22 · Dita

In der Nacht kühlt es deutlich ab. Die Luft schmeckt anders, feiner als in Nam Van, die Sternbilder sind ungewohnt, die Schreie der Möwen sind weniger rau. In der Öltonne prasselt ein Feuer, sie sitzen auf dem Sand, auf Strandliegen und Holzstämmen. Flaschen und Joints werden herumgereicht, aus einer Boombox kommt Musik. Später liegt Benedita auf einer Matte, den Kopf im Schoß eines Jungen, der ihr immer und immer wieder die Haare aus der Stirn streicht. Beto ist ein Jahr älter als sie.

»Hör auf damit«, sagt sie, als sie es nicht mehr aushält. »Küss mich lieber.«

Sie küssen sich, lange und leidenschaftlich. Er liegt jetzt neben ihr auf dem Bauch und stützt sich auf.

»Au«, sagt sie, als ihre Zähne aneinanderstoßen.

»Tut mir leid«, sagt er und schiebt vorsichtig die Hand unter ihren Pulli.

»Nicht«, sagt sie, und Beto zieht die Hand sofort zurück.

»Ich meine, nicht jetzt.« Sie umarmt ihn mit geschlossenen Augen, zieht ihn zu sich herab, spürt den warmen Körper auf ihrer trockenen, salzigen Haut. Sie ist dankbar für Lascabanes, dankbar für diese Nacht, dankbar für Beto.

Am Morgen steht Benedita im Wasser. Sie breitet die Arme aus und lässt sich fallen. Eine Welle türmt sich auf und bricht, Benedita wird auf den Sand gedrückt und mitgerissen. Da ist es wieder, dieses Gefühl der Willenlosigkeit, das sie erfüllt hat, als Leslie sie bei ihrer Ankunft in den Arm genommen hat. Ihr kräftiger Körper wird herumgewirbelt, ihr Geist lässt es geschehen. Sie ist eine ausgezeichnete Schwimmerin, das Wasser ist ihr Element, aber sie hat nicht vor, sich dem gewaltigen Druck der Welle zu widersetzen, die über ihr zusammenstürzt. Sie erklärt sich einverstanden mit ihrem Schicksal, es wird alles seine Richtigkeit haben. Die Welt ist gut zu ihr. Warum sonst wäre sie hier? Warum sonst wäre sie aufgewacht an diesem Morgen, neben diesem Jungen, der sie so zärtlich, so vorsichtig und rücksichtsvoll berührt hat? Warum würde ihr das Schicksal gerade diesen Jungen zuspielen? Sie hat keine Angst. Sie wird herumgewirbelt, sie schlägt auf. Ihr ist schwindlig. Strandläufer, riesige Algenstränge, der Geruch von Julu und Hoi Dai. Sie liegt benommen im Sand und schließt die Augen.

Leslie, in der Küche, tupft ihr die Schürfungen an Schulter und Schläfe ab. Die rote Tinktur, die sie auf die Wunden tropft, brennt. Benedita, mit Tränen in den Augen, sieht ihre Cousine an. Sie ist dankbar für den Schmerz, der ihr durch die Nerven fließt wie glühendes Gold. Sie erkennt sich als Ganzes, ihren ganzen Körper, von Kopf bis Fuß. Alles kribbelt. So vollständig hat sie sich noch nie gespürt.

Benedita sieht über den Queue, peilt die weiße Kugel an, hebt den Blick, sieht hinaus aufs Meer.

»Ich halt es nicht aus, so schön ist das. Wie könnt ihr hier Billard spielen? Wie könnt ihr euch überhaupt darauf konzentrieren?«

»Du spielst ziemlich gut für dein Alter«, sagt die Frau.

»Ich bin in einem Hotel aufgewachsen.«

»Und?«

»In einem Hotel mit einem Billardtisch.«

Leslies wöchentliche Lieferung kommt. Das Boot fährt mit Tempo auf den Strand, der Motor wird im letzten Augenblick hochgeklappt. Benedita hilft beim Ausladen. Sie trägt Tüten, Kisten und Kartons, viermal läuft sie hinunter und klettert wieder hinauf. Am Ende sind ihre Beine puddingweich. Sie ist glücklich, dass sie sich nützlich machen kann.

Benedita hat das Gefühl, plötzlich erwachsen zu sein. Sie ist als Kind eingeschlafen und als Erwachsene aufgewacht. Eine Woche vergeht wie im Flug. Noah, der Austernfischer, fragt sie beim Frühstück, ob sie in Lascabanes bleiben wird.

»Vielleicht.«

»Ich habe eine Tochter in deinem Alter«, sagt er. »Sie kommt manchmal zu Besuch.« Benedita denkt: Ich will euch zu Menschenfischern machen.

Am Abend sucht sie die Stelle in der Bibel und liest. Dann liest sie die Geschichte von Noahs Arche. Zum ersten Mal begreift sie den Unterschied zwischen dem Neuen und dem Alten Testament. Zwischen dem gütigen und dem zornigen Gott. Man kann sich auf die Güte verlassen, wie man sich auf den Zorn verlassen kann, das gefällt ihr. In Nam Van, wie überhaupt in ihrem Leben, ist alles verwischt, sogar die Religion ist unklar. Qingtan und Heiligenverehrung, Badalamit und Teotónio, der Heilige, den die Vorfahren auf ihren Handelsschiffen mitgebracht haben, und nicht zu vergessen der Blasiussegen wegen der verdammten Gräten. Jedes Wesen, jeder Halbgott kann sich in sein Gegenteil verwandeln, jeder Heilige kann dich töten, die Zweigesichtigen und die Vielarmigen reißen ihre Tempel nieder und versammeln sich auf einer fliegenden Insel, die sie Olymp nennen, um sich gegenseitig mit Feuer zu bespeien. Das ist ihre Religion. So lernt sie es in der Schule. Madonna in der Mondsichel, Lucumí, Schanbrás und die Chimären, alles ist möglich, alles ist erlaubt, auch wenn die Crentes, die wahren Gläubigen, längst ausgestorben sind. Synkretismus nennen sie das, und sie sind stolz darauf, weil es selbst dann noch etwas zu feiern gibt, wenn sie längst mit einem Bein in der Hölle stehen. Zum Abendmahl gibt es Fisch.

Benedita sehnt sich nach etwas anderem. Sie will klare Verhältnisse, klare Farben, sie will nicht in einem Aquarell leben, in dem alles ineinanderläuft. Sie will wie die Tiere, die Noah in seine Arche einlädt, einer identifizierbaren Gattung angehören. Aber sie spürt doch, dass sie selbst in diesen verwaschenen Farben gemalt ist, sie ahnt, dass sie dem Undeutlichen und Unsicheren, das ihre Herkunft bestimmt, niemals wird entfliehen können. Keine Kategorie, keine Heimatzugehörigkeit bietet ihr Halt. Niemand zeigt ihr die Leiter, die in die Arche führt. Sie begreift jetzt, dass sie niemanden finden wird, der ihr sagt, wer sie ist und wem sie angehört. Es steht auch nicht in ihrem Pass, weder in dem einen noch in dem anderen. Denn sie ist nur sie selbst. Tochter eines Halbwesens und eines Mörders. Getauft in einem Hotelpool. Aufgewachsen in der grotesken Kulisse eines schwimmenden Restaurants. Geküsst auf dem Deck von Lascabanes. Nicht einmal Leslie, ihre Schwester, ihre große Schwester im Herzen, kann ihr sagen, wer sie ist.