17 · Gabriel

In der Wohnung fanden sie nichts, keine Notiz, keinen Abschiedsbrief, keine Erklärung. Gustavo, der nach der Bestattung jegliche Fassung verloren hatte, gab schließlich auf. Seine verzweifelte, beinahe berauschte Suche war der erste Akt des Schauspiels gewesen, das er für sich und seine Familie geschrieben hatte. Jetzt, im zweiten Akt, beschwor er die Wut. Es war, als würde die Glut des Scheiterhaufens, die eben erst erloschen war, in seiner rauen Seele neu und stärker entflammen. Er trank und fluchte, er fauchte die Mitarbeiter an, kam spät und unrasiert in die Lobby und drohte, Anna und Janne aus dem Hotel zu jagen. Er hatte die Schwestern gehasst, seit sie in sein Leben getreten, seit sie damals zur Hochzeit angereist waren. Jetzt, da Marike tot war, wurde deutlich, wie unmäßig dieser Hass immer gewesen war. Er warf ihnen vor, bleiben zu wollen, sich einrichten zu wollen in diesem Hotel, auf seine Kosten. Dabei hatten Anna und Janne keinen Anlass dazu gegeben.

Vor allem Anna hatte in Geest ein Leben, das sie nicht aufgeben wollte. Sie hatte Freundinnen, einen Hof, Tiere und Streuobstwiesen. Alles, was sie mit Nam Van verbunden hatte, war verschwunden. Papa Chou war tot, ihre Erinnerungen an die Zeit vor dem Krieg, als sie neunzehnjährig hergekommen war, um den mächtigsten Mann der Stadt zu verführen, waren verblasst. Niemand erinnerte sich mehr daran, kaum jemand wusste von der Affäre mit diesem Mann, Gustavos Vater, die ihr größter Triumph gewesen war. Marike, ihre letzte Verbindung nach Nam Van, war den Flammen übergeben worden. Es war Zeit für sie, auf ihren hübschen Hof bei Geest zurückzukehren.

Es war vor allem Janne, gegen die sich Gustavos Wut richtete. Kurz nach der Bestattung stürmte er in ihr Zimmer und baute sich vor ihr auf. Gabriel saß auf dem Sofa neben seiner Großmutter. Er hatte ihr seine Bücher gezeigt, die alle von Weltumseglungen handelten und ähnliche Titel hatten: Allein um die Welt. Allein gegen den Wind. Zwischen Himmel und Meer.

»Was willst du hier noch?«, rief Gustavo. »Verschwinde!« Die Haare fielen ihm ins Gesicht, das Hemd war bis zur Brust aufgeknöpft.

»Ich habe gerade meine einzige Tochter verloren«, sagte Janne, »vielleicht hast du das vergessen. Ich würde gern noch ein paar Tage – «

»Ja und? Hau ab!«, unterbrach er. »Verschwinde aus meinem Leben! Ihr wollt euch hier auf meine Kosten ein schönes Leben machen, du und deine Schwester, aber ich will euch nicht mehr sehen. Ihr wollt euch einnisten.«

Da schien es wieder auf, dieses Talent, einzelne Wörter einzusetzen wie Waffen: Wrack, Einnisten. Gabriel sah seine Großmutter an. Janne, die selbst nicht gerade zimperlich war, wenn es um die Gefühle anderer ging, saß erstarrt da. Mit dieser Eiseskälte, die ihr entgegenströmte, hatte sie nicht gerechnet.

»Haut ab!«, brüllte Gustavo. »Wir – brauchen – euch – nicht!« Bei jedem Wort flog ihm der Speichel von den Lippen.

»Ich brauche euch nicht, und Gabriel braucht euch auch nicht«, rief er, »nächste Woche ist er wieder im Internat. In ein paar Monaten hat er die ganze Sache vergessen.«

Die ganze Sache vergessen. Gabriel sah seinen Vater angstvoll an, das hochrote Gesicht, die erhitzten Augen. Die Worte klangen in ihm nach. Vergessen, ja, das wäre eine Lösung. Eine einfache, wunderbare Lösung. Er begriff, wie falsch, wie gemein, ja, gefährlich sein Vater war. Alles an diesem Mann war falsch. Selbst seine Trauer war falsch. Nur die Adern an seinen Schläfen waren echt und glaubhaft, und es schien, als müssten sie jeden Augenblick platzen.

»Komm«, sagte Gustavo und winkte ihn zu sich. »Nimm deine Bücher und komm mit. Wir haben mit dieser Frau nichts mehr zu tun.«

Am nächsten Morgen ließ er ihre Zimmer sperren. Das Gepäck wurde in die Rezeption hinuntergebracht. Tovo, der verhindern wollte, dass sie in der Lobby eine Szene machen würden, versuchte einzugreifen. Er redete auf Janne ein, die aufgeregt mit dem Concierge diskutierte. »Ich kümmere mich, ich regele das«, sagte Tovo, schob sie in den Frühstückssaal und winkte eine Kellnerin heran. Dann trat er hinaus und fing unter dem Vordach Anna ab, die an den Hafen gegangen war, um den Fischern beim Ausladen zuzusehen. Es regnete in Strömen, der Rinnstein war zu einem kleinen, rauschenden Bach angeschwollen, das Wasser schwemmte den Müll von den weiter oben gelegenen Straßenständen fort, die Kadaver der Säger, die Schalen von Orangen, Erdnüssen und Krustentieren. Anna schob die Kapuze zurück, wischte sich über das ungeschminkte Gesicht und ließ sich auf ein Sofa fallen. Das Wasser, das von ihrem Regenmantel rann, färbte den Seidenbezug dunkelgrün, beinahe schwarz.

»Ich akzeptiere das«, sagte sie, als sich Tovo hingesetzt hatte. Sie nahm seine Hand. »Ich füge mich. Wir sind im Majestic nicht mehr erwünscht. Aber ich muss dir etwas Wichtiges sagen, bevor ich abreise.«

»Was denn?«

»Tovo, euer Vater ist schuld, dass sie gesprungen ist, euer Vater allein. Er hat sie in den Tod getrieben. Er hat sie umgebracht.«

In diesen Sätzen lag eine Schärfe, beinahe eine Kaltherzigkeit, die Tovo kaum mit dem Bild der geliebten Tante in Einklang bringen konnte. Zugleich begriff er, dass Anna keine Wahl hatte. Sie nutzte diese letzte Chance, um ihm die Wahrheit zu sagen, von Angesicht zu Angesicht. Sie fiel aus ihrer eigenen Rolle, weil sie keine Zeit hatte, behutsamer vorzugehen. Es ging um Leben und Tod. Sie spürte die Dringlichkeit und handelte.

Die Nachricht traf Tovo mit voller Härte, er war in einer Weise erschüttert, von der er sich nie erholen sollte. Der Vater ist an ihrem Tod schuld. Gustavo hat sie umgebracht. Gustavo hat sie hinuntergestoßen. Seine Mutter, das Wrack. Es klang beinahe, als wäre Gustavo selbst zum Hafen gegangen, um ihr das Seil zu besorgen.

Anna hatte noch eine Woche vor ihrem Tod einen Brief von Marike erhalten. Sie stehe am Abgrund, schrieb sie. Sie könne mit diesem Mann nicht leben, er behandele sie wie Dreck. Er sei grausam. Er habe ihr Dinge an den Kopf geworfen, die sie nie vergessen werde.

Der Brief war ein Hilferuf, Marike konnte nicht mehr. Zugleich war sie nicht in der Lage, sich selbst aus dieser Situation zu befreien. Sie war zu schwach, um sich zu retten. Sie brauchte ihren Arzt, seine freundliche Zugewandtheit und das Laudanum, das er verschrieb. Sie hatte einfach nicht die Kraft, aufzustehen und den Koffer zu packen und das goldene Hotel, das ihre ganze Welt war, zu verlassen.

Anna machte sich Vorwürfe, nicht schnell genug reagiert zu haben. Sie hätte sich sofort ins Flugzeug setzen müssen. Sie hätte Marike holen müssen, um sie zu retten. Tovo war alt genug, aber Gabriel hätte sie mitnehmen und auf ihrem Hof bei Geest unterbringen können. Aber sie zögerte, sie überlegte und entwarf eine Antwort. Sie war zu vorsichtig. Dann war es zu spät.

»Du musst es Gabriel erzählen«, sagte Anna. »Später. Wenn du dir sicher bist, dass er damit umgehen kann.«

Als Tovo seinem Bruder von diesem Gespräch und dem Brief erzählte, begriff Gabriel, dass es nur eine Frage von Tagen gewesen war. Wenn er damals nicht im Internat gewesen wäre, hätte das Leben seiner Mutter eine andere Wendung genommen. Und seines auch. Sie wären zusammen nach Geest geflohen. Vor diesem Mann, vor dieser Stadt und allem, was mit dieser Stadt zusammenhing. Sie hätten in Annas großzügigem, strohgedecktem Bauernhaus gewohnt. Gabriel hätte eine normale Schule besucht und neue Freunde gefunden. Marike hätte gelebt, vielleicht sogar so etwas wie Glück gefunden. Er fragt sich, ob dieser schwelende, vorauseilende Gedanke dazu geführt hatte, dass er die Nachricht von ihrem Tod nicht an sich herangelassen hatte, damals, in der kleinen, nach Myrrhe riechenden Bibliothek im Internat. Seine einzige Sorge war gewesen, dass er die Reise nach Geest nicht würde antreten können. Die Reise, auf die er sich so gefreut hatte, war wie eine Insel des Bewusstseins, die ein paar Meter aus dem Ozean herausragt. Unter der Wasseroberfläche war dieser Sockel, dieser riesige, in die Schwärze der Tiefsee hineinragende Berg, die Möglichkeit, mit seiner Mutter in Geest ein neues Leben zu beginnen.

Gabriel konnte sich weder von Anna noch von Janne verabschieden. Er weiß nicht mehr, wo er damals war. Er fuhr in diesen ersten Tagen viel allein durch die Stadt, im Hof standen immer Bäckerräder bereit, er weiß gar nicht, ob es die noch gibt. Über dem kleinen Vorderrad war ein massiver Gepäckträger, auf dem eine Holzkiste befestigt war, mit einem Ledergurt, einem richtigen Gürtel. Er ging in die Küche oder in die Hauswirtschaft und fragte, ob sie etwas bräuchten, dann nahm er eins dieser schwarzen Räder und fuhr auf die Märkte, zu den Ständen in den Gassen und Hinterhöfen des Hafenviertels, die eine ganz bestimmte Art von Bockshornwurzel verkauften oder getrockneten Bombay Duck oder eine importierte Messingpolitur. Und selbst in den kleinsten Läden brauchte er nicht zu bezahlen, es lief alles auf Rechnung, das Majestic war eine Institution, der man in der ganzen Stadt vertraute. Jeder kannte ihn, jeder kannte die Familie, deren goldenes Hotel wie ein Wahrzeichen über Altstadt und Hafen stand.

Einige Tage nach der Bestattung, als er von einer dieser Touren zurückkehrte, waren Anna und Janne weg. Was würde jetzt geschehen – mit ihm, mit der Familie? Niemand antwortete ihm, nicht einmal Tovo, der sich bereits auf seine neue Rolle vorbereitete, den Sprung ins Leben, von dem er träumte. Von dem Gespräch, das Anna damals mit Tovo geführt hatte, erfuhr Gabriel erst Wochen später, und es dauerte Jahre, bis er den Brief in Händen hielt, ihren Hilferuf, der für immer unbeantwortet geblieben war.

Ein paar Tage nach dem Rauswurf sprach sein Vater plötzlich nicht mehr davon, dass Marike gesprungen war. Es war, als hätte er es damals in der kleinen Bibliothek nie behauptet. Er erklärte nun, es sei ein Unfall gewesen, sie sei wohl irgendwie ausgerutscht, hängen geblieben, möglicherweise bei dem Versuch, sich den geschwollenen Halswirbel einzurenken. Es war völlig unklar, was er sich vorstellte, es ergab überhaupt keinen Sinn. Dabei hatte er sie selbst vom Seil geschnitten, er hatte die Schlinge gelöst, und er besaß eine Kopie des Polizeiberichts.

Dort wo ihr Absatz einen drei Fuß langen Streifen hinterlassen hatte, ließ er die Wand neu tapezieren. Er ließ beinahe die gesamte Wohnung renovieren. Als Gabriel zum Ende des Schuljahrs nach Hause kam, war alles anders, farbiger und gleichzeitig heller, sehr modern. Die Drachenmaske war verschwunden, und ihre Sachen waren fortgeräumt, nichts war von ihr übrig, es gab kein Bild, keine Erinnerungsstücke. Es war, als hätte sie nie existiert.