Kapitel Drei­und­zwanzig

Nachdem er sich an die Hitze entlang des Äquators gewöhnt hatte, schauderte Dave, als ihm die Kälte des klimatisierten Flurs im Nacken kribbelte. Aber nicht das erregte seine Aufmerksamkeit, als er auf das Gebäude zuging, das die Missionszentrale im Kennedy Space Center beherbergte. Sein Blick richtete sich stattdessen auf die Fotos an den Wänden, während er den langen Korridor entlangging, der die Gebäude des Space Center Campus miteinander verband.

Auf dem Weg vorbei an den Bildern schnappte Dave kleine Brocken der bewegungsaktivierten Kommentare auf, die aus einem Lautsprecher darunter drangen.

»Das Kennedy Space Center und der angrenzende Luftwaffenstützpunkt Cape Canaveral haben im letzten Jahrhundert eine wichtige Rolle in der bemannten Raumfahrt gespielt ...«

»Ob bei Projekt Merkur und den Gemini-Flügen, den ersten Missionen der Menschheit in die Umlaufbahn ...«

»Das Apollo-Programm, mit dem Astronauten zum Mond befördert wurden ...«

»Das Programm Space Shuttle wurde Ende des 20. Jahrhunderts gestartet und eingestellt. Wiederbelebt wurde es 2045, um die der ersten dauerhaften Siedlungen auf dem Mond zu errichten.«

Als Dave ein maßstabgetreues Miniaturmodell der neuesten Reihe der Space Shuttles passierte, fuhr er lächelnd mit den Fingerspitzen über den Rumpf des Raumfahrzeugs. »Ohne dich wäre das alles nicht möglich gewesen.«

Dave warf einen Blick zu Bella. Als er ihr Zittern bemerkte, flüsterte er: »Ich besorge uns beiden Jacken, wenn wir im Kontrollraum sind.«

»Bist du froh, dass wir bald am Ziel sind?« Neetas Stimme erschreckte ihn, als sie am Ende des Gangs auftauchte und die Tür für sie beide aufhielt.

Dave zuckte mit den Schultern. »So weit war es nicht vom Parkplatz.«

»Nein, das hab ich nicht gemeint ...«

Trotz Neetas ernster Miene lächelte Dave unwillkürlich die aggressive Frau an, die für ihn längst zu einer Freundin geworden war.

»Du machst dich über mich lustig!« Neeta stemmte die Hände in die schmalen Hüften und funkelte Dave an. Allerdings merkte er, dass sie dabei mühsam ein eigenes Lächeln unterdrückte. »Ach, du bist einfach ein Idiot.« Sie sah Bella an und meinte schnaubend: »Manchmal weiß ich echt nicht, wie du ihn ertragen kannst.« Neeta machte kehrt. »Kommt einfach mit, ich zeige euch den Kontrollraum.« Sie winkte Dave und Bella mit sich, als sie in der Dunkelheit des Gebäudes verschwand, das die Missionszentrale beherbergte.

* * *

Dave zog die Windjacke enger um sich und ließ den Blick durch den 15 Meter breiten, hörsaalähnlichen Raum wandern. Er saß auf einem großen Drehstuhl und beobachtete, wie Neeta in dem kompromisslosen Stil agierte, an den er sich bei ihr gewöhnt hatte.

Sie zeigte auf einen der Bildschirme, der kein Signal anzeigte. »Umspannwerk 23, wo ist Ihr Signal? Melden Sie sich!« Ihre Stimme dröhnte durch die Lautsprecher im Raum. Sie tippte auf ihr Mikrofon, schaltete es stumm und wandte sich an einen der gehetzt wirkenden Techniker der Missionszentrale. »Was ist los mit 23?«

»Dr. Patel, ich stehe mit dem Techniker in der Station in Verbindung. Er sagt, sie haben Probleme mit der Videoübertragung, weil ein Sturm Sand von Somalias Küste weht. Abgesehen davon sind sie einsatzbereit. Ich lege ihre Datenübertragung auf den Bildschirm.«

Die eine leere Stelle ohne Information flackerte und zeigte plötzlich die in das Umspannwerk eingespeiste Strommenge an sowie den Prozentsatz davon, der zu dem angeschlossenen Satelliten hoch über ihnen geleitet werden sollte.

Neeta schaute zurück zu Dave und nickte. »Die Benachrichtigungen sind verschickt. Alle Länder laufen jetzt nur noch mit Notstromverbrauch. Alle Umspannstationen sind online und einsatzbereit.« Sie zeigte auf das an Daves Hemd befestigte tragbare Mikrofon. »Tipp zum Einschalten einfach drauf, dann können dich alle hier und in den Umspannwerken hören.«

Daves Gedanken kehrten zu den Ingenieuren zurück, die er in den Umspannstationen kennengelernt hatte. Alles Männer und Frauen, denen er in den letzten Monaten die Hand geschüttelt und mit denen er sogar gegessen hatte. Wenn er an DefenseNet dachte, sah er ihre Gesichter: die verängstigten, ernsten Mienen der Menschen, die um die Bedeutung der Aufgabe wussten, die man ihnen übertragen hatte. Sie würden ihr Schicksal bereitwillig in Daves Hände legen. Und mit diesen Bildern im Kopf tippte er auf das Mikrofon, um seine erste Anweisung zu erteilen.

»Hier spricht Dave Holmes aus der Missionszentrale. Wenn ich die Nummer Ihres Umspannwerks aufrufe, möchte ich, dass Sie zehn Prozent der verfügbaren Leistung in Ihre Satellitenverbindung leiten.

Eins ....«

Dave hielt inne. Er stellte sich vor, wie ein Teil des ins Umspannwerk fließenden Stroms durch die Graphen-Verbindung in den Himmel geleitet wurde. Der Strom würde nach oben rasten, wo er sich über das lange Band verteilen würde, das den Ring der Satelliten um die Erde verband.

Der mittlere Bildschirm zeigte eine 180-Grad-Ansicht des Nachthimmels über Zentralflorida sowie die Messwerte von Sensoren an dem Ring, der die 36 um die Erde kreisenden Satelliten miteinander verknüpfte.

Als sich die aus dem Umspannwerk gemeldete Leistung änderte, nahm die Leistung im Ring von DefenseNet zu.

»Zwei ... drei ... vier ...«

Nach und nach fügte Dave langsam mehr Leistung von jedem der entlegenen Umspannwerke hinzu und achtete darauf, ob alles wie erwartet funktionierte. Er hatte zwar alles doppelt und dreifach überprüft, aber er wusste, jeder noch so kleine Fehler konnte katastrophale Folgen haben.

Als das letzte Umspannwerk einen kleinen Teil seiner potenziellen Leistung in den DefenseNet-Ring schickte, atmete Dave erleichtert auf.

Im Raum befanden sich fast 50 Techniker, die alle das eine oder andere Signal überwachten. Dave war sich nicht sicher, wer für die Telemetrie und Kommunikation zuständig war, als er fragte: »T-COM, wie ist die Signalqualität am Ring?«

Eine Technikerin in der hintersten Reihe lehnte sich nach vorn. Eine Frauenstimme ertönte aus den Lautsprechern. »Wir haben eine saubere Sinuswelle ohne Beeinträchtigungen durch Oberschwingungen. 3,015 Terawatt fließen derzeit durch den DefenseNet-Ring. Alle Systeme sind bereit zum Einschalten.«

Einige von Daves Ängsten schmolzen dahin, als sich alles zusammenfügte. Die Anpassungen, die er an den Satelliten vorgenommen hatte, funktionierten wie erwartet. Das elektrische Signal war sauber. Durch die Bestätigung der Technikerin wuchs seine Zuversicht.

Dave schaute zu Bella, die etwa sechs Meter entfernt bei Neeta saß, und nickte ihr zu. Sie reagierte mit einem Lächeln. In seinem Kopf ertönten ihre unausgesprochenen Worte der Beruhigung.

»Roger, Missionszentrale. Alle Umspannwerke, kontrollierte Einschaltsequenz beginnen. Maximale Leistungsabgabe bei 80 Prozent der Kapazität stoppen und halten.«

Die Werte auf den Monitoren im Raum veränderten sich rasant. Daves Aufmerksamkeit jedoch galt dem Bildschirm in der Mitte, der den Himmel über Zentralflorida zeigte.

Als die Mitternachtsschwärze nach und nach heller wurde, verbreiterte sich Daves Lächeln.

Plötzlich summte sein In-Ear-Telefon. Er tippte auf sein Mikrofon, um es stumm zu schalten, und nahm den Anruf entgegen.

»Hallo?«

»Hey, Dave, ich bin’s, Burt. Ich wollte Ihnen gratulieren. Ich stehe gerade auf dem Dach meines Hotels. Sie würden nicht glauben, was ich hier sehe. So was Erstaunliches habe ich noch nie erlebt. Hätten Sie gedacht, dass es so hell sein würde?«

Dave lachte. »Dazu kann ich ehrlich nichts sagen. Ich bin hier in einem Betongebäude und sehe nur ein verzerrtes Videobild. Sie sind in Washington, oder? Beschreiben Sie mir, was Sie gerade sehen.«

»Es ist wunderschön. Ich stehe hier und atme die kühle, mitternächtliche Brise mit dem Duft von frisch geschnittenem Gras ein. Aber statt finster ist es gerade hell genug, um einen alten, schundigen Taschenbuchroman zu lesen. Ich sehe ein bläulich-weißes Lichtband am südlichen Himmel. Ich sage Ihnen, Dave, es ist surreal ... Können Sie abschätzen, wie hell es wird, wenn wir mit voller Leistung fahren? Ich weiß jetzt schon genau, dass mich das morgen früh alle möglichen Leute fragen werden, wenn der Anblick im Fernsehen ausgestrahlt worden ist.«

»Sicher, lassen Sie mich nur eben die Telemetrie-Spezialisten hier fragen.«

Dave tippte auf sein Mikrofon. »T-COM, welche Helligkeit haben wir in unserer Zeitzone am Äquator? Und haben wir auch genaue Messwerte für die gleiche Zeitzone in anderen Entfernungen vom Äquator?«

Die gleiche Frauenstimme wie zuvor ertönte Sekunden später. »Missionsleiter Holmes, wir haben einen Messwert von 20.150 Lux aus dem Umspannwerk in Ecuador. 1.450 Lux werden aus Cape Canaveral gemeldet, 200 Lux von einer Wetterstation in Toronto in Kanada.«

Burt hatte die Stimme deutlich gehört, denn er antwortete aufgeregt in Daves Ohr. »Heilige Scheiße, 20.000 Lux? Das ist praktisch wie die Mittagssonne.«

Dave schaltete das Mikrofon wieder aus und erwiderte: »Ja, aber die Stärke fällt vom Äquator aus ziemlich schnell ab. Ich denke, insgesamt müssen Sie die Leute darauf vorbereiten, dass der Großteil der Welt ein bisschen dunkler als gewohnt sein wird. Und vergessen Sie nicht, es wird keinen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang geben, während wir unterwegs sind. Der Biorhythmus der Menschen wird wohl zum Teufel gehen, aber dagegen kann ich nichts machen.«

»Dave, ich hab alles im Griff. Solange die Menschen wissen, dass sie nicht verhungern oder umkommen werden, stecken sie das weg, da bin ich mir sicher. Ich hab kein Problem damit, Melatonin-Tabletten oder ähnliches Zeug zu empfehlen, damit sie schlafen können. Wie auch immer, ich wollte nur anrufen, um Ihnen zu gratulieren. Wir stehen am Beginn einer neuen Ära der Menschheit, und das verdanken wir Ihnen.«

Mit einem Grinsen brummte Dave: »Ach, hören Sie auf, Sie wissen verdammt genau, dass dafür ein Team nötig ist. Tja, ich verschwinde jetzt von hier und ruh mich etwas aus, während der Ring warmläuft. Wir haben noch fünf Wochen, bevor wir weg müssen. Ich finde, wir liegen gut im Plan.«

»Gute Nacht, aber ich möchte Sie vorwarnen.« Der belustigte Ton in Burts Stimme ließ sich nicht überhören. »Seien Sie nicht überrascht, wenn Sie einen Gratulationsanruf von der Präsidentin kriegen. Reißen Sie ihr also nicht gleich den Kopf ab, falls Sie von ihr geweckt werden.«

Damit endete der Anruf, und Dave gab Neeta einen Wink, den sie richtig interpretierte. Es war an der Zeit für sie, zu übernehmen.

Während sie mit dem Rest des Personals der Missionszentrale die geplante zehntägige Warmlaufphase von DefenseNet besprach, stand Dave auf.

Bella schloss sich ihm an, als er das Gebäude der Missionszentrale verließ. Zusammen steuerten sie in Richtung des Sicherheitsteams, das sie für etwas wohlverdiente Ruhe ins Hotel bringen würde.

Als sie durch den Korridor gingen, der die Missionszentrale mit dem restlichen Komplex verband, blieb Dave stehen, um das blasse Lichtband am südlichen Himmel zu betrachten. Er atmete die sterile, klimatisierte Luft ein und spürte, wie Bella seinen Arm hart drückte.

»Irgendetwas stimmt nicht«, verkündete Bella. Fast sofort merkte auch Dave, wie das Licht am Himmel flackerte und trüber wurde.

Sein Herzschlag raste, seine Gedanken überschlugen sich, als er umkehrte und zurück in Richtung der Missionszentrale rannte. Bella hetzte ihm hinterher. Rote Lichter blinkten entlang des Korridors, das Geheul einer Sirene dröhnte durch den Gang.

Als sich Dave dem Eingang näherte, schwang die Doppeltür auf. Neeta kam zum Vorschein und brüllte mit einem untypischen Ausdruck von Angst in den weit aufgerissenen Augen: »Wir haben 40 Prozent der Netzleistung verloren!«

»Alles auf einmal? Da ist unmöglich!« Dave stürmte in den Raum und starrte auf die Wand der Monitore. Er zeigte hin, wirbelte zu Neeta herum und brüllte: »Warum melden sechs der Umspannwerke null Leistungszufuhr? Was zum ...«

Eine Sicherheitsmannschaft pflügte herein. Im selben Moment summte Daves In-Ear-Handy.

»Neeta!«, rief Dave über die Schulter, als einige seiner Sicherheitsleute begannen, ihn aus dem Raum zu eskortieren. »Finde raus, was passiert ist!«

Das Summen in seinem Ohr setzte sich fort. Er tippte auf das In-Ear-Telefon und knurrte. »Schlechter Zeitpunkt, Burt!«

»Dave, hören Sie mir zu. Wir haben Ärger ...«

»Das können Sie aber laut sagen. Wir haben einen mehrfachen Versorgungsausfall, und ich muss ...«

»Hören Sie mir zu. Es hat nichts mit Ihrer Arbeit zu tun, und Sie können nichts tun, um es in Ordnung zu bringen. Wir haben gerade einen Sicherheitsalarm von sechs der wichtigsten Versorgungsnetze erhalten, die Strom in die Umspannwerke einspeisen. Ich werde gerade zu einem Treffen mit der Präsidentin geschleift. Ihr Sicherheitsteam wird Sie und Bella zu einer Dringlichkeitssitzung hierher bringen. Nur wenige Kilometer von Ihnen entfernt rollt gerade ein Jet auf eine Startbahn.«

Daves Verstand blockierte, als er sich in einen SUV verfrachten ließ. »Burt, was meinen Sie mit Sicherheitsalarm? Es ist irgendein Stromausfall. Den müssen wir nur beheben und ...« Plötzlich dämmerte Dave, dass irgendein Katastrophenfall eingetreten sein musste. Eine andere Erklärung gab es nicht für das gleichzeitige Auftreten mehrerer Ausfälle. »Was geht da vor? Ich versteh das nicht.«

Burt schwieg einen Moment, bevor er in unheilvollem Ton antwortete. »Dave, ich weiß nicht, ob man Sie eingeweiht hat. Aber es gibt Menschen auf dieser Welt, die uns lieber alle sterben sehen wollen, als zuzulassen, das DefenseNet seinen Zweck erfüllt. Aus dem Bericht, den ich gerade bekommen habe, geht hervor, dass die Versorgungsnetze von einer gut koordinierten Terroristengruppe angegriffen wurden.«

Ein eiskalter Schauder lief Dave über den Rücken, als der SUV durch ein bemanntes Tor des Luftwaffenstützpunkts Cape Canaveral und zu einem Jet auf einer nahen Startbahn raste.

»Burt, ich dachte, das Verteidigungsministerium hätte die Standorte völlig gegen Angriffe abgeschirmt. Wie konnte das passieren? Die Versorgung ... kann doch wiederhergestellt werden, oder?«

»Jeder der Standorte wird von einer kleinen Armee bewacht. Ich habe also noch keine Antworten. Aber wir werden schon bald mehr wissen. Allerdings sind die Bilder, die ich gerade sehe, ziemlich düster.«

Dave lehnte den Kopf an den Ledersitz zurück und fühlte sich, als hätte gerade ein Richter das Todesurteil über ihn verhängt. Er flüsterte: »Wir sind im Arsch.«