Sie hatte lange davon geträumt, sich eines Tages küssen zu lassen, die Augen zu schließen in dem Wissen, dass es ihr guttun, dass es sie weiterbringen würde. Es war ein Schritt, den sie gehen musste, und den sie auch gehen wollte – der Schritt in die Welt der Erwachsenen, der Selbstverantwortlichen. Sie war kräftiger geworden, die Bahnen, die sie im Schwimmverein oder im Hotelpool täglich zog, hatten ihr Kreuz in eine gefällige Form gebracht. Sie trug schulterfreie, gerippte Tops in hellen Farben, die an dem breiten Gürtel ihrer Jeans endeten, und trug sich mit einer unverbrauchten Würde, die sie attraktiv machte, beliebt bei ihren Mitschülerinnen, beim Hotelpersonal und den anderen Erwachsenen, mit denen sie zu tun hatte.
Und als es dann geschah, als sich dieser hübsche, angenehme Junge über sie beugte und mit seinem süßen Atem anhauchte, war die Verwandlung, die sie für den entscheidenden Augenblick erwartet, beinahe vorgesehen hatte, längst schon geschehen. Das Bewusstsein, es aushalten, es sogar genießen zu können, hatte genügt, um ihr den letzten Schub zu geben, den sie brauchte, um in ein neues, eigenständigeres Leben einzutreten. Der Junge, dessen zarte, etwas zu volle Lippen sie schließlich unter der Flagge von Lascabanes berührt hatten, hatte damit letztendlich gar nichts mehr zu tun.
Sie ging über die Brücke von Badalamit in dem Wissen, dass ihr niemand etwas anhaben konnte, dass sie von niemandem beschützt, von niemandem legitimiert zu werden brauchte. Sie dachte weder an ihre treulose Mutter noch an Gabriel, der gerade in dem Dunst zu verschwinden schien, der sich innerhalb kürzester Zeit über ihre Kindheit gelegt hatte. Man würde sie ernst nehmen in diesem Internat, das für seine Schule berühmt und für seine veralteten Erziehungsmethoden berüchtigt war, niemand würde mit ihr spielen, und niemand würde sich mit ihr anlegen.
»Und du bist …?«
»Benedita.«
»Chou da Luz?«
»Ja.«
»Herzlich willkommen auf unserem bescheidenen Hügel. Dann zeige ich dir mal dein Zimmer.« Der Mann, Mitglied eines obskuren Sozialordens, schritt voran, sie lachte innerlich über seinen Entenhintern, den watschelnden Gang, der sein blondes Haar zum Wippen brachte. Ricardo folgte mit den Koffern.
»Du bist im Winterflügel, genau wie dein Vater damals«, sagte der Säger, und eine winzige, kaum wahrnehmbare Pause in diesem Satz verriet, dass er sich über die Familie mehr Gedanken gemacht hatte, als er einzugestehen bereit war. Sie drängte ihn nicht, aber sie antwortete auch nicht. Ricardo warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Diú, Ricardo, dachte sie, hast du diesen Arsch gesehen?
Tovo war im Winterflügel untergebracht gewesen, Gabriel mit den jüngeren Kindern im Sommerflügel. Die Brüder hatten sich kaum je gesehen, nur in der großen Pause auf dem Schulhof hatten sie sich manchmal von weitem eher lässig zugewinkt. Gabriel wollte nicht zugeben, dass ihm die Anwesenheit seines größeren Bruders Sicherheit gab, ein Gefühl hauchfeiner Überlegenheit, die genügte, um ihn aus der Masse seiner Klassenkameraden herauszuheben. Tovo allerdings hatte anderes im Kopf, als sich mit seinem kleinen Bruder abzugeben. Während Gabriel im Sommerflügel von der Freiheit träumte, von der unendlichen Weite der Weltmeere, bereitete sich Tovo im Winterflügel auf das Leben vor wie auf einen über zwölf Runden gehenden Kampf.
Benedita wusste bereits, dass das Internat eine Art Gesellschaftsminiatur war. Wie in jeder anderen Gesellschaft gab es auch in Badalamit Schichten und Gruppierungen, Cliquen und Seilschaften. Die Kinder der Reichen, der Wohlhabenden und Berühmten aus Laguna herrschten mit ihren glänzenden Namen, mit ihren Seidenschals und Opiumdöschen seit Generationen über das Internat. Die Bauernkinder aus der Gegend, die man mit Stipendien ausgestattet und aufgenommen hatte, um das soziale Gewissen der Institution zu beruhigen, bildeten die Schicht der Unberührbaren. Die kleine, aber einflussreiche Gruppe aus Nam Van, unter denen Benedita aufgrund ihres goldenen Familiennamens, vielleicht auch aufgrund der Gerüchte, die sich um das Verbrechen ihres Vaters rankten, eine Sonderstellung einnahm, verstand sich als großbürgerlich, künstlerisch und intellektuell. Ihr schloss man sich an, wenn man die kritische Auseinandersetzung suchte, vor allem mit dem System des Internats selbst, das durch seine Hierarchien, seine Strafen und Bevorzugungen und die nur unzureichend verborgenen Unsicherheiten seines Personals geprägt war. Bei den anderen galten die Kinder aus Nam Van gelegentlich als überheblich und immer auch ein wenig verrückt.
Benedita musste sich in dieser Clique nicht etwa einreihen, sie musste sich nicht hineinfinden, sie nahm einfach den ihr zustehenden Platz ein. Sie stand beinahe vom ersten Tag an einer Gruppe vor, die ihre Bedürfnisse nach Nähe und Anerkennung mehr als erfüllte. Die anderen, die verwöhnteren Kinder aus Laguna, die tölpischen Jungen aus dem Norden, waren für sie wie Fremde. Tatsächlich hatte sie den Eindruck, als wäre die Gruppe, der sie angehörte, größer, mächtiger und in gewissem Sinne zentraler, als sie tatsächlich war. Als sie das Internat später verließ und überlegte, mit wem sie eigentlich in Kontakt bleiben wollte, fielen ihr nur drei, vier Namen ein.
Ricardo verabschiedete sich, sie umarmte ihn. Als er die Tür hinter sich zuzog, hauchte sie ihm ein kurzes ›Danke‹ hinterher, das er nicht mehr hörte. Es war vollkommen still, so still, dachte sie, wie es sich für einen Neubeginn gehört. Sie sah sich in ihrem Zimmer um. Die beiden Koffer standen auf dem Boden vor einer Waschnische, über der ein hochgezogenes Bambusrollo hing. Sie zog die Schuhe aus, stand barfuß auf dem sandfarbenen, warmen Steinboden. Ein großes Doppelfenster umrahmte die Landschaft, ein Gemälde von merkwürdig abgerundeten, auf sattgrüne Reisfelder gestülpten Hügeln. Sie wirkten wie die Hüte von Giganten, abgelegt in einer Landschaft, die beinahe bedrohlich fruchtbar war und kaum Platz für Menschen zu bieten schien. Nichts rührte sich auf den schmalen Terrassenfeldern, nicht ein einziger Büffel zog seine Bahn. Nur ein Bussard drehte über dem Tal seine Kreise.
Als sie das Fenster öffnete, wehte es kühl herein. Während es in Nam Van weder Winter noch Sommer gab, konnte es in dem über zweieinhalbtausend Fuß gelegenen Badalamit sogar schneien. Wenn die Bauernkinder im Sommerflügel in Decken gehüllt auf ihren Betten saßen und ihre niedlichen kleinen Götzen schnitzten, wärmte die kräftige Sonne den nach Südwesten ausgerichteten Winterflügel. Benedita und ihre Freunde stießen die Fenster auf und badeten im warmen, weichen Licht, das zwischen den Hügeln hindurchbrach und die roten Tennisplätze zum Leuchten brachte. Die Gruppenhäuser im tiefergelegenen Teil des Campus, wo sich die Cliquen aus Laguna konzentrierten, lagen nachmittags bereits im Schatten.
Das Abendessen fand im Westsaal statt, nach der Stille der Ankunft war der Lärm beinahe unerträglich. Hundert Schüler klapperten mit ihrem Besteck, hundert Schüler begrüßten sich lautstark, tauschten über die Tische hinweg ihre Ferienerlebnisse aus. ›Hey, wie war deine Reise?‹ ›Wie fandst du die Tutorin?‹ ›Das neue Boot, ja, ein Gleiter, ein echter Gleiter. Geht ab wie eine Rakete!‹ Benedita saß mit kreisendem Löffel da, verwirbelte Kirschmus und Sahne auf einem Pfannkuchen, nickte, wenn ein Blick sie traf, und sprach nur das Nötigste. Es wussten ohnehin alle, wer sie war.
Später, als die Lichter ausgeschaltet wurden, stieg sie mit zwei Mädchen, Schwestern aus Nam Van, die sie flüchtig kannte, durch eine Luke aufs Dach. Der Rauch, der ihren Mündern entströmte, verflüchtigte sich ins All, das zum Greifen nahe war. Du wirst dich hier gut zurechtfinden, sagten sie, und Benedita nickte und dachte: Das braucht ihr mir nicht zu sagen. Und sie beschloss, das Internat zu erobern, ohne sich tatsächlich einzurichten. Es war ein Übergang, eine Zwischenstation, sie hatte nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen. Sie würde sich ein wenig ausprobieren, sich recken und strecken in diesem Leben, auf das sie bestens vorbereitet war, sie würde den Abschluss machen und verschwinden. Aus Badalamit, das ihr jetzt, an diesem ersten Tag, schon ein wenig zu klein schien, und auch aus Nam Van. Niemand sollte sie zurückhalten. Sie steckte fest im Internat, und sie war frei.