24 · Dita

Die Stimmen von Meeressäugern, von Vögeln, Kraken und Seeungeheuern wurden von der Brise bis zur Villa getragen. Benedita, die am liebsten in Lascabanes geblieben wäre, hatte sich auf der Veranda der Villa von ihren neuen Freunden verabschiedet, nur Leslie begleitete sie hinunter zum Strand, wo Julia bereits wartete. Benedita hatte in der letzten Nacht nur wenig geschlafen, ihr Körper prickelte vor Müdigkeit, er prickelte von den Schläfen bis in die Zehenspitzen. Beto hatte um nichts gebeten, und sie hatte ihm nichts versprochen. Die Zeit in Lascabanes war wie ein einziger Tag gewesen, ein Tag und eine Nacht, sie hatte von Sonnenaufgang bis Sonnenaufgang unter diesen Menschen, die sie in den ersten Stunden schon in ihr Herz geschlossen hatte, geatmet und geliebt. Sie hatte freier geatmet als je zuvor. Es war, als wäre die Zeit außer Kraft gesetzt, alles schien gleichzeitig zu passieren. Sie alle – die Muschelfischer, die Künstler und Sondelsucher – waren wie eine große Familie, die sie aufgenommen hatten, als hätte sie immer schon dazugehört. Sie war nicht naiv, sie wusste, dass es in Lascabanes – wie in jeder Gemeinschaft und jeder Kommune – auch Spannungen gab, aber es war, als hätten sie all das für zwei Wochen zurückgestellt, um diesem Mädchen, das sie nicht einmal kannten, die beste Zeit seines Lebens zu bieten.

Es fiel ihr unendlich schwer, sich von Leslie zu verabschieden. Sie musste versprechen, eines Tages nach Nam Van zu kommen.

»Ich verspreche es dir.«

»Versprich nichts, was du nicht halten kannst. Du wirst Lascabanes nicht verlassen, nicht einmal für ein paar Wochen.«

»Aber Lascabanes ist ein Schiff!«, lachte Leslie. »Wir werfen die Leinen los und kommen. Die Strömung wird uns nach Nam Van treiben, direkt in euren Hafen.«

»Ganz bestimmt?«

»Klar. Es ist vorbestimmt. Selbst als Schiffbrüchige würde ich diesen Hafen finden.«

»Na gut. Die Touristen werden da sein, sie stehen jetzt schon auf der Mole und halten Ausschau.«

Benedita kamen die Tränen. Leslie nahm sie in den Arm und hielt sie fest.

»Wir müssen los, Dita«, sagte Julia unruhig. »Ich will nicht im Dunkeln durch die Dünen gehen.«

Auf der Fahrt in die Stadt erklärte Julia, dass sie nicht nach Nam Van zurückkehren werde, zumindest nicht vorerst. Sie wolle bei ihrer Schwester bleiben. Sie wolle ihr Leben neu ordnen, vielleicht könne sie noch einmal von vorn anfangen.

»Wie meinst du das?«, fragte Benedita.

»Ich habe vorgesprochen. Ich habe eine kleine Rolle in einem Film bekommen.«

»Und was ist mit mir?«

»Ich habe mit Gabriel telefoniert. Alle werden sich um dich kümmern.«

»Ich soll allein zurückfliegen? Ich soll allein in der Wohnung leben?«

»Nein, nur an den Wochenenden. Du gehst ins Internat, es ist ohnehin die beste Schule für dich. Du bist klug, dein Abschluss wird eine Menge wert sein. Nach drei Jahren bist du frei, dann kannst du die Welt erobern. Wirklich, dir wird alles offenstehen.«

»Und wer ist alle?«

»Wie meinst du das?«

»Alle werden sich um mich kümmern, hast du gesagt.«

»Na ja, Gabriel, Ricardo …«

»Aber Mama …«

»Was ist denn?«

Was sollte sein? Offenbar hatte ihre Mutter in dieser Zeit, die sie wie im Rausch verbracht hatte, ihr gesamtes Leben neu organisiert. Einfach so, ohne ihre Tochter zu fragen, die von dieser Entscheidung am meisten betroffen war. Julia hatte sich mit Gabriel verschworen, ihrem alten Liebhaber. Gegen sie. Gegen ihre eigene Tochter. Das war Verrat. Sie schickte ihre Tochter allein zurück, sie ließ sie im Stich, und Gabriel war ihr Komplize.

»Und was hast du noch so mit Gabriel besprochen?«, fragte Benedita. »Soll ich mir neue Freunde suchen? Soll ich mir die Haare abschneiden?«

»An den Wochenenden holt Ricardo dich ab«, sagte Julia, die den Sarkasmus ihrer Tochter nicht wahrgenommen hatte. »Ricardo hilft dir, er gibt dir, was du brauchst. Du kannst im Hotel wohnen oder bei Gabriel. Alle werden auf dich aufpassen, die ganze Belegschaft. Die meisten kennen dich, seit du zum ersten Mal aus dem Aufzug in die Lobby gekrabbelt bist. Das war ein Bild. Du hättest die Leute sehen sollen damals, die Gäste, die Angestellten …«

Benedita hätte am liebsten das Steuer gepackt und herumgerissen. Sie wollte ihrer Mutter ins Gesicht brüllen. Sie wollte sie an den Schultern packen, um sie zu schütteln. Wusste sie überhaupt, was sie da tat? Benedita hätte in Lascabanes bleiben können, wo sie sich akzeptiert und wertgeschätzt und geborgen fühlte. Sie mochte diesen Jungen. Scheiß auf die Schule. Scheiß auf Nam Van, auf die Jasmin und den beschissenen Synkretismus. Diú! Sie hätte sich irgendwie durchgeboxt. Was fiel Julia ein, sich so über ihr Leben und ihr Glück zu erheben?

Benedita saß da, die gelbe Tunnelbeleuchtung flackerte über das Armaturenbrett, und bereute es zutiefst, in dieses Auto gestiegen zu sein. Es war wie ein Stich, ein reißender Schmerz unter ihrem Herzen. Sie wollte den Degen herausziehen, aber sie wusste, dass sie dann verbluten würde.

»Bring mich zurück.«

»Wie meinst du das?«

»Bring mich zurück nach Lascabanes!«

»Wie stellst du dir das vor?«

Benedita schwieg. Sie schwieg, bis die berühmte Hängebrücke im Flutlicht vor ihnen aufragte.

»Du hast Angst vor dem Flug«, sagte Benedita schließlich.

»Mag sein«, sagte Julia.

Letztendlich ärgerte sie sich mehr über Gabriel als über ihre Mutter, der sie ohnehin alles zutraute. Erst später erfuhr sie, dass Gabriel versucht hatte, Julia umzustimmen. Aber Julia ließ sich nicht umstimmen. Sie hatte sich etwas in den Kopf gesetzt und wollte ihre Tochter nicht dabeihaben. Selbst die Möglichkeit, sie in Spanish California ins Internat zu geben, statt sie nach Nam Van zurückzuschicken, schloss sie aus. Denn sie sah auf einmal ihre Chance, aus dem Schatten von Nam Van herauszutreten, Tovo zu vergessen und sich vollständig aus der Rolle der Mutter zu lösen. Sie würde an eine frühere Zeit anknüpfen, als sie nur für sich selbst verantwortlich gewesen war, eine Zeit auch, in der sie mit ihrer Schwester tiefer verbunden gewesen war als mit jedem anderen Menschen. Nicht zuletzt hoffte sie, Ritas Kontakte zu nutzen, um sich den Traum von einem Leben vor der Kamera zu erfüllen.

Das Internat war inzwischen für Mädchen geöffnet worden und genoss unter der besseren Gesellschaft von Laguna und Nam Van einen hervorragenden Ruf. Benedita ging über dieselbe Brücke, an der Tovo und Gabriel gestanden hatten, als die Limousine ihres Vaters mit knirschenden Reifen vorgefahren war, sie aß dasselbe fade Essen im Westsaal, lauschte denselben Predigten und spielte auf denselben Sandplätzen Tennis. An den Heimfahrtswochenenden wohnte sie im Majestic oder bei Gabriel, der die meiste Zeit auf einer eleganten Zweiundvierzig-Fuß-Slup namens Stardust II verbrachte, die im Alten Hafen lag und ebenso wenig bewegt wurde wie die Jasmin. Sie lud ihre alten Freundinnen aus Nam Van zum Essen im Restaurantschiff oder zum Schwimmen im Hotelpool ein, bis sie begriff, dass sich diese Freundinnen mehr für die goldene Schlüsselkarte interessierten, mit der sie, so schien es, die gesamte Stadt aufschließen konnte, als für sie selbst. Als sie drei Jahre später den Abschluss machte, war ihr der Studienplatz in Geest bereits sicher. Sie packte ihre Tasche, ging über die Brücke und blickte nicht mehr zurück. Ricardo wartete auf dem Parkplatz. Zwei Wochen später brachte Gabriel sie zum Flughafen. Als sie sich hinter der Kontrolle noch einmal nach ihrem Onkel umblickte, sah sie, dass ihm die Tränen in den Augen standen.

Ihrer Mutter erzählte sie von ihrem Umzug erst, als sie in Geest Jannes Wohnung entrümpelt und renoviert hatte und bereits eingeschrieben war. Julia schien überrascht, dass sie die Schule schon abgeschlossen hatte.

»Wie die Zeit vergeht«, sagte sie. Sie war in diesen drei Jahren nicht einmal in Nam Van gewesen. Sie hatte ein paar Briefe geschrieben, in denen es nur um sie selbst ging, um Rita und ihre Freunde. Selbst wenn sie über Rita schrieb, schien es immer, als würde sie über sich selbst sprechen, über die andere Hälfte des doppelköpfigen Mischwesens, das sie waren.

Damals stiegen in Benedita die ersten Zweifel daran auf, dass Tovo ihr Vater war. Es waren Zweifel, die ihr einen Ausweg boten, die sie beruhigten und besänftigten, wenn sie nachts im Bett lag und sich von einer Seite auf die andere wälzte. Ihre Mutter dagegen musste sie anerkennen, die Natur hatte nichts anderes vorgesehen. Der Trick, den sie bei der Orgie auf der Waltzing Matilda gespielt hatte, ließ sich nicht wiederholen, erst recht nicht mit umgekehrten Vorzeichen. Julia, da gab es keinen Zweifel, war die Frau, aus deren Bauch sie einst gekrochen war. Aber Julia verhielt sich nicht wie eine Mutter, sie hatte es nie getan. Manchmal schien es Benedita, als wäre sie in Nam Van nur zu Besuch gewesen. Ein unbekümmertes, abenteuerlustiges Mädchen aus Spanish California, eine Frau, die nicht alterte und nichts dazulernte. Sie hatte die ersten, unbeschwerten Jahre, die sie in dem elektrisierenden Spannungsfeld zwischen Tovo und Gabriel verbracht hatte, genossen, und sie hatte ein hübsches und gesundes Kind zur Welt gebracht, aber als es plötzlich schwierig wurde, hatte sie sich – erst emotional und später auch physisch – verabschiedet. Das kurze Aufblühen einer Vertrautheit von Frau zu Frau, diese seltsame Freundschaft, die sie in Laguna und teils auch noch auf der Reise nach Spanish California zelebriert hatte, war nur das Vorspiel gewesen zu ihrem endgültigen Abschied.