4 · Dita

Sie verlässt die Wohnung, in der der Geist der Hundertjährigen weht. Das Treppenhaus ist frisch geputzt. Sie fährt über breite, gesicherte Wege zur Uni. Die Kette ihres Fahrrads ist geölt, die Züge sind straff, die Reifen haben genau den richtigen Druck. Sie betritt die Bibliothek, gibt Rucksack und Jacke ab und setzt sich an den reservierten Platz. Sie liest und notiert, die Luft ist trocken. In Geest, anders als in Nam Van, wirft das Papier keine Wellen. Ihre Kleidung ist auf die trockene Kälte abgestimmt. Baumwolle und Wolle in dünnen Lagen, im Rucksack steckt sauber eingerollt eine leichte Regenjacke, die sie nur selten braucht. Zweimal im Monat fährt sie in die Klinik. Sie zieht sich um, steigt in den Hades ab und streift sich die blauen Latexhandschuhe über. Und wenn sie dann den ersten Schnitt setzt an dem Objekt, das ihr zugeteilt wurde, ist sie von Dankbarkeit erfüllt. Das bauchige Skalpell, mit dem sie die Haut auftrennt, liegt in ihrer Hand, als wäre es ein Teil von ihr. Es sinkt ein, beinahe ohne eine Spur zu hinterlassen. Dann weiß sie: Ich bin für diese Arbeit geboren. Ich werde eines Tages bis in den limbischen Lappen dieser Welt vordringen, bis in die schillernden Schichten des Bewusstseins, wo, davon geht sie aus, fest vertäut ein dreistöckiges, mit bunten Lichtgirlanden geschmücktes Restaurantschiff liegt.

Am Abend kehrt sie zurück, setzt Wasser auf, faltet Decken und Pullover und wartet auf Tobias.

Das Telefon klingelt, ein rasselndes Geräusch, dem sich, wenn der Anruf aus Nam Van kommt, ein leises, elektrisches Sprudeln zugesellt.

»Gabriel!«

»Wir überführen die Jasmin«, sagt ihr Onkel. »An deinem Geburtstag. Nur du und ich. Was hältst du davon?«

»Ich …«

»Bitte, sag nicht sofort nein. Überleg es dir.«

»Ich hab hier Freunde, weißt du.«

»Ich würde dich wirklich gern sehen. Wir setzen einen Schlussstrich, beginnen vielleicht sogar etwas Neues.«

»Ich weiß nicht.«

Zu Gabriels fünfzigstem Geburtstag ist sie nicht angereist, sie weiß, wie enttäuscht er damals war. Sie sträubt sich, sie will sich nicht aus ihrem Alltag herausreißen lassen. Am liebsten würde sie die Routine zwischen Wohnung, Bibliothek und Klinik ewig fortführen. Ihr Leben ist ein Dreieckskurs, vorhersehbar und sicher, es gibt keine Überraschungen, alles hat seine Ordnung. Es gibt keinen Grund, sich in das klebrige Chaos zu stürzen, das ihre Heimatstadt ist. Trotzdem sagt sie zu, sie kann ihn nicht noch einmal enttäuschen. Er verspricht, sich um alles zu kümmern. Er bucht den Flug, blockt die Suite, schickt Ricardo zum Flughafen.