Den roten Hosenanzug, den Julia ihr in Laguna gekauft hatte, trug sie auf ihrer einzigen Reise nach Spanish California, der Heimat ihrer Mutter, sie trug ihn, als sie auf der anderen Seite des riesigen Ozeans, den die Piraten einst den serenissischen genannt hatten, nach beinahe zehn Stunden Flug auf den heißen Asphalt des Vorfelds trat, und sie trug ihn, als sie über die wackligen Gangways der Bootssiedlung balancierte, in der ihre Mutter groß geworden war.
Julia hatte ihre eigene Flugangst unterschätzt, möglicherweise hatte sie es nach all den Jahren, die sie in Nam Van verbracht hatte, einfach vergessen. Sie war in ihrem Leben überhaupt erst zwei- oder dreimal geflogen, ihre erste Reise hatte sie an Bord einer Zweiunddreißigfußjacht gemacht, deren Eigner ein junger Einhandsegler namens Gabriel gewesen war. Ohne Gabriel wäre sie nie nach Nam Van gekommen, sie hätte auch Tovo nie kennengelernt, mit den entsprechenden Folgen auch für sie, Dita. Julia war frei und wollte die Welt sehen, und Gabriel, der nach anderthalb Jahren seiner Weltumseglung die letzte – und bei weitem längste – Etappe nicht mehr allein sein wollte, hatte der jungen Frau, die auf einer Schiffssiedlung in Spanish California aufgewachsen war und nach dem Schulabschluss in einem Hafenrestaurant kellnerte, eine Koje auf der Stardust angeboten.
Julia, die den Fensterplatz hatte, sah nicht hinaus. Sie zitterte, sie war kreidebleich und krümmte sich in ihrem Sitz, während ihre fünfzehnjährige Tochter ihr über den Rücken strich. Alle zwei Stunden zwang Benedita ihre Mutter, einen Schluck Wasser zu trinken. Sie führte Julia zur Toilette und redete durch die Tür beruhigend auf sie ein. Sie las ihr vor und stellte ihr tausend unsinnige Fragen, um sie abzulenken. Als sie die Küste erreichten und auf der Landebahn aufsetzten, die wie ein ausgestreckter Finger in die Bucht ragte, als das Flugzeug schließlich zum Stillstand kam und die Tür geöffnet wurde, blieb Julia mit rot zerschossenen Augen sitzen und weigerte sich aufzustehen.
Rita, Julias Zwillingsschwester, wohnte in einer flachen, aus zwei Wohnflügeln und einem Wirtschaftsbereich bestehenden Kolonialvilla in Serena, der einzigen nennenswerten Stadt der Enklave, die noch immer den Namen Spanish California trug. Das riesige Haus befand sich im Schatten eines Stadthügels, an den sich die schmalen Straßen und bunten Häuser schmiegten wie Halsketten, der Blick ging auf die weite, mit Felsinseln und winzigen weißen Segeln besprengte Bucht von Miwoki. Benedita und ihre Mutter bezogen zwei Zimmer im Gartenflügel. Julia räumte ihre Kleider in den Schrank, schob das Bett ans Fenster, legte Seidentücher über die Lampen und richtete sich ein, als wollte sie für immer bleiben. Rita, die äußerlich nur wenig Ähnlichkeit mit Julia hatte, führte Benedita in ihr Zimmer und erzählte, dass ihre Tochter Leslie in ihrer Jugend beinahe den ganzen Flügel bewohnt hatte, sie hätten sich damals weitere Kinder gewünscht, die all diese Zimmer mit ihren hellen Stimmen und bunten Spielsachen füllen sollten, dazu sei es aber nicht mehr gekommen. Ihr Mann, ein Statistiker mit einem Hang zu praktischen und lukrativen Anwendungen in der Versicherungsmathematik, war durch einen seltsamen, nachrichtenwürdigen Unfall zu Tode gekommen – er war von einem historischen Tresor erschlagen worden, der per Kran aus einem ehemaligen Bankgebäude herausgehoben wurde. Rita führte Benedita und ihre Mutter zu einem Dachfenster, von dem aus sie, wenn sie sich nur ein wenig hinauslehnten, die mächtige Hängebrücke, das Wahrzeichen der Stadt, sehen konnten. Sie zeigte ihnen stolz den Kräutergarten und die offene, gelb gestrichene Küche, in der sie für ihre Freunde kochte, sie drückte sie sanft in Gartenliegen und servierte ihnen eisgekühlte, minzige Getränke. Der ganze Garten surrte von Bienen und Käfern, Schmetterlinge flogen von Blüte zu Blüte, um sie zu küssen. Rita schien sich in ihrem Leben als Witwe eingerichtet zu haben, sie genoss die Freiheit eines beträchtlichen Vermögens und war in der Stadt bestens vernetzt. Gleich bei ihrem ersten Mittagessen erwähnte sie einige bekannte Schauspieler und Künstler, mit denen sie verkehrte, die Beiläufigkeit, mit der sie es tat, hatte etwas Einstudiertes. Nach dem Essen lagen Benedita und ihre Mutter Kopf an Fuß in einer riesigen Hängematte, lauschten dem Gezwitscher der bunten Vögel und schliefen ein. Rita saß im Garten und zeichnete die Schlafenden, und als sie aufwachten, brachte sie Tee.
Am dritten Morgen, als sich Julia von dem Flug erholt hatte, verabschiedeten sie sich von Rita, nahmen einen Mietwagen und fuhren über die rostrote Hängebrücke aus der Stadt hinaus nach Norden. Auf dem Gipfel eines mit Erdbeerbäumen und duftendem Lorbeer bestandenen Hügels stiegen sie aus. Unter ihnen lag das Dorf, das der Bucht von Miwoki ihren Namen gab, der Hafen mit seinen Hausbooten, und weiter draußen die in sechs Achsen angeordneten, im blaugrün schimmernden Wasser ankernden Jachten, eine fedrige Schneeflocke von vielleicht hundert Booten, die in der kräftigen Morgensonne zu schmelzen schien.
Die Siedlung stammte aus einer Zeit, als die Künstler, Dichter und Anhänger verschiedener experimenteller Lebensformen die Jachten, die sie geerbt hatten, miteinander vertäuten, um sich im Schutz der Bucht und im Schatten der vorgelagerten Inseln ganz ihren Obsessionen zu widmen. Die meisten von ihnen hatten kein Interesse an der Segelei, zudem fehlte ihnen das Geld, um die Schiffe segeltauglich zu halten. Also blieben sie einfach in der Bucht, angelten, schrieben Gedichte und spielten Gitarre, und wenn sie sich von Boot zu Boot ihre eben erst verfassten Songs vorspielten, landeten Reiher und Schnepfen auf den zunehmend verwitterten Teakholzdecks, um ihnen zu lauschen.
Beneditas Großmutter und ihre Freunde aßen Pilze, um ihr Bewusstsein zu erweitern, und praktizierten eine Form der Liebe, die Ditas Geester Psychologieprofessorin als Beziehungsanarchie bezeichnen würde. Sie mündete in regelmäßigen Abständen in Orgien, die auf einem der größeren Boote abgehalten wurden. Einer solchen Orgie entstammten offenbar die Zwillinge. Julia hält es für möglich, dass sie und ihre Schwester unterschiedliche Väter haben. Sie hält es sogar für möglich, dass sie selbst das genetische Material gleich mehrerer Männer in sich trägt. Benedita war, als sie in ihrer frühen Jugend zum ersten Mal davon hörte, entsprechend beunruhigt. Sie neigte nicht dazu, zu moralisieren, aber sie empfand die Vorstellung, in zweiter Generation einer solchen orgiastischen Verwicklung zu entstammen, als unangenehm. Ihr Blut war kein Cocktail, den man sich bei einer Party nach Belieben zusammenmixen kann. Sie begann, ihre Mutter – und in der Verlängerung auch sich selbst – mit anderen Augen zu sehen. Heute, als angehende Medizinerin, kann sie all das besser einordnen. Es ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, dass Julia und Rita unterschiedliche Väter haben, dass sie Zwillinge und Halbgeschwister zugleich sind. Dass aber eine einzige Schwester das Erbgut verschiedener Männer in sich trägt, ist unmöglich. Julia ist keine Chimäre, und Benedita ist es auch nicht. Sie hat eine Mutter, die neben dem Auto steht und sich dehnt, und einen Vater, der sich aus ihrem Leben gestohlen hat wie ein Dieb.
Sie parkten am Hafen, nahmen eins der Boote, die dort lagen, und ruderten hinaus. Je näher sie kamen, desto mehr zerfiel der kristalline Traum, der diese Siedlung aus der Ferne gewesen war. Die Boote waren in bedauernswertem Zustand, niemand war zu sehen, nur hier und dort stieg Rauch aus einem der improvisierten Kaminrohre. Sie näherten sich der Waltzing Matilda, dem Zweimaster, auf dem Julia aufgewachsen war. Der schöne, klassisch geschnittene Rumpf war bis an die Bordkante mit einem tiefgrünen Algenbart bedeckt. Der Bugkorb war herausgebrochen und hing an einer einzigen Schraube, der Baum, an dem sich noch die Fetzen eines Großsegels befanden, lag auf dem Deck. Sie stiegen über eine Heckleiter in die Plicht. Der Gestank, der zu ihnen heraufdrang, als sie durch die geöffnete Luke in die Großkajüte sahen, war so widerlich, dass sie darauf verzichteten, das Boot zu untersuchen.
Sie kletterten weiter, stiegen von Boot zu Boot, bis sie einen Mann antrafen, den Julia erkannte. Sein Oberkörper war nackt und tief gebräunt, Sehnen traten an Stellen hervor, an denen Benedita sie überhaupt nicht vermutet hätte. Das graue, fettige Haar lag, von einem Essstäbchen gehalten, aufgerollt auf seinem Kopf. Er hieß Jay und erinnerte sich an das hübsche Kind, das Julia gewesen war, und an ihre Schwester Rita. Er bot ihnen Whiskey und Tamarindenlimonade an und erzählte, dass nur noch wenige aus der Kommune verblieben seien. Die Bewohner würden von ihren Verwandten oder gleich vom Personal eines Pflegeheims abgeholt, die Schiffe, vor allem die Holzboote, würden eins nach dem anderen volllaufen. Erst letztes Jahr hätten sie die Gaia, eine alte Rennjacht, an die sich Julia vielleicht noch erinnere, versenkt.
Sie saßen eine Weile da und tranken, und Jay erzählte, dass Julia mit vier Jahren zum ersten Mal ins Wasser gefallen sei, sie sei sofort losgeschwommen, als ginge es um ihr Überleben.
»Aber es ging um mein Überleben«, sagte Julia.
»Da hast du wohl recht«, sagte Jay.
Jay, überaus dankbar für das unverhoffte Publikum, wollte sie nicht gehen lassen. Er schenkte ihnen nach, brachte Kekse aus der Kajüte herauf, fragte sie aus und bewunderte Beneditas roten Hosenanzug. Sie blieben bis in den späten Nachmittag. Schließlich stand er auf dem Kajütendeck und hielt eine ausschweifende und vermutlich oft erprobte Rede.
»Die Welt ist eine Orgie von tanzenden Teilchen«, rief er und reckte die Faust mit dem Bourbon-Glas gegen den tiefblauen Himmel von Miwoki. »Wir leben in einem feuchten, weltumspannenden Biotop, einer kosmischen Suppe, in der nichts vom anderen zu trennen ist. Wir bestehen aus Milliarden winziger Organismen, die uns besiedeln über die Zeit hinaus. Wir sind hier, und wir sind dort. Wir sind allerorten.«
Als er fertig war, gelang es ihnen, sich zu verabschieden. Julia zog sich aus, gab ihrer Tochter das Bündel und sprang ins Wasser. Sie schwamm so schnell, dass Benedita mit dem Ruderboot kaum hinterherkam. Sie aßen in dem Restaurant zu Abend, in dem Julia einst gekellnert hatte, und übernachteten in einem Städtchen in den Bergen. Am Morgen fuhren sie weiter, um Ritas Tochter in Lascabanes zu besuchen.