Iphigenie auf Tauris gilt seitdem als einer der zentralen Texte der deutschen Klassik, die sich im engeren Sinne über den Zeitraum von 1786 bis zu Schillers Tod 1805 erstreckt.

Unter Klassik versteht man den Höhepunkt, die Blütezeit einer Nationalliteratur. Die literarische Produktion und der Gedankenaustausch beschränkten sich damals vor allem auf die kleine Residenz- und Musenstadt Weimar, weshalb man auch von der Weimarer Klassik spricht. Aufgrund der Bedeutung, die von dieser kleinen Provinzstadt und ihren Dichtern ausging, erscheint der Ausdruck gerechtfertigt; die philosophischen und literarischen Neuerungen der Weimarer Klassik erweisen sich bis in die Gegenwart hinein als wirkungsmächtig.

In Deutschland ist die Klassik vor allem die Literaturepoche Goethes und Schillers; Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland, die beide auch in Weimar lebten und arbeiteten, spielten gegenüber den beiden Freunden lediglich eine Vorreiter- und Nebenrolle. Auch grenzten sich die Klassiker gegen andere literarische Strömungen ab, ja bekämpften sie sogar, wie etwa Jean Paul, Heinrich von Kleist und die Jenaer Dichter der Frühromantik.

Die Klassik orientiert sich an den ästhetischen Vorbildern der Antike. Johann Heinrich Winckelmann, bedeutender Kunsthistoriker, legte mit seinem Werk Gedanken Über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755) ein wichtiges Fundament für die Klassik. Eine seiner Thesen lautet: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.« Winckelmanns Charakterisierung der griechischen Plastik, die »edle Einfalt« und »stille Größe« ausstrahle, übertrugen Goethe und seine Zeitgenossen ohne Bedenken auf den griechischen Menschen, er galt den Klassikern von nun an als Vorbild für die zeitgenössische Kunst. Deren Aufgabe lautet nun, in Anlehnung an antike Vorbilder: Streben nach Vollkommenheit, Humanität, Harmonie von Natur und Kunst, von Sinnlichkeit und Vernunft.

Die mit den Umwälzungen der Französischen Revolution aufgetretene Identitätskrise des deutschen Bürgertums konnte mit dem antiken Rüstzeug geistig bewältigt werden. Eine politische Revolution in Deutschland war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, und die Kunst bot sich als Medium zur Überwindung der Krise an. Die Klassiker glaubten daran, dass der Vorbildcharakter der Antike der geistigen Entwurzelung des Menschen entgegenwirken könnte.

Schon Wieland, der bereits 1772 nach Weimar kam, siedelt einen Teil seiner Werke, wie etwa den Roman Geschichte des Agathon (1766/67) und das Singspiel Alceste (1773), im antiken Griechenland an. Die Bedeutung des Agathons, der im antiken Gewand daherkommt, erkennt Gotthold Ephraim Lessing, der mit seinen Überlegungen über Toleranz und Humanität ein Wegbereiter der Klassik war: »Es ist der erste und einzige Roman für den denkenden Kopf von klassischem Geschmack.«

Auch Herder beeinflusste, unter anderem mit seinem Werk Auch eine Philosophie zur Geschichte der Bildung der Menschheit (1774), die Weimarer Klassik maßgeblich; er sah die »Wiege der Humanität« im antiken Griechenland.

Es bleibt jedoch Goethes Iphigenie auf Tauris vorbehalten, als Höhepunkt der Klassik bezeichnet zu werden. Mit diesem Schauspiel beweist Goethe die Eigenständigkeit und Souveränität der deutschen Klassik gegenüber der Alltagsrealität, indem er antike Vorbilder und Formen auf eine ideale und moderne Humanität ausrichtet, die sich auch als ästhetisches Gebilde genügt.

Auch Schillers Weimarer Bühnenwerke besitzen einen hohen klassischen Rang. Seinen Don Carlos (1787) indessen betrachtet Schiller rückblickend wegen seines leidenschaftlichen Pathos kritisch; am 21. März 1796 berichtet er Wilhelm von Humboldt von seiner neuen Dramenauffassung: »Vordem habe ich, wie im Posa und Carlos, die fehlende Wahrheit durch schöne Idealität zu ersetzen gesucht; hier im Wallenstein will ich es probieren und durch die bloße Wahrheit für die fehlende Idealität [...] entschädigen.« In der Wallenstein-Trilogie (1798/99) erfüllt er ebenso wie in Maria Stuart (1800) und in der Jungfrau von Orleans (1801) die klassischen Regeln.

Im Unterschied zu Goethe setzte sich Schiller nach dem Studium der Philosophie Kants auch mit den philosophischen Grundlagen der Klassik auseinander, etwa in seinen Schriften Über Anmuth und Würde (1793) und Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). Dort diskutiert er die bedeutende Funktion des Schönen für den Menschen und für die Gesellschaft, nur über sie ist der Weg zur Freiheit möglich, und zwar in Distanz zu den Unruhen der nachrevolutionären Zeit. Die realpolitischen Verhältnisse nach der Französischen Revolution kann die Kunst nicht verbessern, doch sie kann den Lesern etwas Bleibendes und Überzeitliches anbieten: »Aber je mehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüter in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen.«5

Damit definiert Schiller Kunst als autonomes System, das sich von der Alltagswelt, auch der politischen, distanzieren soll; stattdessen soll sie sich den Kategorien der Schönheit und Wahrheit verpflichten. Kunst darf nicht als politisches Instrument missbraucht werden. Es sind dann die Literaten des Jungen Deutschlands, etwa Ludwig Börne und Heinrich Heine, die im strengen Gegensatz zu den Klassikern Kunst als politisches Instrument benutzen, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern.

Schiller und Goethe, die seit 1794 befreundet waren, lehnten beide die Französische Revolution und deren Befürworter ab. Die beiden Dichter wehrten sich nicht selten scharfzüngig gegen ihre Kritiker. Sie gaben gemeinsam die Zeitschrift Horen heraus, die für ein paar Jahre das literarische Leben in Deutschland maßgeblich bestimmte. Dort veröffentlichten Autoren wie Wilhelm von Humboldt, August Wilhelm Schlegel und Herder Beiträge, die sich dem »Ideal der veredelten Menschheit« verschrieben hatten. Dieses »Ideal« war von Goethe schon ein paar Jahre zuvor in der Iphigenie auf Tauris vorbildhaft umgesetzt worden und Schiller lieferte mit seinen ästhetischen Schriften die philosophische Grundlage dazu.

In ihrem gemeinsam verfassten Almanach rechneten Goethe und Schiller in über sechshundert Epigrammen mit ihren Gegnern ab, ebenso in den Xenien, mit denen sie ein Manifest gegen »Schwärmer« und »Heuchler« aus der Taufe hoben, das ihnen schließlich viel Kritik einbrachte.

Beide Dichter legten auch Wert darauf, dass ihre Ideen von weiteren Bevölkerungskreisen verstanden werden sollten; daher entschieden sie sich, obwohl sie sonst antike Gattungen favorisierten, für die Ballade. Es entstanden die berühmten Balladen Die Kraniche des Ibykus, Der Ring des Polykrates, Die Bürgschaft von Schiller und Die Braut von Korinth, Der Zauberlehrling, Der Gott und die Bajadere von Goethe. Ihr klassisches Selbstverständnis artikulierten Goethe und Schiller auch in ihren berühmten Weltanschauungsgedichten: Grenzen der Menschheit, Die Götter Griechenlands, Das Ideal und das Leben, Das Lied von der Glocke. Diesen Gedichten ist gemeinsam, dass die Personen und Aktionen einer Idee untergeordnet sind, die eine sittliche Lehre vermittelt.

Goethes Alterswerk

Am 18. Juni 1788 kehrt ein völlig gewandelter Goethe nach Weimar zurück. Er geht eine Liebschaft mit Christiane Vulpius ein, einer einfachen Fabrikarbeiterin, die nie ein Buch von ihm las. Beide heiraten 1806. 1789 wird ihr Sohn August geboren, vier weitere Kinder sterben früh.

1808 erscheint Goethes Tragödie Faust I, nicht zuletzt deshalb, weil Schiller ihn immer wieder bis zu seinem Tod 1805 zur Arbeit drängt. Ebenso drängt er ihn, die Arbeit am Roman Wilhelm Meister voranzutreiben. Auch von diesem Werk gibt es drei verschiedene Versionen. 1821 erscheint die letzte, ihr Titel lautet Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. In der ersten und zweiten Fassung des Romans will Wilhelm Schauspieler werden, doch dieses Vorhaben scheitert, er wird Arzt. In der letzten Fassung wendet sich der alte Goethe noch mächtiger gegen den Geniekult: Nicht der Einzelne ist in den Wanderjahren wichtig, sondern die Gemeinschaft. Wilhelm wird folglich ein nützliches Mitglied der Gesellschaft, er arbeitet als Wundarzt. Den vollendeten Gegensatz zum Werther erreicht der alte Goethe schließlich in seiner Novelle (1828). Mit ihr entwirft er ein durchaus klassisches Gegenbild zu seiner Sturm-und-Drang-Zeit, wie es nicht radikaler sein kann; auch in diesem Text werden, wie in der Iphigenie auf Tauris, Probleme ohne den Einsatz von Gewalt gelöst.

Goethe stirbt am 22. März 1832, 82 Jahre alt, in Weimar.

Werktabelle

1768/69  Die Mitschuldigen. Lustspiel.

1771  Zum Schäkespears Tag. Rede. Sesenheimer Lieder.

1772  Von deutscher Baukunst. Aufsatz.

1773  Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Schauspiel.

1774  Clavigo. Trauerspiel. Die Leiden des jungen Werthers [Erstfassung].

1776  Die Geschwister. Schauspiel. Stella. Schauspiel für Liebende.

1777  Harzreise im Winter. Hymne.

1777–85  Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Romanfragment.

1779  Iphigenie auf Tauris. Schauspiel [Prosafassung].

1787  Die Leiden des jungen Werther [Zweitfassung]. Iphigenie auf Tauris [Versfassung].

1788  Egmont. Trauerspiel.

1790  Torquato Tasso. Schauspiel. Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären. Aufsatz.

1792  Der Groß-Cophta. Lustspiel.

1794  Reineke Fuchs. Epos.

1795  Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Novellendichtung. Römische Elegien. Gedichtzyklus. Märchen. Venetianische Epigramme.

1795/96  Wilhelm Meisters Lehrjahre. Roman.

1796  Xenien. Epigramm-Sammlung [zusammen mit Friedrich Schiller verfasst].

1797  Hermann und Dorothea. Epos.

1799  Die Metamorphose der Pflanzen. Elegie.

1803  Die natürliche Tochter. Trauerspiel.

1808  Faust. Tragödie. Erster Teil.

1809  Die Wahlverwandtschaften. Roman.

1810  Zur Farbenlehre. Naturwissenschaftliche Abhandlung.

1811 ff.  Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Autobiografisches Werk.

1816 ff.  Italienische Reise. Autobiografisches Werk.

1819  West-östlicher Divan. Gedichtzyklus.

1820  Zahme Xenien.

1821/29  Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. Roman.

1822  Die Belagerung von Maynz. Autobiografische Schrift. Campagne in Frankreich 1792. Autobiografische Schrift.

1823  Marienbader Elegie.

1828  Novelle.

1831  Faust. Tragödie. Zweiter Teil.