2. Inhalt

Das Schauspiel Iphigenie auf Tauris besteht aus fünf Aufzügen. 1779 schrieb Goethe eine erste Prosafassung, 1781 bereits eine zweite. Am 6. April 1779 wurde die erste in Weimar uraufgeführt. 1780 folgte dann die erste Versfassung in freien Jamben, schließlich vollendete Goethe 1786 unter Mithilfe von Karl Philipp Moritz die zweite Versfassung in Blankversen; sie kam am 15. Mai 1802 in Weimar auf die Bühne.

Antiker Stoff

Der Stoff zu Iphigenie auf Tauris stammt aus der griechischen Tantalidensage: Tantalos, ein mächtiger Titan, Sohn des Zeus und der Pluto, darf an der Tafel der Götter speisen. Vor lauter Übermut stellt er die Allwissenheit der Götter auf die Probe: Er schlachtet seinen Sohn Pelops und serviert ihn als Mahl an der Göttertafel. Außerdem verrät er den Menschen die Pläne, welche die Götter für die Erde beschlossen haben. Zur Strafe verdammt Zeus den Titanen zu ewigen Qualen in die Unterwelt und verflucht seine Nachkommen, so zum Beispiel Atreus und seine beiden Söhne Agamemnon und Menelaos. Auch die Kinder von Agamemnon und Klytämnestra: Elektra, Iphigenie und Orest sind dem Familienfluch (vgl. 306–432) ausgeliefert.

Den dramaturgischen Kontext zu der Familientragödie liefert der Kampf um Troja. Agamemnons Bruder Menelaos ist mit Helena vermählt, doch sie wird von Paris, dem Sohn des trojanischen Königs Priamos, geraubt und nach Troja verschleppt. Die Griechen machen sich auf den Weg, die Entführte zurückzuholen, mit ihrer Flotte wollen sie von Aulis zum Kampf gegen Troja aufbrechen, doch es herrscht Windstille, und die Schiffe müssen zunächst im Hafen liegen bleiben. Die Göttin der Jagd, Artemis (Diana), verspricht den Griechen den ersehnten Wind unter der Bedingung, dass Agamemnon ihr seine Tochter Iphigenie opfert; der ist mit dieser Forderung einverstanden.

Während der Opferzeremonie aber entführt Artemis Iphigenie in einer Wolke auf die taurische Halbinsel, wo sie den barbarischen Skythen als Priesterin dient. Es gehört zu ihren Aufgaben, Fremde, die an die Küste verschlagen werden, zu opfern.

Der siegreiche Agamemnon wird, als er aus Troja heimkehrt, von seiner Frau und ihrem Liebhaber Aigisthos ermordet. Sein Sohn Orest wird daraufhin vom delphischen Apollon aufgefordert, den Tod seines Vater zu rächen, und bringt sowohl seine Mutter als auch Aigisthos um. Wegen des Muttermordes verfolgen die Erinnyen, die Rachegöttinnen, Orest. Das Delphische Orakel verspricht ihm Erlösung, wenn er die hölzerne Kultfigur der taurischen Artemis nach Griechenland holen würde.

Als Orest und sein Freund Pylades auf der taurischen Halbinsel erscheinen, erkennt Iphigenie ihren Bruder. Sie hintergeht zusammen mit den beiden Männern den Taurerkönig Thoas, und die drei Griechen entkommen mit der geraubten Kultfigur in die Heimat. Orest erhält die ersehnte Erlösung und wird König von Mykene, Iphigenie versieht ihren Dienst nun als Priesterin in Attika.

Erster Aufzug

1. Iphigenie betritt den Schauplatz der gesamten Handlung, den Hain vor dem Tempel der Göttin Diana. Sie beschreibt ihr Schicksal als »zweiten Tod« (53), weil sie ihre griechische Heimat und ihre Familie vermisst; zudem erfüllt sie ihren Dienst als Priesterin bei dem Taurerkönig Thoas nur mit »stillem Widerwillen« (36). Als bedauernswert beschreibt sie auch den »Zustand« (24) der Frauen: Sie müssen ihr Leben den Männern unterordnen; schließlich bittet sie am Ende des Auftritts ihre Gönnerin, die Göttin Diana, sie von ihrem »Leben hier« (53) zu befreien.

2. Thoas, der seinen letzten Sohn im Krieg verloren hat und um den Fortbestand seiner Familie fürchtet, lässt Iphigenie durch Arkas, seinen Vertrauten, seine Heiratswünsche vortragen. Außerdem bittet Arkas sie, ihre Identität, die sie bisher verheimlicht hat, zu offenbaren; doch Iphigenie verschweigt ihre Abstammung aus der fluchbeladenen Familie des Tantalos. Arkas’ Werbung im Dienst des Thoas lehnt sie ab, nicht nur wegen des bedrohlichen Familienfluches, sondern auch, weil sie ihr »Frauenschicksal« (116) als ein »unnütz Leben« (115) bezeichnet, obwohl Arkas hervorhebt, wie segensreich Iphigenies Wirken in Tauris doch sei – so hat sie zum Beispiel den barbarischen Brauch abgeschafft, jeden Fremden, der die Insel betritt, Diana zu opfern.

3. Thoas hält, wie von Arkas angekündigt, nun persönlich um Iphigenies Hand an; sie weicht aber aus: »Der Unbekannten bietest du zu viel« (251). Schließlich drängt Thoas sie, ihre Abstammung offen zu legen; und in der Hoffnung, dass er durch die Preisgabe ihrer fluchbeladenen Familiengeschichte abgeschreckt werde, offenbart sie dem König ausführlich ihre wahre Identität. Doch Thoas lässt sich durch den grausamen Fluch, der auf ihr lastet, nicht abschrecken – er wiederholt seinen Heiratsantrag. Iphigenie entgegnet, die Ehe sei ihr nicht möglich, denn nur Diana, ihre Retterin, habe das »Recht auf [...] geweihtes Leben« (439). Der enttäuschte Thoas reagiert auf die Absage trotzig: Er befiehlt, die Menschenopfer wieder einzuführen. Zwei Fremde, die zuvor am Strand festgenommen wurden, soll Iphigenie Diana opfern.

4. Iphigenie wendet sich mit einem Gebet an Diana; sie bittet die Göttin: »O enthalte vom Blut meine Hände!« (549). Ihre Hoffnung gründet sie auf die Überzeugung, dass die Götter den Menschen wohlwollend gesinnt seien.

Zweiter Aufzug

1. Orest und Pylades, die beiden Fremden, die am Strand der Halbinsel festgenommen worden sind, diskutieren ihre prekäre Situation. So erfährt der Leser, dass Orest der Bruder Iphigenies und Pylades sein Freund ist. Orest, den quälende Schuldgefühle plagen und der sich von Rachegöttinnen verfolgt glaubt, weil er die Ermordung seines Vaters Agamemnon gerächt hat, gibt sich seinem Schicksal hin: Er ist bereit, in Tauris als »Opfertier« (577) zu sterben. Pylades dagegen ist davon überzeugt, durch listiges Verhalten gemeinsam mit dem Freund fliehen zu können. Optimistisch stimmt ihn das Orakel, das Rettung in Aussicht stellt, wenn das Bildnis der Diana von Tauris nach Delphi gebracht werde. Pylades hofft, dass er Iphigenie für seine Zwecke benutzen kann, auch wenn er sie dabei hintergehen müsste.

2. Iphigenie nimmt Pylades, den sie sofort als Griechen, als Landsmann, identifiziert, die Fesseln ab. Pylades belügt Iphigenie, indem er behauptet, dass er und Orest Brüder seien, Cephalus und Laodamas. Lediglich der Hinweis, dass auf seinem Bruder eine Blutschuld laste, entspricht der Wahrheit; allerdings sei Orest nicht für einen Mutter-, sondern für einen Brudermord verantwortlich. Pylades bleibt aber auch seinerseits über die wahre Identität Iphigenies im Unklaren, da sie sich nur als »Priesterin« (815) bezeichnet. Von Pylades erfährt Iphigenie, dass Troja gefallen ist; zudem berichtet er vom Schicksal ihres mykenischen Vaterhauses. Iphigenie verhüllt vor Schmerz und Betroffenheit ihr Angesicht, sodass sich Pylades Hoffnung macht, die Priesterin könne ihm und Orest helfen: »Und lass dem Stern der Hoffnung, der uns blinkt, / Mit frohem Mut uns klug entgegensteuern« (924 f.).

Dritter Aufzug

1. Iphigenie trifft Orest, den sie ebenfalls von den Ketten befreit. Sie weiß noch nicht, dass der Gefangene ihr Bruder ist. Orest berichtet ihr Näheres über den Tod Agamemnons und über das Schicksal der Geschwister Elektra und Orest. Als er schließlich erregt schildert, wie ihn die Furien verfolgen, und Iphigenie dies in Zusammenhang mit dem vermeintlichen Brudermord bringt, entschließt sich Orest, die Wahrheit zu sagen: »Ich kann nicht leiden, dass du große Seele / Mit einem falschen Wort betrogen werdest« (1076 f.), und gibt sich als Orest zu erkennen. Iphigenie ist überglücklich und dankt den Göttern für das Zusammentreffen mit ihrem Bruder. Orest dagegen hadert nach wie vor mit seinem Schicksal; er sehnt den Tod herbei, schließlich sinkt er vor Erschöpfung auf dem Boden zusammen. Iphigenie verschwindet, um Pylades um Hilfe zu bitten.

2. Orest erwacht aus seiner Betäubung, denkt aber, dass er tot sei. Er beschreibt eine Unterweltvision, in der ihm seine toten Familienmitglieder – bis auf Tantalos – in Harmonie vereint erscheinen, auch die von ihm selbst getötete Mutter Klytämnestra. Die Aufhebung des Fluches scheint, so suggeriert es die Vision, nur im Tode möglich.

3. Als Iphigenie und Pylades eintreffen, glaubt er, dass auch sie nun im Totenreich angekommen seien: »Seid ihr auch schon herabgekommen?« (1310). Iphigenie und Pylades versuchen, Orest von seinem Irrtum zu befreien. Die Priesterin fleht Apoll und Diana an, ihren Bruder von seinen Wahnvorstellungen zu erlösen: »O lass den einz’gen spätgefundnen mir / Nicht in der Finsternis des Wahnsinns rasen!« (1325 f.), und Pylades appelliert an die Vernunft des Freundes. Schließlich »löset sich der Fluch« (1358), Orest ist von den Rachegöttinnen befreit, nun strebt er nach »Lebensfreud und großer Tat« (1364). Pylades drängt pragmatisch auf »schnellen Rat« (1368), um aus der Gefangenschaft zu flüchten.

Vierter Aufzug

1. Iphigenie dankt in einem Monolog den Göttern für die Hilfe. Pylades mobilisiert unterdessen das Schiff, mit dem sie in Tauris angelangt sind, sowie seine Männer, damit er, Iphigenie und Orest mit dem geraubten Standbild der Diana fliehen können. Doch schnell wird der Priesterin bewusst, dass sie, auf den eindringlichen Rat des Pylades, lügen soll: »O weh der Lüge! Sie befreiet nicht, / Wie jedes andre wahrgesprochene Wort, / Die Brust« (1405–07). Als Arkas, der Bote des Königs, sich nähert, um das Menschenopfer einzufordern, befindet sie sich in einem moralischen Dilemma, da sie Arkas nur ungern belügen möchte.

2. Zunächst aber verhält sich Iphigenie so, wie sie es mit Pylades abgesprochen hat: Sie verzögert die Opferung. Der erzürnte Arkas redet ihr ins Gewissen und erinnert sie daran, dass sie die Menschenopfer verhindern könne, wenn sie die Werbung des Königs annehmen würde.

3. Arkas’ eindringliche Worte bleiben nicht ohne Wirkung auf Iphigenie: »Nun hat die Stimme / Des treuen Manns mich wieder aufgeweckt« (1522 f.). Ihr wird bewusst, dass sie Pylades’ Plan nicht ausführen kann, weil sie das Volk der Taurer, das sie edelmütig behandelt hat, nicht betrügen darf.

4. Pylades taucht wieder auf und berichtet Iphigenie von der Rettung ihres Bruders; nun möchte der listenreiche Freund das Bildnis Dianas aus dem Heiligtum rauben. Iphigenie zögert und behauptet, dass Arkas jeden Augenblick kommen könne. Pylades aber möchte verhindern, dass Arkas den Tempel betritt. Plötzlich bemerkt er, dass »Ein stiller Trauerzug die freie Stirne« (1634) Iphigenies überschattet. Pylades versucht sie zu überzeugen, dass List und Betrug die einzigen Mittel seien, um sich zu retten. Während ihre Entscheidung noch in der Schwebe bleibt, begibt sich Pylades auf den Weg, um seine Pläne zu vollenden, in der Hoffnung, dass Iphigenie zugunsten Orests lügen werde.

5. Iphigenie monologisiert über ihre verzweifelte Lage: Würde sie den Plan des Pylades umsetzen, so wären die drei Griechen zwar gerettet, aber sie würde sich damit gegenüber den Taurern schuldig machen und den Fluch, der auf ihrer Familie lastet, fortsetzen. Hin und her gerissen zwischen diesen beiden Handlungsmöglichkeiten, erinnert sie sich an das »Lied der Parzen«, das sie während ihrer Jugend kennen lernte. Es entwirft ein schreckliches Götterbild: »Es fürchte die Götter / Das Menschengeschlecht!« (1726 f.).

Fünfter Aufzug

1. Arkas berichtet Thoas über seinen Argwohn, den er gegenüber den Gefangenen und Iphigenie hegt. Zudem geht das Gerücht um, dass das Schiff der Gefangenen versteckt und abfahrbereit in der Bucht liegen soll. Der König befiehlt daher, die Fremden gefangen zu nehmen, den Hain der Göttin zu bewachen und Iphigenie herbeizubringen.

2. Thoas ist über das Verhalten Iphigenies enttäuscht: »Entsetzlich wechselt mir der Grimm im Busen; / Erst gegen sie, die ich so heilig hielt« (1783 f.). Er bedauert, dass er gegenüber der Priesterin zu gütig war: »Nun lockt meine Güte / In ihrer Brust verwegnen Wunsch herauf« (1796 f.).

3. Iphigenie und Thoas führen einen Disput. Der König äußert sein Misstrauen, weil die Priesterin die Opferung verzögert. Sie ihrerseits wirft ihm seine grausame Verhaltensweise vor, die mit der der Götter des Parzenliedes übereinstimme: »Er sinnt den Tod in einer schweren Wolke« (1816). Thoas begründet sein Verhalten damit, dass »Ein alt Gesetz« (1831) ihm sein Handeln vorschreibe, und will sich so aus der Verantwortung stehlen. Auch Iphigenie bezieht sich auf die Götterwelt in der Person Dianas, die ihr die »Frist« (1808) angeblich gewährt habe. Im Verlauf der Auseinandersetzung ringt sich die Priesterin – auf ihre eigene Kraft berufend: »Ist keine Kraft in meiner Seele Tiefen?« (1885) – zur Wahrheit durch: Sie erzählt Thoas von den Plänen des Pylades und erhebt sich damit über die taktisch angelegte Diskussion und die grausame Götterwelt des Parzenliedes. Damit rebelliert sie aber auch gegen die dominante Männerwelt: »Ich bin so frei geboren als ein Mann« (1858). Sie möchte wie die Männer auf einen verhassten Plan oder eine böse Tat verzichten dürfen. Mit ihren Worten »Verdirb uns – wenn du darfst« (1936) überträgt sie dem König die Verantwortung dafür, wie der Konflikt ausgehen könne. – Seine Entscheidung fällt noch nicht in diesem Auftritt.

4. Orest tritt mit Waffen auf, er und seine Mitstreiter wurden von den Taurern entdeckt und sind im Begriff, sich gegen die Feinde zu wehren. Auch Thoas greift zum Schwert, doch Iphigenie gebietet Einhalt mit dem Hinweis, dass das Heiligtum der Diana nicht durch Mord entheiligt werden dürfe. Sie gesteht ihrem Bruder, dass sie die Fluchtpläne ihrem »zweite[n] Vater« (2004) Thoas verraten habe.

5. Als Arkas und Pylades auf Thoas treffen, gebietet der König Waffenstillstand, solange die beiden feindlichen Parteien miteinander reden, Orest nimmt ihn an.

6. Thoas verlangt Beweise, dass Orest wirklich der Sohn Agamemnons ist. Orest präsentiert das Schwert seines Vaters, mit ihm möchte er im Zweikampf gegen den besten Taurer beweisen, dass er Agamemnons Sohn ist. Thoas selbst will den Kampf aufnehmen, doch Iphigenie gebietet Einhalt; sie nennt körperliche Besonderheiten, mit denen sie ihren Bruder als solchen identifizieren kann. Noch aber steht der Raub des Bildes im Weg, der Thoas stört: »Friede seh ich nicht« (2098). Orest klärt schließlich den Raub als ein Missverständnis auf, als eine falsche Auslegung des Orakels: Mit der »Schwester«, die von Tauris nach Griechenland gebracht werden soll, ist nicht das Bildnis der Diana, der Schwester Apollons, gemeint, sondern die Schwester des Bittstellers Orest. Schließlich lässt Thoas die drei mit den Worten »Lebt wohl!« (2174) in ihre Heimat ziehen.