12 · Dita

Es ist, als würde ein Vorhang zur Seite gezogen, Laguna erscheint in der Nacht wie eine Vision, ein Kardiogramm am Horizont, das sich fortschreibt, je weiter die vorgelagerten Inseln aus dem mondbeglänzten Blickfeld rücken. Zuerst schiebt sich der unter Flutlichtern glühende Hafen heraus, dann treten, eines nach dem anderen, die in allen Farben leuchtenden und im Wasser sich spiegelnden Hochhäuser auf. Ein Zentrum gibt es nicht, es ist eher, als wäre eine Vorstadt über sich selbst hinaus und bis in den Himmel gewachsen, die Wolkenkratzer stehen da wie Pfeiler einer nie vollendeten Plattform, auf der eine weitere, himmlischere Stadt errichtet werden sollte. Benedita kneift die Augen zusammen und betrachtet Laguna wie durch ein Kaleidoskop. Sie kann die Territories erahnen, Nathan und Chou, sie kann sich hineinträumen in die überhitzten Häuserschluchten und das Gewühl der Einkaufsstraßen, wo ihre Mutter, die selbst nur dünne, geblümte Kleider trug, ihr vor Jahren einen roten Hosenanzug kaufte. Benedita war vierzehn. Der Express brachte sie nach Laguna, wo sie sich gleich ins Einkaufsvergnügen stürzten. Als sie fertig waren, sammelte ein Concierge des Hotels, das mit dem Majestic kooperierte, die Taschen und Päckchen in den Boutiquen ein und schickte sie mit dem Auto nach Nam Van. Am Nachmittag ließen sie sich mit warmem Öl die Füße massieren. Sie ließen sich Schlick und Algen ins Gesicht schmieren und gingen schwimmen. Später aßen sie Pajeon mit Venusmuscheln und etwas, das aussah wie frittierte Seepferdchen. Ihre Mutter stieß mit ihr an.

»Wie hübsch du geworden bist, Benedita.«

»Das sagst du nur, weil – «

»Bitte, lass uns nicht streiten.«

Julia hatte mit großer Hartnäckigkeit den Traum verfolgt, aus ihrer Tochter eine Schauspielerin zu machen, und sie hatte es ihr nicht verziehen, dass Benedita, die sich anfangs auf Julias Wünsche eingelassen und hundert Kinder-Castings und Fototermine über sich hatte ergehen lassen, später mit allen Mitteln dagegen gewehrt hatte.

Am Morgen gingen sie ins Museum. Lange standen sie vor den Bildern eines Alten Meisters aus Geest, dessen Landschaften und Seestücke aus luminösen Himmelsflächen bestanden, die großflächig über einem dürren Horizont standen. Sie tranken Kaffee, blätterten im Ausstellungskatalog und rauschten zurück nach Nam Van, und als sie langsam und leise gleitend die Brücke überquerten, die Nam Van mit dem Festland verbindet, und als dann im Fenster Schanbrás auftauchte, die Kathedrale mit ihren gestauchten Türmen, dachte Benedita: Jetzt bin ich erwachsen.

Benedita ist in einer Weise, die sie weder als gut noch als schlecht, weder als erhebend noch als bedrückend bezeichnen würde, erschüttert von diesem Anblick, von der nächtlichen Verfremdung dieser Stadt, die sie seither vor allem in ihren Träumen aufgesucht hat. Laguna, die wimmelnde Metropole, die sich selbst für den Nabel der Welt hält und doch enger ans Festland gekettet ist als ihre kleine, von äußeren Mächten weitgehend unbehelligte Schwester Nam Van, hat in ihrer Kindheit eine überproportionale Rolle gespielt. Laguna war die Stadt, die im Rampenlicht stand, die Stadt, in die man sich hineinträumte, wenn man Dinge bewegen und Großes erreichen wollte. Bilder von Laguna hingen in der Bar des Majestic, als könnte man sich nach dem dritten oder vierten Whiskey Sour dämmernd in das nur eine kurze Zugfahrt entfernte Nachtleben von Nathan davonstehlen, das hundert Mal aufregender und sündhafter war als das Nachtleben von Nam Van. In jedem Geschäft wurden unter dem Banner der zwei Chuáns die Produkte und Spezialitäten der Megastadt verkauft, und Beneditas Freunde erzählten sich von Plänen, eines Tages über die Brücke zu fahren und nach Laguna zu ziehen, wo sie die Schauspielschule oder die Tennisakademie besuchen würden, wo sie Geschäfte oder Fabriken eröffnen und sich Wohnungen hoch über der Stadt kaufen würden. Nur Benedita hatte keine derartigen Pläne. Benedita war dazu bestimmt, in Nam Van, im Schatten der Kathedrale, vor der sich schmutzige, verwilderte Meerenten rauften, das Majestic zu übernehmen und die Sünde ihres Vaters zu büßen.