Er stößt die Luke auf, das Deck ist feucht und rutschig, der Holzmast wirkt wie frisch lackiert. Die ersten Sonnenstrahlen lösen den dünnen Schleier auf, der sich in der Nacht über Stadt und Hafen gelegt hat. Die goldene Fassade des Hotels, das am Corso in den Himmel ragt, glänzt grell in der Morgensonne auf. Gabriel weiß nicht, wann er zum letzten Mal im Majestic übernachtet hat, er braucht den festen Boden unter den Füßen nicht, es genügt ihm, die glänzende Fassade des Hotels, das er in zweiter Generation führt, vom Boot aus im Blick zu behalten. Der Geruch des Hafenwassers verbindet sich auf angenehme Weise mit der Erinnerung an den Bourbon, den er am Abend getrunken hat. Das südliche Meer riecht anders als die anderen Meere, die er befahren hat – salzig, faulig und vertraut wie Julu, die Fischsauce, die in Nam Van auf keinem Esstisch fehlen darf.
Benedita will mit der Familienwohnung auf der sechzehnten Etage nichts zu tun haben, sie will sie nicht einmal betreten. Er solle sie umwandeln, hat sie am Telefon gesagt, er solle sich etwas einfallen lassen. Sie ist nach dem Recht von Nam Van nicht einmal volljährig, aber in ihrer Stimme lag die natürliche Autorität einer älteren Person, es klang, als würde ihr das Hotel bereits gehören. Im Hintergrund schleuderte eine Waschmaschine, und Gabriel begriff, dass sie das Hotel und alles, was damit zu tun hat, ihre ganze komplizierte Kindheit und Jugend, die mit dem Hotel und seinem Personal verbunden ist, mit Freuden hinter sich gelassen hat. Sie hat das hübsche, vierstöckige Wohnhaus der Hundertjährigen geerbt. Sie ist in Geest, einer kühleren, aufgeräumteren Hafenstadt am anderen Ende der Welt, angekommen und hat die vierte Etage bezogen. Sie klingt glücklich in dieser Welt, die einst Jannes Welt gewesen ist, die Welt ihrer Urgroßmutter. Sie hat sich eingerichtet, sie kocht in ihrer eigenen Küche und wäscht zum ersten Mal im Leben ihre eigene Wäsche, und das scheint die Existenz zu sein, nach der sie sich immer gesehnt hat.
Tatsächlich könnte das Hotel, das eines Tages ihr gehören wird, die Fläche gut gebrauchen. An der Stelle der Wohnung, die sich vom sechzehnten bis zum achtzehnten Stock erstreckt, könnte man zwei, vielleicht drei luxuriöse Suiten einbauen, mit großzügigen Räumen und Panoramafenstern. Die Gäste wollen riesige Bäder in Holz und gedeckten Farben, damit sie in plätschernden Badewannen sitzen und den Blick über Stadt und Hafen genießen können. Sie wollen bei schummrigem Licht im lauen Schaumwasser sitzen und auf das raue Meer hinausschauen, das ihnen fremd und unheimlich ist. Sie wollen das Raubtier betrachten, das fauchend hinter Gitterstäben steht.
Drei Jahre ist es her, seit er Benedita zuletzt gesehen hat. Sie hat ihre Koffer gepackt und ist gegangen. Achtzehn Jahre alt. Wenn er daran denkt, was er mit achtzehn gemacht hat, kann er sie nur bewundern, ihren Mut und ihren Eigensinn. Als er damals zur Festung Gaolung fuhr, um es seinem Bruder zu erzählen, antwortete Tovo mit einem schwachen Nicken, das alles bedeuten konnte. Er war müde, sein Gesicht war grau und eingefallen. Er hielt sich mit beiden Händen an seinem Stahlschemel fest, sah ihn von unten herauf an und sagte kraftlos: »Benedita? Das hat sie gemacht?« Mehr brachte er nicht heraus.
Es ist ihr Leben. Tovo, ihr Vater, hat damit nichts mehr zu tun. Nur Gabriel hat noch Zugang zu ihr, er kann sie einladen und ermutigen, er kann ihr Angebote machen, vielleicht auch das Angebot, eines Tages nach Nam Van zurückzukehren. Er hat ihr verziehen, dass sie zu seinem Fünfzigsten nicht erschienen ist. Es war ein rauschendes Fest. Er hat Verständnis dafür, dass sie sich entfernt, dass sie in Geest ihr eigenes Leben führt. Aber eines Tages wird sie doch zurückkehren und Verantwortung übernehmen für das Haus, für die Familie, für die Stadt.
Er läuft über den Steg, schließt das Tor ab, lässt die Kette klirrend fallen und geht die wenigen Schritte hinauf zur Bar. Sein Frühstück steht bereit. Er stößt sich an der Sammeldose einer Rettungsgesellschaft, die über der Theke hängt. Er trinkt seinen Kaffee, blättert in der Zeitung, überfliegt die Liste der Schiffsankünfte. Stammkunden nicken ihm zu. Der Barista schiebt das Zigarettenpäckchen über die Theke. Er zahlt, steckt Zeitung und Zigaretten ein und geht.
Fünf Minuten bis zum Rathaus, es ist kaum Verkehr, ein paar Touristen tummeln sich am Alten Hafen. Er bleibt stehen, raucht, sieht hinaus aufs Wasser. Die Segel sind schlaff, die Chuáns stehen, als würden sie träumen, ein grüner, tief liegender Schüttgutfrachter steuert auf den Kai zu, Kräne recken sich nach ihm. Weiter draußen die Megaboxer. Er wirft eine Münze in das Fernrohr und beugt sich tief hinab. Es sind zwölf Schiffe, eine Emma ist darunter, mit erhöhtem Deckshaus. Hochwasser, die Fähre aus Laguna taucht aus dem Dunst auf. Er wird auch heute nicht länger als drei Stunden im Büro bleiben, denkt er. Er hat alles erreicht, was er erreichen wollte. Es klackt, die Blende des Fernrohrs schließt sich. Schwarz.
Die eigentliche Arbeit macht seine Büroleiterin. Eine Zeitlang war er ehrgeizig und in der Verfolgung seiner Ziele sogar aggressiv, manchmal ging er bis an seine Grenzen. Aber jetzt ist der Containerhafen fertig, die Privaten haben übernommen. Es läuft, es läuft wie geschmiert. Wenn Tovo nicht seinen Schatten über die Familie geworfen hätte, hätte er Ratspräsident werden können, Bürgermeister. Er hatte den Namen, natürlich, er hatte die Verbindungen, er war jung. Vielleicht wäre Julia bei ihm geblieben, vielleicht hätten sie sogar geheiratet. Immerhin haben sie es dreieinhalb Monate auf einer Zweiunddreißigfußjacht miteinander ausgehalten. Nur Julia und er, die Kajüte, das Cockpit. Immer dieselben Wege. Anderthalb Meter nach rechts, vier Meter nach vorn. Am Treppchen trafen sie sich. Sie küsste ihn. Spontan, überraschend. Er nahm ihr die Fußkettchen ab, damit sie nicht an irgendeiner Klampe hängen blieb, das war der Augenblick, an dem er sich in sie verliebt hat. Später klappte er die Sitzbank auf, nahm den Eimer heraus und spülte ihr Erbrochenes von Deck.
Gabriel geht weiter, langsam, er hat Zeit. Das Rathaus ist wunderbar in seiner Hässlichkeit. Beton, umlaufende Balkone, orangefarbene Akzente. Auf dem Dach die überdimensionierten Antennen, die signalisieren: Wir lauschen den ganzen Tag, kein Funkspruch entgeht uns, kein Schiff streift unbemerkt unsere Gewässer. Er geht über die Rampe hinauf, die Türen öffnen sich mit einem leisen Zischen. Teppichboden dämpft die Schritte, die Rezeptionistin grüßt. Gabriel ist zufrieden mit dem, was er erreicht hat. Er ist zumindest nicht unzufrieden. Er wird auch heute wieder die Stadt und ihre Wirtschaft fördern. Die Restaurants liegen ihm am Herzen, die Handelsfirmen und Kontore. Sein Stab ist klein, aber unbestechlich, das Budget beträchtlich. Er hilft, wo er kann, er greift hier und dort ein, und es bleibt trotzdem noch genug Zeit, die Hand über das Majestic zu halten.