11 · Gabriel

Die Küste war weit entfernt, der Hafen, die Segelboote seiner Kindheit waren unerreichbar. Gabriel spielte vier Mal in der Woche Tennis und baute mit ein paar Freunden und unter Aufsicht eines jungen, engagierten Werklehrers ein Segelflugzeug, das nie fertig werden würde. Ein Segelflugzeug, das nicht fliegen konnte, war ein schwacher Trost für einen Jungen aus Nam Van, in dessen Adern, wie man damals sagte, Seewasser floss.

Gabriel zählte die Tage bis zu den Frühjahrsferien, in denen er nach Geest fliegen sollte, um seine Großmutter zu besuchen und einige Tage auf Annas Hof zu verbringen. Er war fasziniert von der Vorstellung dieses Stadtstaats mit seinem weiten, bäuerlichen Umland, der in seinen unruhigen Träumen ein Gegenbild zu seiner eigenen Heimat darstellte, ein weiterer Vorposten des Meeres selbst, dessen Grenzen die Grenzen der menschlichen Zivilisation zu sein schienen. Während Geest auf der Landseite durch einen uralten, in der flachen Landschaft aufragenden Wall geschützt war, verband der zu einem breiten Kanal ausgebaute, in Groden und Watt sich verlierende Fluss die Stadt und ihren Hafen mit der ganzen Welt. Auch Geest, das von Poldern, Marschland und Deichen beinahe vollständig umgeben war, war eine Insel.

An einem Donnerstag, wenige Tage vor den Ferien, wurde er am Ende des Mittagessens vom Erzieher aufgerufen. Er solle sich um vierzehn Uhr an der Brücke einfinden. Das war ungewöhnlich, so ungewöhnlich, dass sich die Jungen, die aus dem Speisesaal drängten, nach ihm umsahen. Als er zum angegebenen Zeitpunkt an der Brücke ankam, warteten schon Tovo, der kurz vor dem Abschluss stand, und der Direktor, ein hagerer, asketischer Priester mit schweren Augenlidern und einem winzigen Kinnbärtchen. Tovo wusste auch nicht, was los war, der Direktor sagte: »Tomás Gustavo, bitte pass auf deinen Bruder auf. Euer Vater kommt gleich.« Der Direktor war der Einzige, der Tovo bei seinem vollem Namen nannte.

Gabriel hatte Angst, Angst vor dem Ungewissen, vor der Unberechenbarkeit seines Vaters, der immer wieder gezeigt hatte, wie aufbrausend, ja wütend er seinen Kindern gegenüber sein konnte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er sah seinen Bruder an. Ihr Vater war noch nie unangekündigt zum Internat gekommen, Elternbesuch war nicht erwünscht, und Gustavo sah keinen Grund dazu, sich über das nötige Maß hinaus mit seinen Söhnen zu beschäftigen. Er interessierte sich nur dann für ihre Erziehung, wenn er glaubte, eingreifen oder etwas korrigieren zu müssen. Gustavo war die letzte Instanz, er war der Richter, der die Strafe zumaß, wenn alle anderen – die Erzieher, die Mutter und selbst Ricardo – versagt hatten. Was hatte er verbrochen, um einen derart radikalen und dramatischen Auftritt des Vaters zu rechtfertigen? Würde er von der Schule fliegen? Würde er das Internat verlassen müssen?

Gabriel und Tovo sahen ihre Eltern nur alle sechs Wochen zu den sogenannten Heimfahrtswochenenden und in den Ferien, zu denen Gustavo sie mit dem Auto holen ließ. Jetzt kam er selbst in seiner alten Limousine, einer schaukelnden Staatskarosse wie aus einem Film, mit Vorhängen und weißen Kopfstützenschonern, die nach jeder Fahrt gereinigt wurden. Die breiten Reifen knirschten im Schotter, der Wagen kam zum Stillstand. Ricardo, ein junger Mann damals, stieg aus: Chauffeursuniform und weiße Kalbslederhandschuhe, sie hatten wirklich Stil. Während er Gustavo die Tür aufhielt, warf er Gabriel einen Blick zu, den dieser nie vergessen sollte. Es war das reine Gefühl, die reine Anteilnahme. Gabriel wäre am liebsten auf ihn zugestürzt, um ihn zu umarmen.

»Wartet kurz hier«, sagte der Direktor und ging zum Auto. Er besprach sich mit Gustavo, gemeinsam kehrten sie zur Brücke zurück.

»Was ist los?«, fragte Tovo. »Papa, was machst du hier?«

»Wartet, euer Vater wird es euch gleich erklären.« Gustavo nickte wortlos. Er fasste Gabriel zum Gruß an der Schulter, die er leicht massierte. Gabriel deutete diesen Gruß als Entwarnung. Vielleicht würde er doch nicht von der Schule fliegen. Er war zwölf, und beinahe schon so groß wie sein Bruder.

Sie wurden über den Pausenhof geführt, durch den Kreuzgang, über eine breite Treppe. Am Ende des Flurs befand sich eine schwere Holztür. Der Direktor klimperte mit seinem altertümlichen Schlüsselbund, ließ sie durch und wies links in eine kleine Bibliothek. Es roch nach Myrrhe, Leder und Zigarren, auf dem kleinen Lesetisch stand ein Aufsteller mit Heiligenbildchen: He Xian Gu und die acht Unsterblichen, Caspar, Melchior und Balthasar, der in der alten Sprache des Nordens Badalamit genannt wurde. Der Direktor zog die Tür zu und verschwand, sie setzten sich.

Sie sahen ihren Vater an.

Gustavo legte seinen Hut auf den Tisch, seine Finger trommelten.

»Was ist?«, fragte Tovo ungeduldig.

Er schwieg.

»Was ist los? Warum bist du hier?«

»Eure Mutter ist tot.«

Gabriel weiß nicht mehr, ob Tovo etwas sagte in diesen ersten Sekunden, aber er erinnert sich mit unbändiger Scham daran, welcher Gedanke ihm selbst in diesem Augenblick durch den Kopf schoss.

»Heißt das, dass ich nicht nach Geest fliegen kann?«

Sein Vater sah ihn fassungslos an.

»Ihr kommt mit nach Hause«, sagte Gustavo. »Ihr holt gleich eure Sachen, und dann fahren wir zurück nach Nam Van.«

»Aber was ist passiert?«, fragte Tovo. Er zitterte am ganzen Körper. »Was ist denn passiert?«

»Sie hat es mit einem Seil gemacht.«

»Was? Was hat sie mit einem Seil gemacht?« Tovo sprang auf und lehnte sich über den Tisch, als wollte er seinem Vater an die Kehle springen. Zorn und Hass schossen ihm in die Augen, sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Gabriel, der sitzen geblieben war, begriff, wie gefährlich die Situation war. Er legte seinem Bruder die Hand auf den Arm, versuchte ihn zu beruhigen und in den Stuhl zurückzuziehen. Gustavo wich zurück.

»Sie hat sich erhängt«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Ich bin am Abend nach Hause gekommen und habe sie gefunden. Ich habe versucht, die Schlinge zu lösen, aber es war zu spät.«

»Dann kann ich also nicht fliegen?«, fragte Gabriel leise.

»Wohin?« Es war, als hätte er es beim ersten Mal nicht gehört.

»Nach Geest. Zu Oma.«

»Nein«, sagte Gustavo und sah ihn entsetzt an. »Natürlich nicht.«

Tovo hatte das ganze Bild vor Augen, er sah die gesamte Situation. Er sah seine tote Mutter, die Schlinge, die sich in ihren Hals gebrannt hatte. Er verstand, was dieser Tod für sein Leben bedeuten würde. Er weinte und bäumte sich auf, etwas Mächtiges und Kraftvolles brach aus ihm heraus. Er verlangte Antworten und brüllte seinen Vater an, diesen Mann, vor dem sie immer Angst gehabt hatten.

»Warum hat sie das getan? Warum jetzt? Was hast du gemacht?«

Gabriel selbst reagierte nicht, es war, als beträfe es ihn nicht. Er konnte nur das Unmittelbare denken, und das war die Reise, auf die er sich seit Monaten gefreut hatte. Sie war wie ein Damm, ein Wellenbrecher, gegen den jegliches Verständnis anbrandete. Er begriff es nicht. Er begriff nicht, was geschehen war.

Sie holten ihre Koffer aus den Zimmern und wurden nach Hause gefahren. Ricardo sah ihn immer wieder im Rückspiegel an. Gabriel wusste damals nicht, welche Rolle er im Leben dieses Mannes spielte, der keine eigene Familie hatte. Auf der Fahrt zum Kai hat er Benedita genauso angesehen, denkt er jetzt, mit demselben traurigen, sehnsuchtsvollen Blick. Ricardo liebt sie, wie man eigentlich nur sein eigenes Kind lieben kann.