9 · Gabriel

Der Vorhang weht und bauscht sich, ihr Atem geht langsam, die vollen, beinahe blutigroten Lippen sind ein wenig geöffnet. Ist sie eingeschlafen? Benedita sieht ihrer Großmutter ähnlich, denkt Gabriel, sie hat dasselbe schmale Gesicht, die hellen Züge, die dünnen blonden Augenbrauen. Täte sich plötzlich ein Riss in der Zeit auf, würden sie aufeinandertreffen wie Teilchen und Antiteilchen, sie würden aufeinanderprallen, sich gegenseitig auslöschen und ein Feuerwerk aus Photonen zünden, das kurz und heftig die Nacht dieser Familie erhellen würde, ihr Glück und ihr Unglück.

Die Gazette berichtete damals ausführlich von der Schiffstaufe, eine ganze Seite mit Foto: Im Vordergrund Tovo, die rechte Hand am Bug, in der linken die übergroße Champagnerflasche. Gabriel, vierzehn Jahre alt, ist bereits größer als sein Bruder. Er trägt eine knielange Hose und ein Matrosenhemd, ein seltsamer, jungenhafter Aufzug, und betrachtet Tovo mit einer Mischung aus Skepsis und Bewunderung. In der zweiten Reihe, ein wenig versetzt hinter Gabriel, steht ihr Vater: weißer Hut zum hellen Zweireiher, über dessen Revers ein goldgelber Seidenschal fällt. Das Haar ist nach hinten gekämmt, die dicken Strähnen glänzen wie schwarzes Metall. Seine Lider, die sichelförmig zur Nasenwurzel auslaufen, liegen schwer über dunklen, gefährlich blitzenden Augen. Er blickt in die Kamera, als wollte er sie anfallen.

Tovo hat die Schule abgebrochen, auch das steht in dem Artikel. Seit zwei Jahren arbeitet er auf diese Eröffnung hin. Er hat kein Interesse am Majestic, er will es nicht übernehmen, er ist nicht einmal bereit, ein Praktikum im Hotel zu machen. Für ihn zählt nur eins: aus dem Schatten seines Vaters herauszutreten, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Es liegt nahe, ein Restaurant zu eröffnen. Chou da Luz, der Name öffnet Türen, er steht für Einfluss, wirtschaftliche und politische Macht, er steht für Qualität und Zuverlässigkeit. Aber von der geschäftlichen Seite hat Tovo keine Ahnung. Es ist Gustavo, der Vater, aus dessen Schatten er treten will, der ihm die richtigen Leute besorgt. Gustavo stellt die Verbindung zur Bank her, Gustavo unterschreibt Bürgschaften, Gustavo, der Mann, den er für den Tod ihrer Mutter verantwortlich macht, zieht im Hintergrund die Strippen.

Dass es dann ein Restaurantschiff wurde, erklärte er einmal so: »Die Stadt selbst hat es mir vorgegeben, Nam Van, die Wasserstadt, hat es gefordert. Sie ist an mein Bett getreten, als ich schlief, und hat mir in diesem biblischen Ton gesagt: Du. Sollst. Deinen. Palast. Auf. Dem. Wasser. Bauen.« Tovo konnte sehr lustig sein. Tatsächlich hatte es wohl mehr damit zu tun, dass die Hafengrundstücke in Nam Van schon damals sehr teuer waren. Also gab er das Schiff in Auftrag: ein Ponton, rechteckig, dreistöckiger Aufbau. Angedeutete Pagodendächer, grün und geschwungen, rot abgesetzte Balkone, ein schwimmender Palast, der schallende Parolen zu rufen schien, Wörter wie Gaumenfreude! Schwelgerei! Sinnesrausch!

Gustavo hielt das Restaurantschiff für eine Schnapsidee, für Wahnsinn. Er traute es seinem Sohn nicht zu, ein Geschäft dieser Art und Größe zu führen, und kalkulierte sein Scheitern ein. Später fanden sie heraus, dass er sich gegen den möglichen Schaden sogar versichert hatte. Aber er versuchte nicht ein einziges Mal, seinem Sohn die Pläne auszureden. Er nickte, er unterschrieb, er ließ es geschehen. Seit Marikes Tod hatte er zusehends die Kontrolle verloren – über die Familie, über das Geschäft, vor allem aber über sich selbst. Er trauerte zwar nicht im üblichen Sinn um seine Frau, die er nicht geliebt, die er tatsächlich sogar gehasst hatte, aber er war doch zutiefst erschüttert. Ihm fehlte dieser Fixpunkt, der Halt im Gefüge seines Lebens, er wusste nicht mehr, wie er zu der Welt stand, in der er zu Hause war. Und dann dieses Schiff, das ihren Namen trug wie einen Vorwurf. Ein bitteres Gebräu aus Scham und Schuld, eine tiefe Angst und Unsicherheit muss in ihm gebrodelt haben, anders ist es nicht zu erklären, dass er seinem Sohn geholfen hat. Beinahe schien es, als würde Tovo seinen Vater erpressen, als hätte er etwas gegen ihn in der Hand. Aber das ist nicht möglich, Gabriel hätte davon erfahren, sein Bruder hätte es ihm früher oder später erzählt.

Sie liegt in seinem Schoß und streicht sich die glatten, aschblonden Haare aus dem Gesicht, ihre Augen sind geschlossen, der kräftige Körper ist entspannt. Sie ist warm und geschmeidig, er hat noch nie eine Frau gesehen, die so in sich selbst ruht. Sie ist das Gegenteil von Julia, die nie wusste, wer sie war und wohin sie gehörte. Es ist Benedita gelungen, sich zu befreien, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Niemand hat ihr geholfen. Sie hat niemanden gebraucht, nicht Julia, nicht Tovo, nicht einmal ihn selbst. Sie hat ihren Koffer gepackt und ist gegangen. Und jetzt ist sie diese beeindruckende junge Frau, die Ärztin werden will. Es ist beinahe ein Wunder.