Vorschau: Der Freiheit letzter Atemzug

»Ave Maria, gratia plena; Dominus tecum: benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui Iesus.«

Das vom Papst vorgetragene Angelus-Gebet wurde von der Erde aus über Millionen Kilometer in den Weltraum übertragen, von der Bergbaukolonie empfangen und hallte durch die psychiatrische Klinik auf Chrysalis.

Terry Chapper hielt im Flur inne und neigte das Haupt. Ranger, sein Deutscher Schäferhund, ahmte die ehrfürchtige Geste nach, blieb jedoch gleichzeitig wachsam. Auch Terrys Sinne blieben messerscharf. Unabdinglich, da er gerade eine Schicht für einen der Sicherheitsmitarbeiter der Klinik übernahm – noch dazu auf der grünen Station. Dabei handelte es sich um den Bereich für gewaltbereite Patienten, durch mindestens drei biometrische Schlösser von der Außenwelt abgeschottet.

Als das Gebet endete, eilte eine Pflegerin mittleren Alters auf ihn zu. »Terry, wir haben ein Problem mit Callaway. Sieht so aus, als wollte er ...«

»Ich mache das«, fiel Terry ihr ins Wort und klopfte ihr beruhigend auf die Schulter.

Mit schnellen Schritten ging er zum Ostflügel, wo er Josh Callaway im Gang vorfand. Der ehemalige Soldat bestand aus fast 140 Kilo Muskelmasse und hatte ein Gesicht, das wie aus Stein gemeißelt wirkte. Er war wie jeder andere Patient gekleidet – blauer Overall, Sneakersocken, ID-Band am Handgelenk –, aber er sah vollkommen gesund aus.

Der Schein konnte trügen.

Callaway ging langsam vor sich hin, streifte mit der rechten Schulter die Wand und gab Handzeichen, die für die meisten Menschen nichts bedeutet hätten. Terry hingegen verrieten sie alles.

»Hey, Josh, Kumpel. Sind Sie bei mir?«

Callaway erwiderte nichts.

Ranger knurrte an Terrys Seite, und Terry schnippte mit den Fingern. »Sitz.«

Der Hund gehorchte, legte die Ohren an und schnaubte frustriert.

Callaways Gesten wurden lebhafter. Der ehemalige Soldat befand sich an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. Plötzlich brüllte er: »Carbon Outlaw 5-4, Hawkeye 13 auf 3-4!«

Mit der herrischsten Stimme, die Terry aufbieten konnte, antwortete er: »Roger, 13. Ich habe gerade von 3 erfahren, dass Landezone X-Ray sauber ist.«

Callaways Augen wurden groß. Er starrte ins Leere und sah etwas, das nicht da war. »Negativ, Carbon Outlaw, habe Charlie auf der Felserhebung des Chu-Pong-Massivs gesichtet. Der Feind bereitet einen Hinterhalt vor. Ich bin vier Kilometer ostsüdöstlich und habe Sichtkontakt. Landezone X-Ray ist nicht sauber. Wiederhole, Landezone X-Ray ist nicht sauber.«

Terry hatte sich mit Callaways Hintergrund befasst. Der Soldat war noch nie außerhalb der Kolonie gewesen. Welche Szene auch in seinem Kopf ablief, sie musste einer Wahnvorstellung entstammen.

»Verstanden, 13«, sagte er. »Arrangiere mit DASC Kampfjets für Landezone X-Ray.«

Jemand von Terrys Truppe kam um die Ecke den Flur herunter und hielt einen Betäubungsstab bereit. Aber Terry winkte die Verstärkung weg.

Er fuhr fort: »Arrangiere Evakuierung von Verwundeten aus Landezone Victor. Sanitäter sind vor Ort. Verstanden?«

Die Anspannung im Gesicht des riesigen Soldaten legte sich.

Terry näherte sich ihm vorsichtig. »Sergeant Callaway, ziehen Sie sich zurück. Wir halten die Position.«

Der Patient atmete tief ein und blies die Luft langsam aus. Tränen kullerten ihm über die Wangen, und er blinzelte, als sein Blick in die Gegenwart zurückkehrte.

»Tut mir leid, Terry.« Er wischte sich mit den Handballen die Augen ab. »Ich hab mich wieder in der Zeit verloren.«

Terry schluckte schwer und tätschelte dem Mann den Arm. »Schon gut, Josh. Ist ja nichts passiert. Kommen Sie mit. Gehen wir Ihre Medikamente auffrischen.«

* * *

»Das Beruhigungsmittel wird ihn ein paar Stunden außer Gefecht setzen«, sagte eine Pflegerin in blauem Kittel, während sie etwas auf das holografische Bild eines Tablet-Computers kritzelte. »Beeindruckend, wie es Ihnen gelungen ist, seine Wahnvorstellung zu durchdringen. Normalerweise müssen wir ihn betäuben, wenn er so wird.«

Sie standen am Eingang zu Josh Callaways Zimmer. Sogar im Schlaf bildete das Zucken der Finger des Mannes ein verräterisches Zeichen für die traumatische Hirnverletzung, die noch nicht verheilt war. Terry fühlte sich dem geschädigten Soldaten und seinen inneren Kämpfen irgendwie verbunden.

»Bessert sich sein Zustand eigentlich?«, fragte Terry. »Wie lautet seine Prognose?«

Die Pflegerin ließ das Bild des Tablets mit einer Handbewegung verschwinden und bedeutete Terry, ihr zur Schwesternstation zu folgen. »Na ja, dafür, dass ihm der Schlag bei dem Unfall praktisch die Schläfe eingedellt hat, geht es ihm fantastisch. Die Nanobots verrichten ihre Arbeit. Ich würde sagen, in einem weiteren Monat sollte er zur Normalität zurückgefunden haben. Allerdings wird er sich wohl an Vieles nicht erinnern. Die jüngsten Erinnerungen können wir in der Regel nicht zurückholen.«

Als Sicherheitsleiter der Bergbaukolonie wusste Terry, was mit Callaway passiert war. Und es war eindeutig kein Unfall gewesen. Die UNO hatte einen weiteren Spion hergeschickt, der es irgendwie vorbei an den meisten Sicherheitskontrollen geschafft hatte. Aber nicht vorbei an Callaway. Der Spion hatte ihn in einen Hinterhalt gelockt und mit einem Schlag überrumpelt, der einen kleineren Mann wahrscheinlich getötet hätte.

Terry gelobte sich, nie wieder einen dieser UNO-Drecksäcke an ihren Schutzeinrichtungen vorbeizulassen. Er wünschte nur, er wüsste, wonach zum Teufel sie suchen mussten.

»Hey, Terry.« Es war Candace, eine der Pflegerinnen, die ihm aus dem Pausenraum zuwinkte. »Lust auf eine Limonade?«

Er trat ein, gesellte sich zu ihr. »Hey, Candace.«

Sie schaute an ihm vorbei zu Ranger, der unmittelbar vor der Tür angehalten hatte. Der Hund hatte einen misstrauischen Ausdruck im pelzigen Gesicht. »Hallo, Kleiner«, begrüßte sie ihn. »Ist schon gut. Ich denke, ich finde hier irgendwo ein Leckerli für dich, wenn du willst.«

Ranger wedelte mit dem Schwanz, drehte sich um und bewegte sich rückwärts in den Raum.

»Was macht er denn da?«

Terry schmunzelte. »Als ich ihn bekommen habe, war er ein Wrack. Laut Tierarzt wurde er ihn in einer der tieferen Minen gefunden, die Nase gebrochen, weil er gegen eine Glastür gelaufen war. Ich will gar nicht sagen, wie viele Credits es mich gekostet hat, ihn zusammenzuflicken zu lassen. Hat sich aber gelohnt. Nur kann er Türen deshalb nicht viel abgewinnen.«

»Oh, du armes Ding. Tut mir leid, dass die Glastür dir wehgetan hat.« Candace hockte sich hin und gab Ranger einen Hundekeks. Er fraß ihr aus der Hand. Sein Schwanz verschwamm vor lauter Wedeln.

Terry streichelte Ranger, der die zu Boden gefallenen Krümel aufleckte. Dann ergriff er den Kopf des Hunds und drückte ihm einen Kuss oben auf die Schnauze. »Angeknackst hin oder her, ich würde dich gar nicht anders haben wollen.«

* * *

Priya lag im Bett und hörte sich mit Ohrstöpseln die Aufzeichnung der letzten von ihr gehaltenen Vorlesung an, während ununterbrochen ihr Wecker piepte.

»Also gut, alle zusammen. Diejenigen, die letzte Woche nicht wach waren, erinnere ich daran, dass wir den Seebeck-Effekt behandelt haben, der die Umwandlung von Temperaturunterschieden in Spannung über Thermoelemente ermöglicht. Wie Sie wissen, haben wir in den thermoelektrischen Generatormodulen, die heutzutage die meisten unserer mobilen Geräte mit Strom versorgen, zerfallende Elemente wie Strontium 90. Diese langlebigen Versorgungspakete enthalten zwangsläufig starke Betateilchen-Emitter, die abgeschirmt werden müssen. Das bloße Aufhalten der Betateilchen erzeugt Bremsstrahlung, eine durchdringendere Strahlungsart, die ebenfalls berücksichtigt werden muss. Heute behandeln wir, wie man die Dicke der benötigten Abschirmung berechnet, und wir gehen die verschiedenen verfügbaren Optionen durch ...«

Jedes Mal, wenn sie eine Aufnahme von sich selbst hörte, überraschte sie, wie deutlich ihr britischer Akzent durchdrang. Das ärgerte sie, wenngleich nicht genug, um etwas dagegen zu unternehmen. Wesentlich mehr ärgerte sie sich über den Professor, der ihr mitgeteilt hatte, sie käme bei Vorlesungen schnippisch rüber. Wenn das stimmte, musste sie sich damit auseinandersetzen. Auf lange Sicht wahrscheinlich Zeitverschwendung – aber wenn sie ihren Doktortitel haben wollte, musste sie mitspielen.

Ihre Schlafzimmertür öffnete sich, und Tante Jen schaltete das Licht ein. »Es ist fast sieben! Du kommst zu spät zur Schule.«

Priya lebte seit kurz nach dem vorzeitigen Tod ihrer Eltern vor sieben Jahren bei ihrer Tante. Damals war Priya 17 gewesen. Tante Jen hatte keine eigenen Kinder und nie welche gewollt. Dennoch hatte sie von sich aus angeboten, sich um Priya zu kümmern, und dafür war Priya dankbar.

»Ich bin bereit«, sagte sie stöhnend. Sie schlug die Decke zurück und offenbarte, dass sie bereits vollständig angezogen war.

Tante Jen sah sie über den Rand ihrer Brille an und schnaubte missbilligend. »Vergiss nicht, dass du zugestimmt hast, Mrs. Peetes kleine Göre zur Röhrenstation zu begleiten. Es ist ihr erster Schultag, und ich bin sicher, sie wartet schon ungeduldig in ihrer Wohnung.«

»Ich komme gleich raus.«

Tante Jen zog sich zurück und hinterließ einen Hauch von Rosenduft, von dem Priya ein wenig übel wurde.

Sie klatschte auf den Knopf an ihrem Wecker, blickte in den Spiegel, der über ihrer Kommode hing, und verzog das Gesicht. Ihr dichter Schopf dunkler Haare fiel ihr über die Schultern und müsste gut zehn Minuten gebürstet werden, um all die Knötchen zu beseitigen. Zehn Minuten, die sie nicht hatte. Also begnügte sie sich damit, grob mit den Fingern durch ihre widerspenstige Mähne zu fahren, bevor sie sich ihre Tasche schnappte und den Weg nach draußen antrat.

Es war ein wunderschöner Morgen in Südflorida. In einer sanften Brise lag der Duft von frisch geschnittenem Gras und sogar einen Hauch des Meers, obwohl die Küste fast 20 Kilometer entfernt lag.

»Priya!«

Sie drehte sich um und erblickte Anna Peete, die zu ihr eilte. Anna war eine bezaubernde Fünfjährige mit Zöpfchen. Sie trug eine frisch gebügelte Schuluniform und einen Rucksack, der fast so groß war wie sie selbst.

Das Mädchen lächelte. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht, du könntest vergessen haben, dass wir heute zusammen gehen wollten.«

»Auf keinen Fall, Gummibärchen.« Hand in Hand marschierten die beiden von ihrem Wohnkomplex zur Röhrenstation los. »Bist du aufgeregt wegen deinem ersten Schultag?«

Anna schaute mit großen blauen Augen zu Priya auf. »Geht so«, antwortete sie mit leicht zittriger Stimme.

Priya drückte die Hand der Kleinen. »Solche Reisen hast du schon oft gemacht. Was hältst du davon? Wir überprüfen, wie viel du schon weißt. Wenn du wirklich bereit für die Schule bist, solltest du das Quiz locker bestehen. Hast du Lust?«

»Okay, ich versuch’s.« Die Züge der Kleinen hellten sich ein wenig auf.

»Wo sind wir, und wohin gehen wir?«

Anna zeigte auf das Schild für die Röhrenstation. »Das ist einfach. Wir sind in Coral Springs, Florida, und ich muss in die Klasse von Mrs. Robinson an der David Holmes Grundschule für Weltraum- und Naturwissenschaften in Cape Canaveral.«

Priya runzelte die Stirn. »Hm. Du hast recht, das war zu einfach. Ich muss mir eine schwierigere Frage ausdenken.«

Anna grinste.

Sie gingen die Treppe zur Röhrenstation hinauf und passierten dabei eine mütterlich wirkende, mit Lebensmitteleinkäufen beladende Frau. Als sie oben ankamen, erschien unmittelbar vor ihnen das Hologramm eines lächelnden Rekrutierungsbeamten in einem Laborkittel mit Regierungslogo.

»Willkommen, Nachbarn! Leute wie ich sorgen dafür, dass die Röhren effizient und sicher funktionieren. Gebt *92-8374 auf eurem SMS-Gerät ein, um mehr darüber zu erfahren, wie ihr euch dem Team anschließen könnt.«

»Okay, mal sehen, wie du mit der Frage zurechtkommst«, sagte Priya. »Wie weit ist unser Ziel entfernt?«

»Pfff. Immer noch einfach. Nach Cape Canaveral sind es 300 Kilometer. Das sind 185 Meilen.«

Mittlerweile hatten sie die Ankunfts- und Abfahrtsplattform erreicht. Anna trat an ein Bedienfeld. Es senkte sich um einen knappen halben Meter, damit sie es leichter erreichen konnte. Sie drückte die Hand auf den Touchscreen. Die Anzeige wechselte automatisch zu ihren benutzerdefinierten Einstellungen. Eine Frauenstimme mit britischem Akzent ertönte.

»Guten Morgen, Anna. Ich bin Lexie, deine Röhrenassistentin. Du hast die Berechtigung für vier verschiedene Ziele auf deinem Konto. Wohin möchtest du?«

Anna wandte sich Priya zu und zeigte auf den Bildschirm. »Siehst du? Die Entfernung nach Cape Canaveral ist hier angegeben. Da steht auch, dass die Fahrt etwa 15 Minuten dauert, also ...« Konzentriert knautschte sie die Züge zusammen. »Unsere Höchstgeschwindigkeit sollte bei etwa 2.250 Kilometern pro Stunde liegen, und die Beschleunigung wird nicht mehr als etwa 0,3 G betragen.«

Priya lächelte ihre frühreife Nachbarin an. »Das ist unglaublich. Wer hat dir beigebracht, die Beschleunigung so zu berechnen?«

»Pah ... das ist doch nicht schwer. Man muss nur Delta v in Beziehung zu Delta t setzen und den erhaltenen Wert in G umrechnen.« Anna legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. »Das hast du mir beigebracht. Vor einer Ewigkeit.« Sie wandte sich wieder dem Bedienfeld zu. »Lexie, ich muss zur Schule. Priya kommt mit mir.«

»Zwei Passagiere für den David Holmes Education Campus in Cape Canaveral. Bitte um Bestätigung.«

»Bestätigt«, sagte Anna und nickte übertrieben.

Das Geräusch rauschender Luft hinter den Metalltüren zur Röhre wurde lauter. »Baue Vakuum auf. Reihe Anfrage um Transportverbindung zwischen Coral Springs-North Junction und Hauptterminal DHEC-Cape Canaveral.«

Priya legte Anna die Hand auf die Schulter. »Siehst du? Du kennst dich bestens damit aus.«

»Ja, denke schon. Trotzdem ist es schön, nicht allein fahren zu müssen.«

»Verbindung hergestellt. Fahrzeug trifft ein in drei ... zwei ... eins ...« Mit einem lauten Zischen glitten die Türen auf. Zum Vorschein kam eine unbesetzte Kapsel mit zwei weich gepolsterten Sitzen. »Fahrzeug ist zum Einsteigen bereit.«

Sie betraten die Kapsel. Kaum saßen sie beide, schlossen sich die Türen, und Priya spürte, wie sich der Luftdruck veränderte.

»Abfahrt in Kürze.«

Die in die Sitze eingebauten, automatischen Sicherheitsgurte wurden aktiviert und wickelten bei beiden ein mullartiges Geflecht um die Beine und die Brust. Priya wusste, dass die Gurte nur eine Illusion von Sicherheit erschufen. In Wirklichkeit konnte sie bei Geschwindigkeiten von mehr als Mach 2 kein Gurt der Welt am Leben erhalten, falls irgendwelche Schwierigkeiten auftraten. Von ihnen würde nicht mal genug übrigbleiben, um ein Einmachglas zu füllen.

Auf diese Weise waren Priyas Eltern gestorben.

Flüsterleise verließen sie die Station Coral Springs. Die Geschwindigkeit der Kapsel steigerte sich allmählich. Die Sitze schwenkten automatisch in Beschleunigungsrichtung. Nach weniger als einer Minute wurden sie langsamer.

»Passagiere, wir erreichen gerade das Hauptumschaltterminal in Fort Lauderdale. Bitte sitzenbleiben. Ihr Fahrzeug wird automatisch in die richtige Warteschlange für den Hochgeschwindigkeitstransport gereiht.«

In der Kapsel erschien das Hologramm eines Sicherheitstechnikers. »Willkommen, Nachbarn! Ihr steht kurz davor, deutlich schneller als der Schall durch unseren wunderbaren Staat befördert zu werden. Manche Passagiere fühlen sich beim Anblick der vorbeirasenden Landschaft etwas unwohl, deshalb sind alle Fahrzeuge mit Verdunklungsportalen ausgestattet, die bei Bedarf genutzt werden können. Und falls ihr aus irgendeinem Grund das Gefühl habt, die Reise unterbrechen zu müssen, beachtet bitte den roten Notfallknopf an jedem Sitz. Haltet den Knopf drei Sekunden lang gedrückt, um eine Notumleitung anzufordern. Noch Fragen?«

»Nein«, sagte Anna.

Das Hologramm richtete den Blick auf Priya. Lächelnd schüttelte sie den Kopf.

»Also gut. Entspannt euch, in 45 Sekunden seid ihr unterwegs. Vielen Dank fürs geduldige Zuhören und angenehme Reise.«

Priya schaute aus dem Fenster zu all den anderen Röhren, die in der Umschaltstation zusammenliefen. In der Ferne warteten Arbeiter in Vakuumanzügen mit einem Plasmaschneider ein Röhrenfahrzeug, das man auf ein Reparaturgestell gehoben hatte. Ihre Kapsel setzte sich wieder in Bewegung und glitt sanft über eine Magnetschiene, bevor sie in eine neue Warteschlange gereiht wurden.

»Weißt du, warum es in der Röhre immer still ist?«, wandte sich Priya an Anna.

Die Kleine schüttelte den Kopf. »Bin mir nicht sicher.«

»Schall kann nicht durch ein Vakuum reisen.«

»Wir sind in einem Vakuum? Das wusste ich nicht.«

»Natürlich. Diese Fahrzeuge erreichen nur deshalb so hohe Geschwindigkeiten, weil sie sich in einer reibungsfreien Umgebung befinden.«

Annas Augen weiteten sich, als sie begriff. »Klingt einleuchtend. Keine Luft, also kein Wind, der uns bremst. Und wir sind auf einer Magnetschiene, also berühren wir während der Fahrt nichts.«

»Genau. Und weißt du, warum sich Schall nicht durch ein Vakuum ausbreiten kann?«

»Na ja, weil ... weil ...« Das kleine Mädchen schürzte die Lippen, konzentrierte sich einige Sekunden lang und zuckte dann mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«

»Weil Schall eigentlich eine mechanische Welle ist und sich Wellen durch vibrierende Partikel in der Luft ausbreiten, aber ...«

»Aber in einem Vakuum gibt’s keine Luft!«, beendete Anna triumphierend den Satz, als wäre ihr eine neue Entdeckung gelungen.

»Haargenau.«

»Achtung. Euer Fahrzeug ist das nächste in der Reihe. Abfahrt aus dem Umschaltterminal Fort Lauderdale in drei ... zwei ... eins ...«

Priya wurde gegen den Sitz gepresst, als die Kapsel beschleunigte. Ein Bildschirm vorn zeigte ihre Geschwindigkeit an. Nach knapp mehr als einer Minute hatten sie 600 Kilometer pro Stunde überschritten.

Anna schaute aus dem Fenster, während Priya für die kurze Reise über eine rätselhafte E-Mail grübelte, die sie am Vorabend erhalten hatte. Sie fragte sich, was sie zu bedeuten hatte.

Der Absender war ein gewisser Colonel Jenkins von einem Zweig des Militärs, von dem Priya noch nie gehört hatte. Er ersuchte sie um ein Treffen im Flur vor ihrem Kurs über relativistische Quantenfeldtheorie. Woher wusste er, welche Kurse sie belegte?

Anfangs war sie bloß neugierig gewesen. Aber je genauer sie darüber nachdachte, desto verwirrender fand sie die E-Mail. Wer war dieser Typ? Und wichtiger noch: Was wollte er von ihr?

* * *

Priya saß in Mama Tina’s Diner , einem kleinen Restaurant am Rand des Campus. Ihr Magen knurrte, während sie die Speisekarte durchblätterte. Sie entschied sich für ein Gericht, das ihre Mutter oft zubereitet hatte.

»Priya!«

Sie schickte ihre Bestellung ab und schaute auf, als Karen Tian, eine ihrer Klassenkameradinnen in Physik, von einem nahen Tisch herüberkam und ihren Teller mitbrachte. Sie setzte sich Priya gegenüber.

»Hi, Karen«, grüßte Priya. »Ich dachte, hierher kommst du nur zur nächtlichen Völlerei, wenn die Junkfood-Automaten offline sind.«

Karen schüttelte den Kopf, sägte an ihrer in Soße ertränkten Mahlzeit, was immer es sein mochte, und steckte sich einen Bissen in den Mund. »Ne, das Zeug ist auch gut gegen Kater. Und eins kann ich dir sagen: Lass dir nie von jemandem einreden, von Pflaumenwein könnte man nicht betrunken werden.«

»Bestellung fertig«, verkündete die künstliche Stimme des elektronischen Kellners. Ein Schlitz öffnete sich, und ein Teller voll dampfendem, mit Käsewürfeln gesprenkeltem Spinat rollte heraus.

Priya hielt die Haare beiseite, beugte sich vor und atmete das Aroma von Ingwer, Garam Masala und Knoblauch ein.

»Was ist das?«, fragte Karen.

»Palak Paneer. Ein traditionelles indisches Gericht. Im Grunde pürierter Spinat mit indischen Gewürzen und Käsestücken.« Sie kostete einen Löffel und kaute auf dem gummiartigen veganen Käse. Sie wünschte, sie könnte ein Lokal finden, das echten Käse auf Milchbasis verwendete, wie es ihre Mutter getan hatte.

Priya zeigte mit dem Löffel auf Karens Teller. »Und was ist das?«

Karen sägte erneut an ihrem steakähnlichen Gericht. »Ein alter Klassiker aus dem Süden. Gebratene Hähnchenbrust mit Wurstsoße. Die totale Salz- und Fettbombe, aber super gegen die Kopfschmerzen, die ich loswerden will.« Sie fuhr mit der Gabel durch die klumpige, grau-weiße Soße. »Kannst du dir vorstellen, dass man dafür tatsächlich Kühe umgebracht und echte Sahne benutzt hat? Ist ein Wunder, dass unsere Vorfahren nicht vor lauter Scham gestorben sind – oder an reihenweise Herzinfarkten. Allein der Gedanke daran, was sie gegessen haben ...« Karen schauderte.

Priya lächelte nur. Sie erinnerte sich daran, wie gut die echten Sachen schmeckten. Und auf die eine oder andere Weise wollte sie sich etwas davon besorgen. Allerdings hatte sie nicht vor, Karen von ihrer kleinen Ketzerei zu erzählen. Sie brauchte keinen Vortrag von jemandem, der kaum mit dem Unterricht mithalten konnte.

* * *

»Aufwachen.«

Das Wort wurde in Form von Morsecode auf ihre Kopfhaut getippt.

Erschrocken schaute Priya auf und sah sich um. Niemand im Hörsaal achtete auf sie. Alle kritzelten eifrig Notizen, während Professor Darby vor sich hin laberte wie der Dampfplauderer, der er war.

Sie flüsterte: »Was zum Teufel soll das, Harold?«

Ein wildes Tippen auf ihren Kopf setzte ein, und sie stellte sich vor, wie ihr versteckter Begleiter belehrend einen Finger schwenkte.

»Du solltest nicht im Unterricht dösen. Was, wenn etwas vorkommt, das du wissen musst?«

»Jetzt mach aber mal halblang. Dieser Kurs über Quantenfeldtheorie ist sagenhaft öde. Darby hatte keine originelle Idee mehr, seit ... Vielleicht noch nie.«

Vorn im Hörsaal leierte der Professor weiter vor sich hin. »Ein Operator, der auf identische Bosonen wirkt, kann in Form von N-Teilchen-Wellenfunktionen beschrieben werden, der ersten Quantisierung, oder in Form von Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren im Fockraum, der zweiten Quantisierung. Bei dieser Übung geht es darum, die Operatoren von einem Formalismus in einen anderen umzuwandeln ...«

»Den Kram kann ich im Schlaf«, flüsterte Priya. »Warum lässt du mich also nicht einfach weiterdösen?«

Harold schwieg. Entweder wusste er keine gute Erwiderung, oder er war einfach nur launisch.

Harold war eine künstliche Intelligenz, verkapselt in einer fortschrittlicheren Form als alles, was Priya je erlebt hatte. Er konnte seine Gestalt verändern und physisch nahezu alles nachahmen, unter anderem, so wie jetzt, ihr Haar und ihre Haut. Außerdem war er eine Art Familienerbstück. Er barg die Erinnerungen aller Radcliffes vom Großen Exodus bis heute.

Allerdings gab er sich in letzter Zeit besonders mürrisch. Manchmal fragte sich Priya, ob er auch ihre Persönlichkeit nachahmte. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – kam sie mit Harold besser aus als praktisch mit irgendjemandem sonst.

Die Vorlesung ging zu Ende, und die Studenten begannen, den Hörsaal zu verlassen. Priya zögerte damit, als sie an das seltsame, draußen im Flur geplante Treffen dachte. Es lag nicht in ihrer Natur, sich vor Konfrontationen zu scheuen. Andererseits musste sie sich nicht oft mit unbekannten Offizieren und deren genauso unbekannten Absichten auseinandersetzen.

»Miss Radcliffe?«

Priya fuhr vor Schreck beinah aus der Haut. Ein großer Mann in Militäruniform stand direkt neben ihr.

Es musste Colonel Jenkins sein.

»Ich habe dir ja gesagt, du sollst nicht im Hörsaal schlafen«, tippte Harold, der sich immer noch in ihrem zerzausten Haar verbarg.

Der Colonel streckte die Hand aus und schenkte ihr ein ironisches Lächeln. »Ich habe mich hereingeschlichen, während Sie gedöst haben. Ziemlich mutig, in einem Kurs der Stufe 700. Passt aber zu Ihrem Profil.«

Priya schüttelte ihm die Hand und schäumte innerlich über Harold, weil er sie nicht vorgewarnt hatte.

»Ich nehme an, Sie haben meine E-Mail gestern Abend erhalten.«

»Habe ich, aber ...«

»Ich erkläre es Ihnen unterwegs.«

Der Colonel bedeutete ihr, ihm zu folgen, als er sich zum Ausgang in Bewegung setzte. Priya musste praktisch rennen, um aufzuschließen. Die Schritte des Mannes fielen leicht anderthalbmal so lang aus wie ihre.

Vor dem Gebäude für Kunst und Naturwissenschaften schwenkte Jenkins zum nördlichen Teil des Campus.

»Wohin gehen wir?«, fragte Priya.

Der Colonel zeigte auf ein hohes Gebäude vor ihnen. »Weltraum- und Wissenschaftsmuseum.«

Das Museum? Warum? Aber Priya hatte eine noch vordringlichere Frage.

»Zu welchem Zweig des Militärs gehören Sie? In der Signatur Ihrer E-Mail steht UNSOC, aber dafür konnte ich online keine vernünftige Definition finden.«

Der Colonel warf ihr einen Seitenblick zu. »Das steht für United Nations Special Operations Command . Sondereinsatzkommando der Vereinten Nationen. Wir betreiben keine Öffentlichkeitsarbeit, aber wir sind direkt dem Ersten Rat der UNO unterstellt.«

Priya interessierte sich nicht sonderlich für Politik, dennoch wusste sie, dass der Erste Rat die Spitze der Regierungshierarchie bildete. Demnach musste das UNSOC, was immer es genau sein mochte, eine bedeutende Einrichtung mit Zugang zu bedeutenden Personen sein, die bedeutende Mittel kontrollierten. Und wenn Priya während der letzten Jahre beim Knüpfen von Kontakten in akademischen Kreisen etwas gelernt hatte, dann, dass Finanzierung der Schlüssel zu wissenschaftlichem Fortschritt war.

Am Eingang des Museums zeigte der Colonel dem diensthabenden Wachmann sein Abzeichen. Der Mann nickte, führte sie an einer Schlange von Touristen vorbei und schickte sie durch eine Reihe von reservierten Drehkreuzen.

Priya setzte zu einer weiteren Frage an, aber Colonel Jenkins hob die Hand. »Gehen wir in einen sicheren Bereich, bevor wir unser Gespräch fortsetzen.«

Priya presste die Lippen zusammen, als sie dem Mann durch das Museum folgte. Zu ihrer Überraschung war jegliche Beklommenheit verschwunden und von einer kribbelnden Aufregung abgelöst worden. Sie hoffte, dass es sich um eine ausgefallene Rekrutierungsstrategie handelte. Priya hatte bereits vor, nach dem Abschluss in den Dienst einzutreten, aber wenn er sie einlüde, es sofort zu tun, würde sie vielleicht spontan zusagen.

Während sie an Attrappen alter Raumfähren aus dem 20. und 21. Jahrhundert vorbeigingen, drang eine synthetische Stimme durch Lautsprecher in der Decke.

»Am 20. Dezember 2019, heute bekannt als 47.354 VE, unterzeichnete Donald J. Trump, Präsident der Vereinigten Staaten, das Gesetz zur Bildung der United States Space Force. Jahrzehntelang blieb sie als die USSF bekannt, bis sie 45 Jahre nach dem Großen Exodus, am 45.30 NE, in den Zuständigkeitsbereich der Vereinten Nationen überführt wurde.«

Sternzeit 45 entsprach dem frühen 22. Jahrhundert. Eine Zeit, in der die einzelnen Nationen dabei waren, sich unter einer Dachregierung zusammenzuschließen, geleitet von den Vereinten Nationen. Außerdem eine Zeit globaler Unruhen. In Priyas Geschichtsunterricht war diese Periode der Erdgeschichte beschönigt dargestellt worden, aber es gab genug Daten im Internet, um einen Blick auf die Wahrheit zu werfen. Damals herrschten Unruhen, Aufstände, allgemeines Chaos. Die Menschen widersetzten sich dem Wechsel zu einer Weltregierung. Verständlich – Veränderungen fielen immer schwer. Manchen Quellen zufolge konnte die Lage erst beruhigt werden, als die UNO das Kriegsrecht verhängt hatte.

Priya folgte dem Colonel vorbei an einer verkleinerten, aber immer noch riesigen Nachbildung eines Raumschiffs.

»Zu Sternzeit 151.23 unterzeichnete UN-Generalsekretärin Natalja Poroschenko die endgültige Genehmigung zum Bau der Voyager, die zum ersten interstellaren Raumkreuzer der Menschheit werden sollte. Details der Konstruktion sind nach wie vor geheim, aber es heißt, sie geht auf einen fast 200 Jahre alten Entwurf von Dr. David Holmes persönlich zurück.«

Jenkins führte Priya durch eine Tür mit der Aufschrift »Nur für Militärpersonal«. Sie gingen einen Flur entlang und blieben vor einer ungekennzeichneten Metalltür ohne Griff stehen. Ein uniformierter Militärpolizist stand mit versteinerter Miene daneben.

Der Colonel reichte dem Soldaten seinen Ausweis. Der Wachmann zog ihn durch einen Scanner, gab ihn zurück und salutierte.

Jenkins deutete mit dem Daumen in Priyas Richtung. »Ich habe für Priya Radcliffe im Voraus einen Tagesausweis autorisiert. Ich bin ihr Begleiter.«

»Ja, Sir.« Der Sergeant, der die Hand nie weiter als ein paar Zentimeter von der Handfeuerwaffe an seiner Seite entfernte, wandte sich an Priya. »Miss Radcliffe, haben Sie Ihre CAC bei sich?«

Ale Studenten auf dem Campus hatten eine Common Access Card, eine einheitliche Zugangskarte. Sie ermöglichte den Zutritt in die verschiedenen akademischen Gebäude. Priya kramte die Karte aus der Tasche und überreichte sie dem Sergeant.

Er zog sie durch seinen Scanner. Als eine grüne LED am Gerät aufleuchtete, gab er ihr die Karte zurück und drückte einen Knopf auf einer schwarzen, an seinem Gürtel befestigten Box. Ein Summen ertönte. Der Colonel drückte die Tür auf und bedeutete Priya, ihm zu folgen.

Sie betrat einen kurzen, schlichten, unbemalten Betonflur. Die Tür schwang hinter ihnen zu, und Priya spürte, wie sich dabei der Luftdruck änderte. Ihre Ohren fielen zu.

Dann öffnete sich eine Tür am anderen Ende des Korridors.

Der Colonel marschierte los, Priya hetzte seinen langen Schritten hinterher. »Für die Erlaubnis, Sie hierher zu bekommen, waren mehr Unterschriften nötig, als Sie sich vorstellen können«, sagte er. »Aber denken Sie daran: Alles, was Sie von hier an sehen und hören, ist geheim.«

Sie gingen durch die offene Tür in eine riesige Halle, die wie ein Hangar aussah. In der Mitte wurde von zig ferngesteuerten Maschinen an einer großen Metallkonstruktion gebaut. Einige schweißten Stege zwischen Abschnitte des Rahmens, andere verlegten Drähte von einem Ende zum anderen. Kameradrohnen schwirrten durch die Luft und erfassten Bilder aus jedem Winkel.

»Wissen Sie, was Sie hier vor sich haben?«, fragte Jenkins.

Priya konnte das Lächeln in ihrem Gesicht nicht unterdrücken. Im Verlauf der Jahre hatte sie viele Raumfähren und sonstige Raumfahrzeuge gesehen. Sie hatte Starts und Landungen miterlebt, manchmal aus ziemlicher Nähe. Aber das ... war etwas völlig anderes. Die Konstruktion vor ihr stellte nur einen kleinen Teil eines viel, viel größeren Schiffs dar. Eines Schiffs, dessen Nachbildung sie eben erst im Museum passiert hatte.

»Ich dachte, das würde oben im Weltraum gebaut«, sagte sie mit rasendem Herzschlag. »Ich meine, das kann eigentlich gar nicht sein. Ist das wirklich ein Teil von Raumschiff Voyager? «

»Ja.« Jenkins lächelte und zeigte von einem Ende der Halle zum anderen. »Priya Radcliffe, willkommen bei SAMER, kurz für Starship Advanced Metallurgic Engineering and Research . Dem Herzstück von Projekt Voyager.« Mit einem Fingerzeig bedeutete er ihr, ihm weiter zu folgen. »Lassen Sie mich Ihnen einige Mitglieder des Teams vorstellen.«