jedes Orts, der weniger als zwei Kilometer von einem Meer entfernt und auf weniger als sechs Meter Höhe über dem Meeresspiegel liegt, werden in Schutzgebiete zwangsevakuiert, die von den Gouverneuren der jeweiligen Staaten festgelegt werden.

Zweitens: Die Evakuierung wird dringend empfohlen, wenn Sie innerhalb von 15 Kilometern zur Küste und auf weniger als 15 Metern Höhe über dem Meeresspiegel leben.

Drittens: Ich habe die Katastrophenschutzbehörde bereits informiert und damit beauftragt, Notfalldienste in allen Küstenstaaten einzurichten. Es werden Unterkünfte errichtet, um jede einzelne evakuierte Person aufnehmen zu können.

Viertens: Ich mobilisiere mit sofortiger Wirkung sämtliche Zweige unserer militärischen Reservisten zur Unterstützung bei der koordinierten Evakuierung der Küstenregionen sowie zur Aufrechterhaltung der Sicherheit in den Evakuierungsgebieten. Außerdem habe ich den Befehl erteilt, alle im Ausland stationierten Militärangehörigen im aktiven Dienst zurückzuholen, damit auch sie zur Verfügung stehen. Gegen Plünderungen und Unruhen wird mit aller Härte vorgegangen.

Fünftens: Da sich unsere Hauptstadt in einer Evakuierungszone befindet, werde ich zusammen mit der gesamten Regierung umgesiedelt und von einem geschützten Standort weiter im Landesinneren aus agieren.

Meine lieben Mitbürger, es besteht keinerlei Zweifel, dass wir in einer der herausfordernden Zeiten der Geschichte unserer Welt leben. Mir ist bewusst, dass die Schwierigkeiten der nächsten Monate für uns alle eine harte Prüfung werden.

Niemand kann genau vorhersehen, was passieren oder was es kosten könnte. Aber als Bürger der Vereinigten Staaten stehen wir in solchen Zeiten zusammen und stellen uns den Herausforderungen, die vor uns liegen.

An diejenigen unter Ihnen, die von den Evakuierungsmaßnahmen nicht betroffen sind: Bitte ziehen Sie in Erwägung, Ihre Häuser zu öffnen und Betroffene aufzunehmen, die Sie vielleicht kennen. Oder registrieren Sie sich bei den örtlichen Behörden, falls Sie freie Zimmer für Evakuierte haben. Dies ist eine Zeit, in der alle Amerikaner mit anpacken müssen.

In dieser Krise möchte ich Sie alle daran erinnern, dass die größte Gefahr davon ausgeht, untätig zu bleiben.

Ich möchte mich noch einmal persönlich bei allen Wissenschaftlern bedanken, die Tag und Nacht an DefenseNet arbeiten. Wir alle verdanken diesen Männern und Frauen unser Leben.

Ich erinnere mich an eine Rede von Präsident John F. Kennedy: ›Wir haben uns entschlossen, noch in diesem Jahrzehnt zum Mond zu fliegen – nicht, weil es leicht ist, sondern weil es schwer ist.‹

Diese Worte wurden vor über 100 Jahren gesprochen, und ich muss leider sagen, dass wir uns kaum über diese damals hochgesteckten Ziele hinausgearbeitet haben.

Wenn wir diese Krise überstanden haben und alle gemeinsam aufatmen können, verspreche ich, unsere Investitionen in Wissenschaft auf ein noch nie dagewesenes Ausmaß zu steigern. Die Investitionen werden für eine Renaissance aller Bereiche der Wissenschaft reichen. Denn Wissenschaft wird die Zukunft der Menschheit prägen.

In den nächsten Monaten wird unser Blick zum Himmel gerichtet sein, wenn DefenseNet aktiviert wird. Und ich verspreche, wir werden noch zu unseren Lebzeiten neue Welten erforschen.

Wir werden in die entlegensten Gebiete unseres Sonnensystems und darüber hinaus vordringen.

Und wir werden zu unseren Lebzeiten mutig dorthin reisen, wo noch niemand zuvor gewesen ist.

Vorerst jedoch haben wir ein bescheideneres Ziel. Jetzt ist nicht die Zeit für Panik, sondern die Zeit für Entschlossenheit und Vertrauen. DefenseNet ist der Schutzschild unserer Welt, und dieser Schutzschild wird uns durch diese Krise führen.

Unmittelbar im Anschluss an meine Übertragung wird sich der Gouverneur Ihres Bundesstaats mit weiteren regionalen Einzelheiten an Sie wenden. Ich möchte wiederholen, dass ich volles Vertrauen in DefenseNet und die Unverwüstlichkeit des amerikanischen Volks habe. Ich werde in Kürze unter vielen von Ihnen sein und die gleichen Notunterkünfte mit Ihnen teilen. So Gott will, werden wir schon bald die Früchte unserer gegenwärtigen und zukünftigen Investitionen in Wissenschaften ernten.

Möge Gott die Vereinigten Staaten von Amerika segnen, und mögen wir alle uns zum Besseren verändert haben, wenn diese Krise überstanden ist.

Danke und gute Nacht.«

Mit einem ernsten Nicken drückte Dave leicht Bellas Hand. Irgendwie hatte es die Präsidentin geschafft, riesige, kritische Aspekte wegzulassen, gleichzeitig jedoch alles anzudeuten. Er murmelte bei sich: »Verdammt richtig. Wir werden mutig dorthin reisen, wo noch niemand zuvor gewesen ist. Und zwar eher früher als später.«