19 · Gabriel

Er betrachtet seine knochigen, verhornten Füße, die krummen Zehen. Es sind die geschundenen Füße eines alten Mannes. Jeder Mensch hat etwas, das ihm anzeigt, wie er altern wird. Seine Füße sind ein Ausblick auf das, was ihn erwartet. Es sind die Füße seines Vaters, die er nur ein paar Mal in seinem Leben gesehen hat, bei Familienfesten am Pool, niemals in der Wohnung. Einmal, nach einem seiner ersten längeren Törns, besuchte ihn Gustavo auf der Stardust. Nur widerwillig ließ er seine rotbraunen Derbys auf dem Steg stehen. Sie saßen im Cockpit, tranken Sherry und sahen sich an wie Fremde. Gabriel senkte den Blick und betrachtete die Füße seines Vaters.

Jetzt steht er auf dem Dach der Jasmin, diesem unmöglichen, elefantenhaften Schiff, dass es eigentlich gar nicht geben dürfte, und sieht von oben auf den schmalen Gang, der den Aufbau von der Bordwand trennt. Benedita liegt auf dem Bauch und streckt die Hand nach dem Wasser aus, als könnte sie die Oberfläche berühren.

»Können wir schwimmen gehen?«, ruft sie.

»Mitten in der Nacht?«

»Warum nicht?«

»Wir müssten die Schlepper benachrichtigen und das Schiff anhalten.«

»Komm schon, du Seebär.«

»Hier gibt’s Haie!«

»Angsthase!«

Tatsächlich ist das Wasser an dieser Stelle Tausende Meter tief, es gibt Orcas und Rochen mit sechs, sieben Meter breiten Schwingen, dazu Seeungeheuer, Meeresdrachen und gigantische Kalmare, die nur darauf warten, den einsamen Segler in die Tiefe zu ziehen. Seeleute, besonders Einhandsegler, respektieren diese Kräfte, sie überleben nur, wenn sie Ehrfurcht vor der Tiefe und ihren Bewohnern haben, vor den Welten unter dem Kiel, die noch niemand gesehen und die noch niemand betreten hat.

Gabriel ist bei seinen Reisen nie ein Risiko eingegangen. Er hat seine Etappen minutiös vorbereitet. Er hat an Bord nicht getrunken, und er war beinahe immer gesichert. Die Stardust war über die gesamte Länge mit Strecktauen ausgerüstet, in die er sich einklinkte, wenn er auf dem Deck zu tun hatte. Wenn auf der südlichen Route meterhohe, eisige Brecher über das Schiff spülten, saß er angegurtet im Cockpit, er behielt die Fock im Auge, pisste sich in die Regenhose und wartete stunden- oder tagelang, bis sich der Sturm legte oder der Schlaf ihn erlöste. Manchmal schien die Sonne, wenn er aufwachte, manchmal hing er in seinem Lifebelt, dessen Leine sich um die Steuersäule gewickelt hatte, und wusste nicht, wo oben und wo unten war.

Wenn er nach Wochen, in denen er nicht ein einziges Mal austrocknete, weil immer wieder neue Stürme, immer wieder neue Wellen und Regenstürze über ihn hereinbrachen, in eine kleine, geschützte Bucht einlief und den Anker warf, war er wie gelähmt. Er ließ sich auf die Achterbank fallen, hielt das Gesicht in die Sonne und rührte sich nicht. Er war fassungslos über das Leben, das er führte, fassungslos über seine eigenen Entscheidungen. Er zog die nasse Kleidung nicht aus, er aß nichts, er schaltete den Seefunk nicht ein. Erst nach einer halben Stunde oder mehr zog er die Stiefel aus, schälte sich Anzug und Wäsche vom Leib und hängte sie zum Trocknen über den Baum. Dann stellte er sich nackt ans Heck, stieß einen kurzen, heftigen Schrei aus und sprang ins Wasser.

Falterfische warteten auf ihn, Borstenzähner und in allen Farben schillernde Barsche, knapp über dem Grund schlängelten meterlange Gelbmuränen. Er ließ sich treiben und verbündete sich mit all diesen Wesen, als hätte er seinen Kampf gegen das Wasser, aus dem er siegreich hervorgegangen war, mit ihnen gemeinsam geführt. Seht her, es gibt uns noch! Wir sind noch da!

Schließlich meldete sich der Hunger, den er tagelang unterdrückt hatte, und das Gewissen, weil in Nam Van seit Wochen niemand von ihm gehört hatte. Er stieg die Badeleiter hinauf und erledigte, was zu erledigen war. Er gab seine Koordinaten durch, klappte den Kocher auf und öffnete eine Dose. Der Geruch von Rindfleisch, Daikon und Ingwer schlug ihm entgegen. Er füllte Wasser in einen Topf, stellte die Dose hinein und wärmte sie auf. Nach ein paar Löffeln konnte er nicht mehr, er würgte, der Körper weigerte sich, den fremden Stoff aufzunehmen.

In einer bei Langzeitseglern beliebten Lagune in der Nähe des zweiunddreißigsten Breitengrads schlief er sechzehn Stunden lang, bis ihn ein Babyschrei weckte. Es war der seltsame, verstörende Gesang eines Sturmvogels, der auf seiner Luke herumkratzte. Am Abend paddelte er an den Strand von Akamaru und ließ sich von einem Einheimischen, der dort einen Schwenkgrill aufgebaut hatte, einen Papageifisch zubereiten, der ihm mit Reis und Chiliöl auf einem Bananenblatt serviert wurde. Gabriel setzte sich in den Sand, betrachtete zufrieden sein Boot in der Lagune und aß mit den Fingern. Nach ein paar Minuten war er fertig. Er war so ausgehungert, dass er noch zwei oder drei dieser Fische hätte essen können. Doch dann verlangte der Mann einen Preis, der höher war als alles, was die Karte der Jasmin und selbst die teuersten Restaurants von Laguna anboten. Gabriel dachte, er hätte nicht richtig gehört. Der Mann erklärte, dass in der Lagune Algen blühten, die die Fische, die sie verzehrten, ungenießbar machten. Der Papageifisch, den Gabriel verschlungen hatte, während das Wasser der Lagune seine krummen, schon damals geschundenen Zehen leckte, war aus hundert Meilen Entfernung mit einem Sportflieger hergebracht worden.