18 · Dita

Julia schaltete die Scheibenwischer ein, der Staub lag über Punta de los Reyes wie Nebel. Der Zitronengeruch des Wischwassers drang mit der eisigen Luft der Klimaanlage in den Wagen. Sie folgten den Schildern, fanden den Parkplatz am Ende der Piste und stiegen aus.

Trockene Hitze schlug ihnen entgegen. Julia, die eine Stofftasche voller Gemüse und Kräuter über der nackten Schulter trug, schritt in die sandigen, mit Lorbeer bestandenen Hügel voran. Sie glitt über den schmalen Pfad, der Pferdeschwanz, den sie sich auf dem Parkplatz gebunden hatte, wippte. Nach dem ersten Anstieg bildete sich auf ihrem Rücken ein dunkler Fleck, der sich langsam ausbreitete. Die Luft wurde klarer, nach einer Viertelstunde wehte ihnen vom Meer her eine leichte Brise entgegen. Sie durchquerten eine wogende Dünenlandschaft, in der sich nur wenige Sträucher hielten. Benedita bewunderte den schlanken, durchtrainierten Körper ihrer Mutter, sie fühlte sich schwerfällig und müde. Sie wäre lieber bei Rita in der Stadt geblieben. Sie hätte es sich in dem schattigen Garten gemütlich machen, Ritas selbstgemachte Limonade trinken können. Sie kannte ihre Cousine Leslie kaum, es war Jahre her, dass sie mit Rita in Nam Van zu Besuch gewesen war.

Sie erklommen die letzte große Düne, der Wind stieß ihnen entgegen und zerrte an ihren Haaren. Benedita hielt sich die Hand über die Augen, blinzelte gegen die silberne Brandung, die donnernd und tosend den breiten Strand heraufrollte. Winzige Strandläufer flitzten auf und ab, Gischt sprühte auf und zog landeinwärts. Benedita leckte sich die Lippen, sie schmeckte Salz und Algen, Julu und Hoi Dai, das in Nam Van in beinahe jeder Suppe schwamm. Die riesigen, beinahe schwarzen Algenstränge lagen im Sand wie das abgeschnittene Haar eines Giganten. Links verlor sich der Strand in der Ferne, das Kap, hinter dem sich die mächtige Hängebrücke, die Einfahrt in die Bucht von Miwoki und die Stadt Serena verbargen, schwebte über dem Horizont wie eine Fata Morgana. Rechts, in einiger Entfernung, durchschnitt eine helle, etwa dreißig Meter hohe Klippe den Strand und ragte wie ein Bug ins Meer. An der Spitze flatterte an einem Fahnenmast eine schwarz-goldene Flagge. Lascabanes.

Sie streiften die Schuhe ab, Benedita nahm Julias Hand und rannte mit ihr die Düne hinab. Sie schlitterten und lachten, und als sie unten waren, löste sich Benedita von ihrer Mutter und ließ sich fallen. Der Sand, weiß wie Salz, klebte an ihrer von der feinen Gischt benetzten Haut. Sie schloss die Augen, atmete das Meer ein, das tief bis in ihre Lungenspitzen drang, und drückte den Nacken in den warmen Sand.

Lascabanes, das sich als Republik bezeichnete, war zum Land hin durch ein militärisches Sperrgebiet abgeschnitten, der einzige Weg führte über den Strand und eine schmale, in die Klippen gehauene Treppe. Als sie sich näherten, entdeckten sie oben an der Kante eine Gruppe von jungen Leuten, die mit baumelnden Füßen in der Sonne saßen. Julia winkte mit den Armen wie eine Schiffbrüchige. Eine Frau löste sich aus der Gruppe, stieg leichtfüßig die Treppe hinab, übersprang die letzten Stufen, Sand spritzte auf, als sie landete. Sie trug eine kurze Latzhose, ihre Nase und Wangen waren von Sommersprossen übersät, das rotblonde Haar war mit bunten Bändern zu einem dicken Zopf zusammengefasst.

»Das ist sie«, sagte Julia. »Erkennst du sie wieder?« Benedita schüttelte unschlüssig den Kopf.

»Hey, hey, herzlich willkommen!«, rief Leslie und kam ihnen entgegen. Sie fiel Julia um den Hals. »Und du? Dita? Unglaublich! Du warst fünf oder sechs, als ich dich das letzte Mal gesehen habe!« Bevor sie antworten konnte, legte Leslie ihr die Hände auf die Schultern und zog sie an sich. Benedita fühlte sich weich und willenlos, die Berührung tat ihr gut.

Julia gab Leslie die Tasche mit Ritas Gemüse. Benedita sagte kein Wort und stieg hinter ihrer Cousine die Treppe hinauf.

»Schaut mal, wie nah das Wasser kommt«, sagte Leslie, ohne sich umzudrehen. »Bei Springflut sind wir abgeschnitten, dann kommt man ohne Boot gar nicht bis hier hinauf.«

Die Siedlung bestand aus etwa fünfzig winzigen, mit einem Gewirr von Kabeln verbundenen Hütten, die auf dem sandigen Plateau herumlagen wie achtlos hingeworfene Bauklötze. Sie konzentrierten sich um eine verwitterte Holzvilla auf der Landseite, am Ausläufer des Hügels, auf dessen Grat ein hoher, metallisch blitzender Zaun zu sehen war. Der Militärzaun schien robuster und stabiler als alles, was sich auf dem darunterliegenden Gelände befand. Neben der Villa stand ein Aussichtsturm, eine Antenne vielleicht, die wirkte, als wäre sie gegen den Rat eines Statikers mehrfach erweitert worden. Benedita malte sich aus, wie die weit ausragenden Holzplanken der improvisierten Plattformen eine nach der anderen im Sturm fortgerissen würden, wie sie herumflögen, um wie Lanzen in die Pappdächer der Hütten zu stoßen und ihre Bewohner im Schlaf aufzuspießen.

In Richtung der Flagge, die sie beim Abstieg von der Düne entdeckt hatten und die den Bug der schiffsartigen Landzunge bezeichnete, wurde die Bebauung dünner, hier, auf der dem Wind und dem Wetter ausgesetzten Seite, standen nur noch wenige verstreute Schuppen, dazu einige Zelte. Das kurze, hellgrüne Dünengras wirkte wie gekämmt, ein gewundener Trampelpfad führte bis an die Spitze. Hier und dort waren die weißen Markierungen eines Fußballplatzes zu sehen.

Leslie winkte ihren Freunden zu und führte ihren Besuch zu der dreistöckigen Villa, an deren Fassade Benedita die Reste eines alten, violettfarbenen Anstrichs entdeckte. Drei Stufen führten zur Veranda hinauf, Seile hielten eine im Wind schwingende, mit bunten Kissen ausgestattete Bank.

Sie traten ins Haus. Im Flur standen in einer Reihe mehrere Stromgeneratoren und Batterien, Kabel sprießten heraus, wurden über den Boden geführt und schlängelten sich durch eine Öffnung in der Wand, wo sich eine kleine Sandwehe gebildet hatte. Leslie stellte die Tasche an der Küchentür ab. Benedita sah, dass sich auch an der Treppe, und beinahe in allen Ecken des Flurs, winzige Sanddünen angesammelt hatten. Sie stiegen in die zweite Etage hinauf und traten in Leslies Büro. Das Sonnenlicht drang durch die orangefarbenen Vorhänge, Bücher und Papiere stapelten sich in den Regalen und türmten sich auf dem Schreibtisch.

Benedita ging zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Die tief über dem Meer stehende Sonne blendete sie, sie kniff die Augen zusammen. Alles wirkte fremd und verzerrt und ein wenig zu bunt, wie in einem Traum. Es war, als wäre sie auf einem fernen Planeten gelandet, als müsste sie die Himmelskörper neu sortieren. Was werden die Archäologen der Zukunft denken, wenn sie das hier entdecken?, dachte sie. Was werden sie über die Menschheit erfahren, wenn sie diese Siedlung finden, die Bücher und Generatoren, und die Gebeine ihrer Bewohner?

»Wer wohnt hier eigentlich, ich meine, außer dir?«, fragte Julia. »Was sind das für Leute?«

»Anfangs waren es vor allem die Seeohrtaucher«, sagte Leslie und füllte Wasser in die Kaffeemaschine. »Setzt euch doch.« Sie zeigte auf die Stühle, die in einem lockeren Halbkreis an ihrem Schreibtisch standen.

»Seeohrtaucher?«

»Auf der anderen Seite sind Steinklippen«, erklärte sie, »schwarze Felsen, die weit ins Meer hinausreichen. Inzwischen tauchen hier die Kinder dieser Pioniere, sogar die Enkelkinder. Muschel- und Algenfischer sind hinzugekommen, Austern gibt’s hier auch. Wir haben auch ein paar Sondelsucher und Treibgutsammler. Sie finden Netzschwimmer aus grünem Glas, die der Wind von eurer Seite herübergetrieben hat, sie finden ausgebleichte Baumstämme, die eine jahrzehntelange Reise über den Ozean hinter sich haben, und manchmal sogar eine Flaschenpost.«

»Und du?«, fragte Benedita. »Was machst du?«

»Leslie ist die heimliche Chefin hier«, sagte Julia. »Hat Rita gesagt.«

»Stimmt das?«, fragte Benedita.

Es stimmte insoweit, als Leslie das öffentliche Gesicht von Lascabanes und seine unermüdliche Fürsprecherin war. Sie kümmerte sich nicht nur um die Stromversorgung, sie betrieb in der Villa auch eine kleine Pension, wodurch sie mehr Kontakt zur Außenwelt hatte als alle anderen. Sie organisierte die Entscheidungsprozesse der Bewohner, lud zu Versammlungen ein und beantwortete die gelegentlichen Fragen von Journalisten. Hin und wieder nahm sie Termine in der Stadt wahr. Sie sprach mit den Behörden und dem Anwalt des Militärs, das auf der anderen Seite des Zauns das Sagen hatte. Sie trug die Interessen der Republik vor und bemühte sich um Ausgleich. Je weniger sie in dieser Rolle auffiel und je weniger sie zu tun hatte, desto besser ging es der Siedlung und ihren Bewohnern. So gesehen war sie das genaue Gegenteil von Gabriel, der sich immer um Veränderung bemühte, der die Stadt voranbringen wollte und auch den Konflikt mit den verschiedenen Lagern nicht scheute. Gabriel war Politiker, ein Mann mit einem gewissen Drang zur Macht und den entsprechenden Eitelkeiten. Leslie war Diplomatin und damit genau die Anführerin, die Lascabanes brauchte. Es dauerte nicht lange, bis Benedita begriff, dass Leslie und diese winzige Republik auch genau das waren, was sie selbst gerade brauchte.