6. Interpretation

Exposition: Erster Aufzug

Als Exposition bezeichnet man den Beginn eines Werks, in dem vor allem der Ort, die historische Zeit, die wichtigsten Personen und ihre meist problematische Situation vorgestellt werden. Im Fall der Iphigenie auf Tauris sind es drei Problembereiche, die das gesamte Schauspiel richtungsweisend bestimmen: 1. Wird Iphigenie in ihre Heimat zurückkehren? 2. Werden Orest und Pylades gerettet? 3. Bleibt Thoas bei seiner Heiratsforderung?

Im Auftaktmonolog begegnet uns eine verzweifelte Iphigenie; mit »schauderndem Gefühl« (4) betritt sie das »Heiligtum« (3) der Göttin Diana. Obwohl sie schon ungefähr 20 Jahre dort lebt, beschützt von einem »hohe[n] Wille[n]« (8), fühlt sie sich hier »fremd« (9); zwar ist sie körperlich auf Tauris anwesend, aber ihr Geist, ihre Seele nicht: »Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher« (6). Sie sehnt sich zurück in ihre Heimat, doch eine Rückkehr scheint aussichtslos: »Und gegen meine Seufzer bringt die Welle / Nur dumpfe Töne brausend mir herüber« (13 f.).

Auch im folgenden Auftritt ist Iphigenie zu Tode betrübt; sie beklagt, dass durch den Fluch, der auf ihrer Sippe lastet, das einst »schöne Band«, das sie mit ihrer Familie vereinte, zerrissen ist; in Tauris dagegen bleibt ihre »Seele / Ins Innerste des Busens [ihr] geschmiedet« (72 f.). Auch Arkas’ Hinweis, dass sie für Thoas und sein Volk eine hohe Bedeutung besitzt (120–143), vermag sie nicht zu trösten.

Auch wenn Iphigenie Diana anfleht, sie zu retten, so traut sie der Götterwelt doch nicht mehr viel zu: »Ich rechte [rechne] mit den Göttern nicht« (23). Im Velauf der Handlung wird sich herausstellen, dass Iphigenie nur deshalb überlegen ist, weil sie als autonome Frau handelt, die sich nicht mehr von den Göttern beeinflussen lässt.

Dabei hat die Frau aus der Sicht Iphigenies in der traditionellen Gesellschaft einen minderwertigen Status: »Der Frauen Zustand ist beklagenswert« (24); einzig dem Ehemann zu gehorchen ist »des Weibes Glück!« (29). Der Mann dagegen kann sich nach seinem Willen im Krieg ehrenvoll behaupten, und in der Fremde »weiß er sich zu helfen« (26). Iphigenie aber scheint dieser Weg versperrt, weil Thoas sie mit »heil’gen Sklavenbanden« (34) an Tauris fesselt.

Doch Iphigenie ist klug genug, um sich aus dieser unmündigen Lage zu befreien; später kann sie im fünften Aufzug selbstbewusst behaupten: »Ich bin so frei geboren als ein Mann« (1858). Dass ihr dies gelingen konnte, wird schon im Eingangsmonolog angedeutet; dort fällt auf, dass sie von sich auch in der dritten Person redet: »Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern / Ein einsam Leben führt« (15 f.); das zeigt, wie objektiviert sie sich betrachtet. Obwohl sie leidet, gibt sie sich nicht ihren Gefühlen und ihrer Verzweiflung hin, sondern betrachtet ihr Schicksal rational distanziert in der dritten Person. Damit entspricht sie der klassischen Forderung, Affekte rational zu kontrollieren und die »edle Einfalt« und »stille Größe« auch im menschlichen Handeln anzustreben. Iphigenie agiert im Verlauf des ganzen Schauspiels immer selbstbeherrscht, auch wenn ihre Selbstzweifel und die Forderungen, die an sie gestellt werden, sie zuweilen in Bedrängnis bringen.

Besonders der Heiratswunsch des Herrschers Thoas macht ihr Sorgen. Arkas, der kluge Berater des Königs, der auch Iphigenie »treu und redlich [...] ergeben ist« (151), bereitet sie auf die Werbung Thoas’ vor: Er möchte heiraten, weil er fürchtet, dass »jedes Edeln Sohn« (160) ihm sein Reich streitig machen könnte, zumal die Erbfolge nach dem Tod seines letzten Sohnes unsicher ist. Die Werbung des Arkas für seinen König lehnt Iphigenie jedoch kategorisch ab (172–200), sie möchte sich nicht von ihm erpressen lassen. Und wenn Thoas sie mit »Gewalt« in sein »Bette« (196) ziehen wollte, dann würde die Göttin Diana der Bedrängten helfen: »Die ihren Schutz der Priesterin gewiss, / Und Jungfrau einer Jungfrau, gern gewährt« (199 f.).

Als dann Thoas im dritten Auftritt persönlich um Iphigenies Hand anhält, bleibt sie ebenfalls standhaft. Als sie dem König ihre fluchbeladene Abstammung preisgibt (306–432), um ihn abzuschrecken (267–278), erhält Thoas trotzdem seine Werbung aufrecht: »Ich wiederhole meinen ersten Antrag: / Komm, folge mir und teile was ich habe« (435 f.). Iphigenie trägt Ausflüchte vor, sie behauptet, dass Diana allein »das Recht« auf ihr »geweihtes Leben« (439) habe, außerdem wolle sie sich nicht binden, weil immer noch die Aussicht bestünde, die Heimat wiederzusehen: »Vielleicht ist mir die frohe Rückkehr nah, / Und ich, auf ihren [der Götter] Weg nicht achtend, hätte / Mich wider ihren Willen hier gefesselt?« (444–446).

Der enttäuschte Thoas reagiert auf ihre Ausflüchte wie ein absolutistischer Herrscher, der sich, ob seiner Macht, vernünftigen Argumenten nicht beugen muss; er führt willkürlich die Menschenopfer (504–521) wieder ein. Vordergründig behauptet er zwar, dass die »Menge [...] das Opfer dringend fordert« (521), aber das stimmt nicht, denn von Arkas (122–143) wissen wir, dass das Volk glücklich über die Abschaffung des Rituals ist. Iphigenie durchschaut, dass der König aus verletzter Eitelkeit handelt; Thoas rechtfertigt die Einführung des althergebrachten Kultgesetzes: »Ein alt Gesetz, nicht ich, gebietet dir« (1831). Die Priesterin aber kontert und entlarvt sein von Leidenschaften motiviertes Verhalten sehr genau: »Wir fassen ein Gesetz begierig an, / Das unsrer Leidenschaft zur Waffe dient« (1832 f.).

Iphigenie befindet sich nun in einem tragischen Konflikt, wenn sie Thoas nicht heiratet, dann werden Menschen geopfert: Orest und Pylades. Das ist nicht im Sinn der Priesterin: »O enthalte vom Blut meine Hände!« (549) – fleht sie ihre Gönnerin Diana an. Sie vertraut noch auf die Macht der Götter: »Denn die Unsterblichen lieben der Menschen / Weit verbreitete gute Geschlechter, / Und sie fristen das flüchtige Leben / Gerne dem Sterblichen« (554–557). Erst später gelangt sie zu der Einsicht, dass der Mensch sein Handeln mit seiner Vernunft steuern sollte, ganz im Sinne der Philosophie Kants, der in seinem Aufsatz Was ist Aufklärung? (1783) Richtungsweisendes – auch für Goethe – formuliert: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. [...] Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Die Götter haben damit im aufgeklärten 18. Jahrhundert kaum noch Macht über die Menschen, wenn diese auf ihren Verstand bauen.

Nicht nur der souveräne Gebrauch der Vernunft deutet einen positiven Ausgang für Iphigenie an, Thoas selbst ist es, der ihr Rettung verspricht; als er sie zu überreden versucht, ihre Abstammung preiszugeben, unterbreitet er ihr ein Angebot, das sie in diesem Kontext überhaupt nicht reflektiert: »Wenn du nach Hause Rückkehr hoffen kannst, / So sprech ich dich von aller Fordrung los. / Doch ist der Weg auf ewig dir versperrt, / Und ist dein Stamm vertrieben, oder durch / Ein ungeheures Unheil ausgelöscht, / So bist du mein durch mehr als Ein Gesetz« (293–298). Iphigenie kann also berechtigt darauf hoffen, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, weil ihr »Stamm« nicht vollständig ausgelöscht wurde, schließlich ist ihr Bruder in Tauris erschienen.

Erst am Ende des Dramas erinnert sich Iphigenie der Worte Thoas’ und bittet ihn darum, sein Versprechen einzuhalten: »Du hältst mir Wort! – Wenn zu den Meinen je / Mir Rückkehr zubereitet wäre, schwurst / Du mich zu lassen« (1970–72).

Iphigenie, ein Frauenschicksal4

Iphigenie wird auf dreifache Weise von Männern fremdbestimmt: 1. Ihr Vater Agamemnon opfert sie bereitwillig, damit die griechische Flotte für den Feldzug gegen Troja auslaufen kann. 2. Thoas erpresst sie, um die Heirat zu erzwingen. 3. Orest und Pylades verlangen von ihr betrügerische Machenschaften, die ihr widerstreben, vor allem Pylades setzt die Priesterin mit seinen Forderungen massiv unter Druck; wie Thoas beruft sich Pylades auf ein voraufklärerisches Gesetz: »Du weigerst dich umsonst; die eh’rne Hand / Der Not gebietet, und ihr ernster Wink / Ist oberstes Gesetz, dem Götter selbst / Sich unterwerfen müssen« (1680–83). Iphigenie fügt sich anfangs in die traditionelle Frauenrolle: »Von Jugend auf hab ich gelernt gehorchen, / Erst meinen Eltern und dann einer Gottheit« (1825 f.). Der Gehorsam fällt ihr sogar leicht, weil sie sich dabei zunächst »frei« (1828) fühlt. Erst allmählich distanziert sie sich von dem althergebrachten Frauenbild und handelt als autonome Persönlichkeit, die ihr eigenes Schicksal bestimmt.

Der Priesterin kommt bei ihrer Entwicklung zugute, dass sie auf erotischem Terrain unangreifbar ist; zu Beginn des Schauspiels redet Arkas sie mit »O heil’ge Jungfrau« (65) an, damit ist sie für Männer unantastbar, weil sie den Status einer Heiligen besitzt. Arkas macht auch keinen Hehl daraus, dass er bei ihrem Anblick keine Leidenschaft empfindet, ganz im Gegenteil: »Solang ich dich an dieser Stätte kenne, / Ist dies der Blick, vor dem ich immer schaudre« (70 f.). Für die Macht der Erotik ist sie nicht empfänglich, ihre Weiblichkeit reduziert sich auf Schwesterlichkeit, daher fühlt sie sich auch zu Diana – der göttlichen Beschützerin der Jungfräulichkeit – hingezogen, weil auch diese in der Liebe zu ihrem Bruder Apollon ihre jungfräuliche und ewige Erfüllung findet: »Du liebst, Diane, deinen holden Bruder / Vor allem, was dir Erd und Himmel bietet, / Und wendest dein jungfräulich Angesicht / Nach seinem ew’gen Lichte sehnend still« (1321–24). Deshalb kommt für Iphigenie eine Heirat nicht in Frage, sie möchte sich ihre spröde Jungfräulichkeit als Schutzwall gegen die dominante Männerwelt bewahren. Thoas schätzt sie vollkommen falsch ein, als er ihr empfiehlt: »Sei ganz ein Weib und gib / Dich hin dem Triebe, der dich zügellos / Ergreift und dahin oder dorthin reißt« (465–467). Nicht die vernunftgeleitete Iphigenie gibt dem Trieb nach, sondern Thoas.

Die Priesterin setzt im Unterschied zu ihren Vorfahren bewusst auf die Vernunft und auf ihr natürliches Rechtsempfinden, das in dem Vers zum Ausdruck kommt: »Ich untersuche nicht, ich fühle nur« (1650). Deswegen wirft sie Thoas vor, er lege keinen Wert auf »Rat, Mäßigung und Weisheit und Geduld« (332). Aus dieser Missachtung entsteht, wie man an ihrer verfluchten Familie sehen kann, nichts Gutes: »Und viel unseliges Geschick der Männer, / Viel Taten des verworrnen Sinnes deckt / Die Nacht mit schweren Fittigen und lässt / Uns nur in grauenvolle Dämmrung sehn« (393–396). So möchte Iphigenie nicht enden.

Aber noch hat sie sich nicht endgültig zu einer moralisch legitimierten Wahrheit durchgerungen; nach der unerwarteten Ankunft ihres Bruders erkennt Iphigenie, dass sie, Orest und Pylades akut bedroht sind: schließlich soll sie ihren Bruder und seinen Freund opfern. Der listige Pylades verspricht Rettung, eine, die auf Betrug basiert. Für ihn gibt es nur zwei Handlungsmöglichkeiten: 1. Lüge und Freiheit – 2. Wahrheit und Opferung (Tod). Die dritte Alternative, für die sich später Iphigenie entscheiden wird – Wahrheit und Freiheit – entzieht sich seinem Vorstellungsvermögen.

Der von ihm geplante »Anschlag« (1395) kann nur gelingen, wenn die Priesterin das Opfer hinauszögert, um Zeit zu gewinnen, damit Orest und Pylades die Flucht vorbereiten können. Iphigenie erkennt, dass sie sich auf diesem unbekannten Gebiet, der Lüge, »wie ein Kind« (1402) leiten lassen muss, von einer autonomen Frau kann hier nicht mehr die Rede sein, weil sie sich zunächst dem Männerwunsch beugt, aber mit grundsätzlichen Vorbehalten: »Ich habe nicht gelernt zu hinterhalten, / Noch jemand etwas abzulisten. Weh! / O weh der Lüge!« (1403–05). Sie weiß, dass die Lüge später wieder in der Form des Tantalidenfluchs auf sie zurückfiele. Pylades ahnt, dass sie sich in einem Gewissenskonflikt befindet, daher versucht er, die Lüge mit den Göttern und dem »ew’gen Schicksal« (1684) zu rechtfertigen, denen sich Iphigenie bisher unterworfen hatte.

Jetzt aber erwacht ihr Zweifel an der Sittlichkeit der Götterwelt, am Ende des vierten Aufzugs erinnert sie sich an das »Lied der Parzen« (1726–1766), in dem das vorolympische, grausame Göttergeschlecht im Mittelpunkt steht, und gelangt zu der Erkenntnis, dass die Götter ihre Macht gebrauchen, »wie’s ihnen gefällt« (1731). Das heißt aber nicht, dass sie grundsätzlich an den Göttern zweifelt, schließlich hat Diana, die humane Göttin, sie vor dem Opfertod gerettet; diese Göttergeneration fleht die Priesterin vielmehr um Hilfe an: »Rettet mich, / Und rettet euer Bild in meiner Seele!« (1716 f.).

Ihr Götterbild beruht auf einer durchweg humanen Grundlage, der Mensch muss wie ein Gott handeln, muss sich Götter als Vorbild nehmen, nichts anders behauptet Goethe in seinem Gedicht Das Göttliche (1783): »Edel sei der Mensch, / Hilfreich und gut! [...] / Heil den unbekannten Wesen, / Die wir ahnen! / Ihnen gleiche der Mensch!« Iphigenie kann diese Forderung nur erfüllen, wenn sie wahrhaft handelt, sobald sie aber versucht, Pylades’ unmoralischen Plan zu unterstützen, wäre sie dem Fluch der Tantaliden ausgeliefert. Der Fluch kann aber, und das ist ein Gedanke der Aufklärung und der Klassik, durch Humanität überwunden werden. Goethes Widmungsverse vom 31. März 1827 an den Orest-Schauspieler Krüger fordern genau dies ein: »Alle menschliche Gebrechen / Sühnet reine Menschlichkeit.«

Iphigenie überträgt ihre Götterkritik, die sie mit dem Parzenlied vorgestellt hat, auch auf Thoas (1812–20). Konsequenterweise fordert die Priesterin von der weltlichen Macht ebenfalls humanes Handeln ein; der Mensch soll seiner eigenen »Stimme / Der Wahrheit und der Menschlichkeit« (1937 f.) folgen. Diese »Stimme« vernimmt jedes Individuum, wie Iphigenie betont: »Es hört sie jeder, / Geboren unter jedem Himmel, dem / Des Lebens Quelle durch den Busen rein / Und ungehindert fließt« (1939–42). Wenn die Menschen diese humane »Stimme« beherzigen, dann können sie als autonome Subjekte Frieden untereinander stiften. Hier kommt der Wahrheit als moralischer Sinnstifterin eine entscheidende Bedeutung zu, nur wer wahrhaft miteinander umgeht, kann zu einem glaubwürdigen Konsens mit seinen Mitmenschen gelangen.

Goethe hebt diese Bedeutung der Wahrheit an einer zentralen Stelle des Schauspiels hervor: Im ersten Gespräch mit Orest sagt dieser zu Iphigenie »zwischen uns / Sei Wahrheit!« (1080 f.). Dieser Halbvers steht in der Mittelachse des Dramas, obendrein wird durch ihn der flüssige Blankvers unterbrochen; damit wird sein außerordentlicher Stellenwert hervorgehoben.

Noch aber hat sich Iphigenie nicht bis zu der Wahrheit durchgerungen, noch unterstützt sie mit zunehmenden Zweifeln den Betrugsversuch. Sie muss nun handeln, auch weil sie der »Frauen« passiven »Zustand« (24) überwinden möchte. Sie wirft dem erzürnten Thoas Grausamkeit vor: »Er sinnt den Tod in einer schweren Wolke, / Und seine Boten bringen flammendes / Verderben auf des Armen Haupt hinab« (1816–18). Sie vergleicht ihn also mit den grausamen Göttern des Parzenliedes; spöttisch antwortet der König: »Die heil’ge Lippe tönt ein wildes Lied« (1821). In der folgenden Auseinandersetzung besteht sie kategorisch auf Gewaltverzicht: »Lass ab! beschönige nicht die Gewalt, / Die sich der Schwachheit eines Weibes freut« (1856 f.). Nun tritt die Priesterin als autonom handelnde Frau auf, selbstbewusst kann sie sagen: »Ich bin so frei geboren als ein Mann« (1858). Sie fordert Gleichberechtigung ein. Auch wenn sie sich nicht wie die Männer im Kampf auf dem Schlachtfeld ehrenhaft auszeichnen kann, so besitzt sie eine andere zu achtende Eigenschaft: »Ich habe nichts als Worte, und es ziemt / Dem edlen Mann, der Frauen Wort zu achten« (1863 f.). Ausdrücklich betont Iphigenie, dass sie keine wortgewandte »List« (1870) benötigt, wie Pylades etwa, denn »eine reine Seele braucht sie nicht« (1874).

Auf ihre Forderung, »der Frauen Wort zu achten«, geht Thoas auch ein – nachdem Iphigenie Thoas den Betrug offenbart hat. Ihr fällt diese Entscheidung nicht leicht: »Auf und ab / Steigt in der Brust ein kühnes Unternehmen« (1912 f.). Das Geständnis liefert zwar sie, Orest und Pylades der Todesgefahr aus, trotzdem entgegnet sie dem Herrscher selbstbewusst: »Verdirb uns – wenn du darfst« (1936). Und dann besteht Iphigenie auf Einlösung seines Versprechens: »Du hältst mir Wort! – Wenn zu den Meinen je / Mir Rückkehr zubereitet wäre, schwurst / Du mich zu lassen« (1970–72). Thoas, der alles andere als ein Barbar ist, vernimmt gleichfalls die »Stimme« der Wahrheit, ironisch bemerkt er: »Du glaubst, es höre / Der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme / Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus, / Der Grieche, nicht vernahm?« (1936–39).

Erst als das Missverständnis des Orakelspruchs (2107–17) aufgeklärt ist, nachdem sich dieser nicht auf das Kultbild Dianas, sondern auf Iphigenie selbst bezieht – »Bringst du die Schwester, die an Tauris’ Ufer / Im Heiligtume wider Willen bleibt / Nach Griechenland; so löset sich der Fluch« (2113–15) –, willigt der König in die Befreiung der drei Griechen ein, auch wenn es ihm schwer fällt: »So geht!« (2151). Sein abschließendes »Lebt wohl!« (2174) beweist, dass er sich in Frieden von Iphigenie trennt; das »wohl« verstand man im 18. Jahrhundert nicht im heutigen Sinn, vielmehr ist es als Abschiedssegen zu verstehen.

Orests Heilung

Die Befreiung Orests von den Furien und dem Tantalidenfluch vollzieht sich im dritten Aufzug. Nachdem er seine Mutter umgebracht hat, wird er von den Erinnyen verfolgt, er flüchtet nach Tauris; dort besitzt er nur einen Wunsch, er möchte sterben: »Es ist der Weg des Todes, den wir treten: / Mit jedem Schritt wird meine Seele stiller« (561 f.). Er unternimmt keinen aktiven Versuch, den Fluch zu überwinden, dafür ist er zu autoritätsgläubig, er ordnet sich der Götterwelt und dem Orakel unter, weil beide laut Tradition sein Schicksal bestimmen. Daher versteht sich Orest nicht wie seine Schwester als aufgeklärtes Individuum; die Geschlechterrollen sind nun ausgetauscht, der Mann ist zur Passivität verurteilt und die Frau, Iphigenie, zur aufgeklärten Tat, die sich an der Wahrheit orientiert.

Auch der Muttermord wurde Orest auferlegt, als einziger männlicher Nachfolger Agamemnons ist er dazu bestimmt, seinen Vater zu rächen. Die Tat widerstrebte ihm: »So haben mich die Götter ausersehn / Zum Boten einer Tat, die ich so gern / Ins klanglos-dumpfe Höhlenreich der Nacht / Verbergen möchte« (1003–05).

Nachdem Orest Iphigenie ausführlich den Muttermord (1015–38) geschildert hat, weiß die Priesterin intuitiv, dass er nicht dem Untergang geweiht ist: »Du wirst nicht untergehn!« (1180). Doch Orest, der sich immer weiter in seine Wahn- und Schuldvorstellungen hineinsteigert, ist bereit, den Opfertod zu sterben, er akzeptiert sein, wie er glaubt, unabwendbares Schicksal: »Der Brudermord ist hergebrachte Sitte / Des alten Stammes; und ich danke, Götter, / Dass ihr mich ohne Kinder auszurotten / Beschlossen habt« (1229–1232). Falls ihn Iphigenie opfern sollte, so sein Kalkül, geht mit diesem Geschwistermord sein verfluchtes Geschlecht mit ihm zu Ende, da er keine Nachkommen gezeugt hat. Er bittet sie schließlich, ihn mit ihrem »Stahl« (1252) zu töten.

Damit ist der Höhepunkt und gleichzeitig das Ende des Tantalidenfluchs erreicht: Orest fällt, weil sein Ichbewusstsein den Leidensdruck nicht mehr aushält, in einen Heilschlaf (1258–1309), in dem ihm die Unterwelt als Vision erscheint. Dort erlebt er die Vorwegnahme der Sühne, die sich später auch in der Realität ereignet; als Fluchbeladener steigt Orest hinab und wird erlöst: »Wir sind hier alle der Feindschaft los« (1288). Auch der Muttermord wird ihm vergeben: »So darf Orest auch zu ihr treten / [...] Seht euern Sohn! Heißt ihn willkommen« (1293–95).

Iphigenie, die ihren Bruder nicht nur mit ihrer teilnehmenden Bruderliebe (1190–1201) und ihrem Streben nach Wahrheit retten kann, entfernt sich, um Pylades um Hilfe zu bitten, als beide eintreffen, ist Orest zwar erwacht, aber er fantasiert, dass er noch in der Unterwelt sei; seine Schwester fleht Diana an, zu helfen: »So lös ihn von den Banden jenes Fluchs« (1330). Die Göttin erfüllt ihren Wunsch; Orest weiß nun, dass er vom Fluch befreit ist: »Es löset sich der Fluch, mir sagt’s das Herz« (1358).