20 · Dita

Benedita fühlte sich in Lascabanes vom ersten Augenblick an wohl. Sie liebte den Blick auf den Strand, die Gischt in der Ferne, die sich auf die Hügel legte, die winzigen Segelboote am Horizont. Sie liebte die warme, trockene Luft, die durch die Villa zog und die Stromkabel zum Singen brachte.

»Kann ich hierbleiben? Ich meine, bis zum Ende der Ferien?« Sie sah ihre Mutter an, dann ihre Cousine.

»Was meinst du, Leslie? Wärst du einverstanden?«, fragte Julia, die keineswegs überrascht schien.

»Warum nicht? Na klar! Das ist eine wunderbare Idee. Wir finden ein Plätzchen für dich.«

»Na gut«, sagte Julia, und es klang beinahe, als wäre sie erleichtert, dass sie die nächsten zwei Wochen nicht mit ihrer Tochter verbringen musste.

»Dann kommt mal mit«, sagte Leslie.

Sie gingen hinunter. Vor der Villa hakte sie sich bei Benedita unter und zog sie mit. Julia folgte. Die Gästehütte bestand aus einem einzigen Raum. Eine Wand war mit einem Mosaik aus Muscheln beklebt. Auf dem Boden lag eine Strohmatte, daneben stand eine hölzerne Seekiste. In den Ecken staute sich der Sand. Eine Lampe steckte in einer Steckerleiste, das Kabel verschwand in der Wand. »Es ist nicht viel«, sagte Leslie, »aber du kannst dich überall bewegen. Du kommst in die Villa, wenn du willst, die ganze Siedlung steht dir offen. Zum Essen kommst du zu mir. Fühl dich einfach wie zu Hause.«

Leslie musste versprechen, auf Benedita aufzupassen. Sie solle dafür sorgen, dass sie ordentlich aß, dass sie nicht zu viel trank, dass sie sich die Jungs vom Leib hielt. Benedita fand das einigermaßen lächerlich, es wirkte wie ein seltsamer Rückschritt, ein Reflex. Es war offensichtlich, dass sowohl die vierundzwanzigjährige Leslie als auch Benedita selbst reifer und verantwortungsbewusster waren als Julia. Benedita wusste, dass Julia das nicht anders sah. Ihre Mutter hatte selbst längst begriffen, dass sie unfähig war, Verantwortung zu übernehmen, weshalb sie sich mit ihrer Rolle in Nam Van nie hatte anfreunden können, weshalb sie auch für Tovo damals wenig hatte tun können.

Auf der Reise hatte sie ihrer Tochter die meisten Entscheidungen überlassen, sie schien froh zu sein, wenn sie sich Beneditas Wünschen unterordnen konnte. Vermutlich auch deshalb, weil sie wusste, dass Benedita dieses Vertrauen eingefordert hätte, wenn Julia es ihr nicht freiwillig geschenkt hätte. Schließlich war sie es gewesen, die Julia im Flugzeug beschützt und getröstet hatte.

Julia kehrte zu ihrer Schwester in die Stadt zurück. Benedita richtete sich in Lascabanes ein, als wollte sie Monate oder Jahre bleiben. Leslie versorgte sie mit allem, sie kochte für sie, stellte sie ihren Freunden vor und gab ihr Bücher zum Lesen. Aus einem Schrank in der Villa, die als Tauschbörse für die Siedlung diente, nahm sich Benedita, was sie brauchte: eine leichte Decke, zwei luftige Kleider, einen breitkrempigen Strohhut. Sie hängte ihren Hosenanzug an einen Nagel, stattete die Hütte aus und vergaß ihre Mutter. Sie vergaß Nam Van und alles, was sie mit Nam Van verband, nur die Stille zählte, das Salz auf ihren Lippen, der leise Wind, die fernen Stimmen der anderen Bewohner.

Wenn am Abend für einige Stunden der Strom angestellt wurde, las sie die Bücher, die Leslie ihr gegeben hatte. Sie handelten vom Kosmos, von der Natur, den Gezeiten, den Erdverwerfungen und den Sternen. Mit dem Buch auf der Brust schlief sie ein, und wenn sie nachts aufwachte, trat sie hinaus, sah auf den Strand und das weite Meer, und dann wurde ihr wieder klar, dass auf der anderen Seite dieses riesigen Ozeans ihr Zuhause war, und dass es Gabriel gewesen war, der die Verbindung geschaffen hatte, Gabriel, der mit der ersten Stardust tief gebräunt und erschöpft im Hafen von Miwoki eingelaufen war, wo er die Kellnerin Julia kennengelernt hatte.

Leslie servierte für Benedita, für ihre Freunde und Pensionsgäste ein üppiges Frühstück. Benedita sah ihren Tischnachbarn an, seine Arme und Schultern waren voller Kratzer und kleiner Wunden. Sie zeigte darauf und fragte, was es damit auf sich habe, und er erklärte, er sei Austernfischer, er würde den ganzen Tag auf den scharfen Felsen herumklettern, Austern und Fechterschnecken sammeln.

»Hast du schon mal eine Perle gefunden?«

»Jeden Tag. Ich mache mir nichts aus ihnen, die Welt ist voller Perlen. Hast du schon mal Schnecken gegessen?«

»Nein.«

Der Mann stellte sich vor, er hieß Noah. Er fragte, was sie nach Lascabanes verschlagen habe.

»Leslie ist meine Cousine«, antwortete Benedita.

»Eigentlich ein bisschen mehr«, warf Leslie ein, die gerade Kaffee ausschenkte. »Unsere Mütter sind nämlich Zwillingsschwestern.«

»Die allerdings nicht wissen, ob sie denselben Vater haben«, sagte Benedita und lachte.

»Aber wie ist das möglich?«, fragte Noah.

»Denk mal nach«, sagte Leslie.

Als die Gäste weg waren, setzte sich Leslie zu ihr. Sie fragte Benedita über das Leben in Nam Van aus.

»Wer kümmert sich eigentlich um dich?«

»Meine Mutter?«

»Deine Mutter? Julia? Sag mal ehrlich. Wer kümmert sich um dich?«

»Eigentlich niemand. Wenn ich etwas brauche, gehe ich zu Gabriel, oder ich hole es mir selbst aus dem Hotel.«

»Und wer redet mit dir?«

Benedita zuckte mit den Achseln, stand auf und begann, den Tisch abzuräumen.

»Manchmal rede ich mit Ricardo«, sagte sie. »Unser Fahrer. Er mag mich.«

Sie spülten und räumten die Küche auf, und plötzlich fragte Leslie, was gewesen wäre, wenn nicht Julia, sondern Rita an jenem Tag die Schicht im Hafenrestaurant in Miwoki übernommen hätte. Hätte Gabriel Rita die Koje angeboten?

»Und wenn er es getan hätte?«, fragte Benedita. »Hätte deine Mutter Gabriels Angebot angenommen? Wäre sie mit ihm nach Nam Van gesegelt?«

»Schon möglich«, sagte Leslie.

»Hat Rita denn auch Angst vorm Fliegen?«

»Nein. Warum?«

»Ich glaube, Julia wollte die Welt sehen, aber sie hatte Angst, in ein Flugzeug zu steigen«, sagte Benedita. »Das ist der Grund, warum sie an Bord gegangen ist.«

»Glaubst du? Der einzige Grund? Gabriel ist ein beeindruckender Mann. Er muss damals ziemlich gut ausgesehen haben.«

»Ich glaube, sie hat überhaupt nicht nachgedacht.«

»Wie meinst du das?«, fragte Leslie.

»Mag sein, dass sie ihn attraktiv fand. Aber ich glaube, sie hat einfach die Gelegenheit wahrgenommen, die sich ihr bot. Sie war ziemlich unbekümmert, was auch ihr gutes Recht war damals, als sie keine Kinder hatte und niemandem etwas schuldete. Heute ist das natürlich anders.«

Benedita trocknete den letzten Teller ab und stellte ihn in den Schrank. Wenn die Zwillingsschwestern die Rollen getauscht hätten, dachte sie, würde es sie selbst in einer anderen Form geben. Sie wären Mischwesen: Benedita-und-Leslie, Leslie-und-Benedita, Mädchen, die weder hierhin noch dorthin gehörten, verbunden nur mit dem Element, das alle Unterscheidungen verwischt. Vielleicht hätte sie ein paar von Leslies Sommersprossen abbekommen. Ein oder zwei von diesen Konstellationen, das würde ihr gefallen, das Kreuz des Südens auf ihrer Wange, Orion auf der nördlichen Nasenseite.

Als sie über den gewundenen Trampelpfad zu ihrer Hütte zurückkehrte, zogen drei mächtige Kondore ihre Kreise über der Landzunge. Ihr fielen die Säger von Nam Van ein, die bunten, verwilderten Tiere, die sich mit ihren langen Schnäbeln und gebrochenen Flügeln über Bürgersteige schleppten, um sich in Hauseingängen, unter Treppen und im Schatten von Müllcontainern zu verstecken, und sie spann den Gedanken der vertauschten Zwillinge noch ein wenig weiter. Was wäre geschehen, wenn es nicht Julia, sondern Rita gewesen wäre, die Tovo in den Jahren, in denen sich das gesellschaftliche Leben von Nam Van mit all seinen Schattenseiten und Anzüglichkeiten um ihn, den Eigentümer der Jasmin, zu drehen schien, an sich gebunden hätte? Was wäre aus dem Impresario dieses gastronomischen Karnevals geworden, zu dem er sich stilisiert hatte? Hätte sie ihn davor bewahrt, sich selbst zu zerstören?