6 · Dita

Beneditas Nerven surren bis in die Fingerspitzen, sie surren seit dem Morgen, als sie verschwitzt und müde aus der Maschine stieg. Die Luft stand, die Hitze schlug ihr ins Gesicht. Sie wartete mit den anderen Reisenden, das Dröhnen der Triebwerke, die längst ausgeschaltet waren, klang in ihr nach. Sie stand auf dem Rollfeld, gebadet in diesen Lärm, und dachte: Jetzt müsste es kommen, das warme, euphorische Gefühl, von dem zu allen Zeiten die Heimkehrer berichten. Aber es stellte sich nicht ein.

Die Schiebetüren öffneten sich, sie entdeckte Ricardo und lief ihm entgegen.

»Du bist so erwachsen geworden, Benedita Chou da Luz, so ernsthaft und hübsch«, sagte Ricardo, der schon ihren Großvater gefahren hatte. Sie stellte den Koffer ab. Sie nahm seine langen, gepflegten Hände, betrachtete sein schmales, faltiges Gesicht und küsste ihn auf die Wange.

»Wo ist Gabriel?«, fragte sie.

»Er erwartet dich im Hotel.«

Ricardo nahm ihr Gepäck. Sie fuhren über die Drachenbrücke in die Stadt, hinter den Stahlseilen flackerte das Meer, das Majestic glänzte in der Sonne. Ricardo fuhr langsam, er sah nach vorn und schwelgte in Erinnerungen. Benedita, die neben ihm saß, war noch immer das kleine blonde Mädchen, das über die Hotelflure rannte, das im Pool die ersten unbeholfenen Schwimmzüge machte. Wie sie lachend und prustend die Bälle vor sich herschob, die ihr immer wieder entwischten.

»Weißt du, Ricardo, du warst irgendwie immer dabei«, sagte Benedita und sah ihn von der Seite an. »Du hast mich immer beschützt.«

»Weil ich so alt bin, Benedita. Ich war immer dabei, weil ich so alt bin.«

»Du warst wie ein Vater für mich.«

Ricardo schwieg.

»Hast du ihn gesehen?«, fragte Benedita.

»Deinen Vater?«

»Ja.«

»Nein, nicht seit damals. Gabriel ist der Einzige, der ihn besucht.«

Selbst als sie in die Lobby des Majestic trat, wo Gabriel bereits wartete, spürte sie nichts von dem wohligen Gefühl, das nach den alten Erzählungen die Heimkehrer erfasst. Das Hotel, die Räume, die Treppe, die vom Mezzanin hinunterführt, berührten sie nicht. Sie spürte nur das Surren der Nerven, das aus der Tiefe des Körpers bis in ihre Fingerspitzen drang, sie spürte ihr Herz und das warme Blut in ihren Adern.

»Komm her«, sagte Gabriel und breitete die Arme aus wie Schwingen. Sie hatte vergessen, wie riesig er war, ein Hüne.

»Gabriel …«

»Mein Gott, wie ich dich vermisst habe.« Er drückte sie an seine Brust.

Wie kommt er zurecht auf seiner Jacht, dachte sie, wie zwängt er sich durch Luken und Aufgänge? Wie kann er leben in dieser Stadt, in diesem Gewirr aus Gassen und engen Durchgängen, an denen er sich vermutlich hundertmal am Tag die Schultern wundschlägt? Er ist Gulliver, den es an den Strand von Liliput verschlagen hat. Was ist das für eine Welt, in der er lebt? Was ist das für eine Stadt, der sie entkommen ist? Auf der Fahrt hat sie gesehen, dass die Säger Nam Van noch immer fest im Griff haben. Es hat sich nichts geändert: Die Müllbeutel, die in der Nacht herausgestellt werden, sind am Morgen zerrissen und zerfetzt, die Bürgersteige kleben, Sohlen schmatzen. Bevor die Läden öffnen, ziehen Fegetrupps mit breiten Besen durch die Stadt und schieben die an Plastik und Styroporbrocken erstickten Vögel die Gassen hinab. Nam Van mit seiner drückenden Luft, den schmalen Fußgängerbrücken und Hafenbecken, den scharfen Gerüchen der Garküchen, den Zigarettenständen und Kasinos ist ein schwüler Traum, aus dem sie dankbar erwacht ist.

Sie trat in die Lobby, sah ihren Onkel und ließ sich umfangen, er drückte sie an seine Brust, bis sie ihn vorsichtig von sich schob. Ricardo versorgte das Gepäck. Personal huschte durch die Lobby, junge Zimmermädchen, die sie neugierig ansahen, Portiers, an deren Namen sie sich nicht erinnerte, ein Concierge mit kantigen Schultern und kantigem Blick. Und während die Rezeptionistin sie anlächelte und die Schlüsselkarte vorbereitete, ging ihr durch den Kopf, dass sie erst gestern früh ihr eigenes Bett in Geest glattgezogen hatte, dass sie den Stecker aus der Kaffeemaschine gezogen und die Tür hinter sich zugezogen hatte, wissend, dass diese Reise von begrenzter Dauer sein würde. Sie bedankte sich, fuhr allein nach oben, ihr Gepäck stand bereits da. Auf dem Tisch stand ein üppiger Blumenstrauß, Rosen und weiße Lisianthus, mit einem Willkommensgruß.

Auf der Promenade drängen sich Menschen, einige hundert Schaulustige sind gekommen. Die Luft ist aufgeladen, feucht, wie ionisiert. Ihre Nerven prickeln und surren, wie sie am Morgen auf dem Rollfeld gesurrt haben. Benedita und Gabriel bahnen sich einen Weg zum Kai. An der Treppe wartet das gelbe Dingi, das sie hinüberbringen wird. Tief in ihrem Inneren, irgendwo zwischen Hauptschlagader und Sonnengeflecht, vereint sich der Lärm der Triebwerke vom Vormittag mit dem Tuckern der Schlepper, die das bunt behängte Schiff in den äußeren Hafen gezogen haben. Am Heck kräuselt sich das Wasser, es glitzert und blitzt in allen Farben. Die Jasmin scheint zu schweben. Als sie in das Dingi steigen, surren noch einmal ihre Nerven, Arm- und Beinmuskeln knistern, es blitzt aus ihrem Nacken herauf, ihr Geist bäumt sich auf, der Körper erinnert sich zuckend an den langen Flug durch die Nacht, an das Flackern der Bildschirme in der Dunkelheit, das Rauschen der Lüftung und das dumpfe Dröhnen der Turbinen.