Der kleine Wimpelmast glitzert bunt bis in die Spitze hinauf, das Wasser, in dem er sich spiegelt, ist glatt und schwarz wie Öl. Es ist still, nur das Tuckern der Schlepper ist zu hören. An einer Stange unter dem gelben Schlepplicht hängt schlaff das gelbe Kreuz auf rotem Grund, an einer Leine sind bunte Flaggen aufgereiht. Gabriel hat für diese letzte Reise alles noch einmal einschalten lassen: Lampions, Positionslichter, funkelnde Ketten. Im Fahrwasser der Schlepper glühen Algen, leuchtende Fische schießen durchs Wasser.
Trauer und Erleichterung liegen in der Luft, eine Ära geht zu Ende. Die halbe Stadt hat sich am Kai versammelt, um das berühmte Restaurantschiff zu verabschieden. Kinder steigen auf die Geländer, wo sie von ihren Eltern gehalten werden, die ihnen den Namen des Schiffs ins Ohr raunen: Jasmin. Das waren Zeiten! Reife Paare halten sich an den Händen wie Frischverliebte, sie schwelgen in der Erinnerung ihrer ersten gemeinsamen, berauschten Nächte, der Hochzeiten und Neujahrsbälle, wenn sie hinaustraten auf die kleinen Balkone und übermütig ihre halbvollen Sektkelche ins Hafenbecken schleuderten. Eine merkwürdige, ehrfürchtige Stille hat die Menge erfasst, bis jemand zu klatschen beginnt, zaghaft erst, dann lauter, bis schließlich Applaus aufrauscht, als wäre dies das Schlussbild einer großen Oper.
Benedita und Gabriel klettern in den Kahn, verfolgt von den Blicken der Bürger. Jeder hier weiß, dass sie ein Vorrecht genießen, dass sie etwas einlösen, das ihnen zusteht. Sie legen ab und fahren langsam hinaus. Die Schlepper der Bergungsfirma bugsieren das Ungetüm, das vor fünf Jahren zum letzten Mal bewegt wurde, vorsichtig durch den äußeren Hafen, vorbei an der Mole. Die Stadt flirrt in der warmen Sommernacht. Der Containerhafen strahlt grell, das goldene Hotel steht mächtig vor dem Hügelland, die Kathedrale mit ihren gedrungenen Türmen duckt sich, als hätte sie Angst, verprügelt zu werden.
Die Jasmin scheint beinahe ein wenig beleidigt, dass sie ins tiefere Wasser gezogen wird. Vom Dingi aus wirkt sie wie ein mit glänzenden Zuckerkugeln garniertes Kuchenstück. Sie ist in diesem Hafen die absurde Ausnahme, das eine Schiff, das nicht auslaufen durfte. Dafür wurden in ihren Sälen tausend Feste gefeiert, tausend Geschäfte angebahnt, die das Leben eines jeden Bürgers und das Schicksal einer ganzen Stadt bestimmten, ihr Glück und ihr Unglück. Auf diesem Schiff, in dessen Bauch sich Köche mit abgeflämmten Brauen über brodelnde Töpfe beugten, trafen sich die Schönen und die Reichen. Frisch gewählte Ratsvorsitzende, Schauspieler und Halbweltfiguren ließen sich in einem der vierundsechzig Separees feiern, die Innungen und Karnevalsvereine buchten und bespielten den großen Saal. Zocker und Süchtige, mächtige Männer und gepuderte Frauen mit hoch geschlitzten Kleidern – alle stiegen, erhitzt und erregt, die breite, mit Lichterketten geschmückte Gangway hinauf. Sie traten ein, sanken in gepolsterte Sessel und tranken den in winzigen Kristallkaraffen servierten Kirschschnaps.
Über eine Leiter steigen sie an Bord, das Dingi verschwindet in der Nacht. Vier Männer begrüßen sie, auf ihren Kappen vier fette, linkslehnende Blockbuchstaben, die ein kastenförmiges Schiff schieben – das Logo der von Gabriel beauftragten Bergungsfirma. Walkie-Talkies knacken und spucken abgehackte Wortfetzen, die Männer stehen mit den Schleppern und der Lotsenstation in Verbindung.
Eine steile, mit Teerpappe beklebte Stahltreppe führt aufs Dach. Es ist alles, wie es damals war. Benedita streckt sich, legt den Kopf in den Nacken. Schütze und Schlangenträger stehen hoch am Himmel. Aus dem Zentrum der Milchstraße scheint ein Windhauch auf sie hinabzufahren, eine kosmische Strahlung, die wohltut. Sie trinkt die laue Luft. Sie schließt die Augen. Die Freundinnen fallen ihr ein, der Hula-Hoop-Ring, Feriennächte, Galaabende und Feuerwerk, das auf glatter Wasseroberfläche glitzerte. Gabriel legt ihr den Arm um die Schulter und zieht sie an sich: »Happy Birthday, du Abtrünnige.«
Rote und grüne Leuchtfeuer markieren die Hafeneinfahrt, langsam versinkt hinter ihnen die Stadt. Sie gehen die Treppe hinunter und treten in den Saal, der von Kristallleuchtern in blendend weißes Licht getaucht ist. Erleichtert stellt sie fest, dass niemand auf sie wartet, einen Wimpernschlag lang hat sie befürchtet, Gabriel könnte eine Überraschungsparty für sie organisiert haben. Aber wen hätte er eingeladen? Sind sie nicht letztlich ganz allein – Gabriel, der Verwalter, und sie, die Erbin?
Niemand hat sich die Mühe gemacht, die Einrichtung zu entfernen. Die großen, mit Drehaufsätzen ausgestatteten Tische sehen aus wie frisch gedeckt, Teller, Besteck und Servietten liegen am Buffet bereit, Edelstahl glänzt im Licht der auf die Vitrinen gerichteten Deckenstrahler. Wenn sie die Augen ein wenig zusammenkneift, sieht sie an den Tischen die Nachbilder der Gäste, die rauchend, lachend und gestikulierend ihren gespenstischen Charme versprühen. Nur das Essen, auf das sie warten, wird nicht kommen.
Die Wärmehauben sind geöffnet, Servierwagen stehen ordentlich aufgereiht an der Wand, die Rollen sind arretiert, die Oberflächen gewischt. Es ist alles sauber, nur auf einem Tablett, das die Form eines Gelbfischs hat, hat jemand eine Zigarette ausgedrückt. Auf dem Teppich vor dem Kücheneingang hat sich eine Haushaltsrolle selbständig gemacht, eine Art Läufer, der einlädt, durch die Schwingtüren zu treten.
Während sich ihr Ohr an das dumpfe Dröhnen der Schlepper gewöhnt, fährt sie mit der Hand über das Glockenspiel der Töpfe, der großen und kleinen Kellen, Zangen und Schneebesen, die über den Kochfeldern hängen. Sie lauscht der Musik und sieht sich selbst im Lärm und Gewühl dieser Küche. Sie kann die Köche hantieren sehen, das Fauchen der Gasbrenner hören, das Zischen eines Fischs, der auf heißes Chiliöl trifft.
»Komm«, sagt Gabriel, »wir schauen mal, was es hier zu essen gibt.«
Er nimmt eine der schweren Kellen, tritt an einen Stahlschrank und hebelt ihn auf. Die Tür biegt sich, schnappt auf und schlägt krachend gegen die Wand, so laut, dass ihnen die Ohren klingen. Sie lachen und reißen Kartons auf, entdecken Gläser mit gehacktem Knoblauch, Meerrettich, Piri Piri, Ginseng. Alles ist abgelaufen. Gabriel steckt sich ein Glas Oliven in die Tasche. In einem weiteren Schrank lagert Rotwein, dreißig Flaschen oder mehr.
Das Schott ist geöffnet. Sie steigen die Nebentreppe hinauf, Benedita könnte den Weg mit verbundenen Augen finden. Die Dämpfe aus der Küche sind erkaltet, aber der Aufgang riecht, wie er immer gerochen hat: Limetten-Chutney, Bockshornklee, Rauch. Sie gehen über den langen Flur auf der Backbordseite und treten in eins der Separees. Seidentapete in fahlgrün, die Tür, der Lampenschirm, alles ist hellblau bis grünlich wie in einem Aquarium. Vor der geöffneten Schiebetür, die auf einen kleinen Balkon hinausführt, steht ein Sofa in hellem Türkis.
Sie schieben die Sofakissen auf den Boden. Die Weinflasche steht wacklig auf dem plüschigen Teppich.
»Stört es dich, wenn ich mir eine Zigarette anzünde?«, fragt Gabriel.
»Nur ein bisschen.«
»Dann mache ich es trotzdem.«
Gabriel, denkt Benedita, entstammt einer anderen Zeit. Er trägt Verantwortung, als Bürger steht er mitten im Leben, sie sieht ja, wie er in der Stadt auftritt, wen er grüßt, wie er mit den Bergungsleuten umgeht und mit den Beschäftigten im Hotel. Aber eine Welt hat ihn geprägt, die längst untergegangen ist, eine Welt, in der Zigaretten noch eine gewisse Selbstverständlichkeit hatten, als Männer eines bestimmten Alters leichte, pastellfarbene Kaschmirpullover über die Schultern legten, wenn sie abends zum Essen ausgingen. Er trägt einen ungefärbten Leinenanzug, darunter ein lachsfarbenes T-Shirt, die grausträhnigen Haare, die er sich mit der Hand auffällig oft nach hinten streicht, fallen auf den etwas zu schmalen Hemdkragen. Es ist diese Hand mit der Zigarette, die sein wahres Alter verrät, die hervortretenden Adern, die ersten Altersflecken, die kleinen Kratzer und Narben in der tiefbraunen Haut. Seglerhände. Sein Gesicht dagegen, die scharfe Nase, der kräftige Unterkiefer, der ruhige Blick aus kleinen, blauen Augen, all das wirkt beinahe zeitlos.
Sie lehnt sich an seine Schulter, streift die Schuhe ab und zieht die Beine unter. Sie lässt sich fallen. Sie hat Gabriel immer geliebt, sie weiß nicht, was aus ihr geworden wäre, wenn er nicht da gewesen wäre. Sie weiß nicht, wie sie diese Jahre überstanden hätte. Tovo, ihr Vater, war weg, und Julia tat, als wäre sie ihre Freundin. Sie hat sich nie verhalten wie eine Mutter. Benedita durfte nie Mama sagen, sie musste sie immer beim Namen rufen, Julia, als wäre sie noch das schlanke Mädchen aus Spanish California, das Körbe als Handtaschen trug, geblümte Kleider, dünne Riemensandalen, Fußnägel in Gelb und Rosa. Für Julia war die Mutterrolle genau das – eine Rolle, die man nebenher spielen und die man auch wieder absagen konnte. Man rief seinen Agenten an und sagte: Ach nein, ich will das nicht, ich habe doch keine Lust. Hast du nicht etwas anderes für mich? Es war ein Segen, dass Benedita damals ins Internat kam.
Der hellblaue Vorhang hat sich aus der Schlaufe gelöst und bläht sich auf. Das Fahrwasser des Backbordschleppers glänzt, Delfine springen und schnattern, eine ganze Schule begleitet sie, zwanzig oder dreißig Tiere. Gabriel, der Segler, bemerkt es kaum, er hat das Wunder, das sich dort draußen vollzieht, schon hundertmal gesehen. Dita dagegen betrachtet das Schauspiel mit Herzklopfen, mit Ehrfurcht und beinahe mit Angst. Denn sie weiß, dass die Tiere genauso schnell verschwinden, wie sie gekommen sind. Das Tau tanzt, das die Jasmin mit dem Schlepper verbindet. Es tanzt auf dem Wasser, auf dem sich im Scheinwerferlicht die Wellen leise kräuseln, und schlägt den Delfinen den Takt.
»Du bist müde«, sagt Gabriel.
»Vierzehn Stunden Flug, ich habe praktisch nicht geschlafen.«
»Und heute Mittag zu Hause?«
»Nur ein bisschen. Die Klimaanlage hat mich gestört.«
»Warum hast du nicht jemanden gerufen?«
»Auch dazu war ich zu müde.«
Sie schließt die Augen. Zu den Delfinen gesellen sich Drachen und feuerrote Fabelwesen, das Wasser ist in Aufruhr, es schäumt vor Leben, Kreaturen stoßen heraus, zeigen Reißzähne und Krallen, lassen sich bellend und gackernd auf den Rücken fallen.
»Warum Jasmin?«, fragt Benedita schläfrig. »Warum hat er sie auf den Namen Jasmin getauft?«
»Jasmin, der zweite Vorname deiner Großmutter.«
»Sie hieß Marike Jasmin?«
»Wusstest du das nicht?«
»Nein.«
»Marike Jasmin, die im Alter von nur zweiundzwanzig Jahren mit einem Koffer voller Hoffnungen und Sehnsüchte nach Nam Van kam. Das klingt nicht schlecht, oder?«
Sie nickt.
»Marike Jasmin«, sagt er leiser, »die sich zwanzig Jahre später das Leben nahm. Krank und allein gelassen und gedemütigt.«
»Das ist wohl nicht die Geschichte, die er mit dem Namen erzählen wollte.«
»Nein, bestimmt nicht. Jasmin, meinte Tovo damals, das sei ein Name, der duftet, ein Name, der klingt wie Dim Sum, Bacalhau und Mapo Tofu. Tovo hat mich damals sogar gefragt, was ich von dem Namen hielt, dabei hat er ohnehin gemacht, was er wollte. Es war schließlich sein Schiff, seine Idee.«
»Er hat recht behalten, oder?«
»Mit diesem Namen? Auf jeden Fall. Den Leuten lief das Wasser im Mund zusammen, wenn sie das große Leuchtschild über der Gangway sahen, die Schriftzeichen und Blüten, die sie willkommen hießen.«
»Das Majestic ist nicht mein Zuhause«, sagt sie nach einer Pause.
»Wie meinst du das?«
»Heute Mittag zu Hause, hast du eben gesagt. Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass das Hotel, oder die Wohnung, mein Zuhause ist. Ich habe mich dort nie geborgen gefühlt.«
»Ich weiß«, sagt Gabriel. »Ich weiß.«