27 · Gabriel

Benedita hat den Kopf auf eine Tauwerkschnecke abgelegt, die Schlepper dröhnen. Er sucht den Horizont nach Positionsleuchten ab, wie er es tage- und nächtelang auf seinen Touren getan hat, es ist ein Automatismus, den er nicht abschalten kann. Ihre Fragen sind wie Tropfen, die sich langsam, einer nach dem anderen, von einem tropengroßen Blatt lösen. Sie öffnet die Augen, sieht ihn von unten an. Wie navigiert man nach den Sternen? Wie funktioniert ein Sextant? Was hast du gemacht, wenn es bedeckt war? Mit Astronomie kennt sie sich aus, er staunt, wie viel sie darüber weiß. Er erzählt ihr von seinen Reisen, spricht über die Einsamkeit, die Zweifel, die aufkommen, wenn es einfach nicht weiter geht. Die Flauten waren manchmal schlimmer als die Stürme.

»Es gab Momente, da war ich überzeugt, dass ich verrückt geworden war. Einmal stand ich in der Kajüte, das Notbeil in der Hand, es fehlte nicht viel, und ich hätte auf die Bordwand eingehackt.«

»Aber du hast es geschafft. Du bist um die Welt gesegelt.«

»Ich bin um das Kap gesegelt. Ich bin Eisbergen ausgewichen, die Sturmfock riss. Als ich in Spanish California ankam, konnte ich nicht mehr. Ich habe die Vorstellung, noch einmal für zwei oder drei Monate allein zu sein, nicht ertragen.«

»Gabriel?«

»Ja?«

»Kann es sein, dass du mein Vater bist?«

Gabriel sieht sie an. Sie hat die Augen geschlossen. Sie wartet auf eine Antwort. Er weiß, was sie will. Sie will die letzte Verbindung zu Tovo lösen. Sie will das Seil kappen, das sie in die Tiefe zieht.

»Nein«, antwortet er schließlich. »Nein, auf gar keinen Fall.«

»Aber Julia und du, ihr wart zusammen.«

»Wir hatten eine schöne Zeit auf der Stardust.«

»Und danach?«

»Als wir in Nam Van ankamen, ging es noch ein paar Monate so weiter. Ich habe versucht, mich nach der langen Abwesenheit neu zu sortieren, ich habe viel gearbeitet, erst im Hotel und dann im Rathaus. Julia wurde in den Kreis um Tovo gezogen. Irgendwann ging ich nicht mehr zu ihr. Wir haben uns zwar nicht aus den Augen verloren – sie war ja immer da –, aber da war nichts. Und auch als sie verheiratet waren, ist nichts gewesen.«

Sie mag äußerlich ruhig wirken, aber er spürt ihre innere Anspannung, die beinahe körperlich ist. Ihr Umzug nach Geest war ein Befreiungsschlag, sie hat alles richtig gemacht. Aber jetzt liegt sie hier auf dem Oberdeck der Jasmin und sucht ihren Platz in der Familie. Beinahe reut es ihn, dass er sie eingeladen hat, dass er sie aus dem Leben, in dem sie sich gerade erst eingerichtet hat, aufscheucht.

»Wer war diese Frau, Janne?«, fragt Benedita nach einer Weile. »Es ist noch immer ihre Wohnung. Sie ist noch immer da. Ich habe alles geräumt, alles renoviert. Und trotzdem. Sie ist wie ein Gespenst, manchmal, in der Nacht, höre ich sie atmen.«

»Wenn du deine Urgroßmutter verstehen willst, wenn du sie vielleicht sogar loswerden willst, musst du auch Anna verstehen«, antwortet Gabriel. Er kann seiner Nichte nicht sagen, wer sie ist, aber er kann ihr immerhin andeuten, woher sie kommt. Janne und Anna haben ihm damals alles erzählt, jede aus ihrer eigenen Perspektive. Er hat sich alles gemerkt, jedes Detail. Weil er seine Mutter nicht verstand. Niemand verstand Marike, niemand wusste, was in ihr vorging, als sie noch am Leben war. Gabriel hatte begriffen, dass der Schlüssel zu ihrem Inneren in ihrer Vergangenheit lag, in dem Spannungsfeld zwischen den Schwestern, ihrer bitteren Konkurrenz.

»Anna und Janne waren Komplementäre«, sagt Gabriel. »Sie haben sich ergänzt, und weil sie sich so ergänzt haben, haben sie sich gehasst.«

Er erzählt ihr, was er über die Zeit im Frauengefängnis weiß. Janne muss es genossen haben, ihre herrische Art auszuleben. Das Gefängnis befand sich in einem Vorort namens Freiberg, sie wird die Häftlinge genauso herumkommandiert haben, wie sie auch die Belegschaft im Majestic herumkommandierte. Dieser scharfe Ton, den sie manchmal hatte, er muss aus dieser Zeit gestammt haben.

Anna war die ältere der beiden. Eine Cartomante. Sie legte Tarot, das war ihre Arbeit. Sie hielt sich nicht für eine Wahrsagerin, eher für eine Therapeutin. Unmittelbar nach dem Krieg mietete sie sich in einer Baracke ein und empfing ihre ersten Kunden. Schnell sprach sich herum, dass sie die Zeichen der Zukunft lesen konnte. Reiche Witwen kamen zu ihr, Geschäftsleute, die Oberhäupter der großen Handelshäuser. Sie hörte zu, legte ihnen die Karten und sagte, was sie sagen musste. Das war nicht immer das, was ihre Kunden hören wollten, aber es war das, was ihnen am ehesten weiterhalf. Das war ihre Arbeit. Ihre Aufgabe, so beschrieb sie es einmal, bestand darin, die Leute so zu belügen, dass es ihnen nützte.

Da sie auch Politiker beriet, übte sie eine erhebliche Macht aus. Denn meistens wusste sie auch, was die politischen Gegner ihrer Kunden dachten und planten. Sie beeinflusste Entscheidungen, die alle Bürger betrafen. Mit ihrer Gabe des Zuhörens, mit ihrer sanften, sinnlichen Sprache und dem außerordentlichen Gedächtnis schien es manchmal, als würde sie behutsam die Geschicke der Stadt lenken.

Soweit Gabriel weiß, hat sie diese Macht nur ein einziges Mal zu ihrem persönlichen Vorteil genutzt, bei einem Zigarettenfabrikanten. Die Zigarettenfabrik war ein Familienunternehmen, der Unternehmer wartete auf den Tag, an dem seine beiden Brüder aus dem Unternehmen ausscheiden würden. Er wollte den Rückzug forcieren, und er wollte auf alles vorbereitet sein. Anna beriet ihn, unterstützte und ermutigte ihn. Wenig später bot der Mann ihr eine Stelle an. Sie trat in die Verwaltung ein und stieg Jahr um Jahr immer weiter auf, mit fünfzig und bis zu ihrer Pensionierung saß sie selbst in der Geschäftsführung.

Sie empfing auch die ärmeren Leute aus der Neustadt, die nur wenig zahlen konnten, Frauen, die verzweifelt waren, die einfach nicht weiterwussten. Männer waren verschwunden oder tot, niemand wusste Bescheid, alle stocherten im Nebel. Die Karten lüfteten ein wenig das Geheimnis, die Rituale halfen – auch die, die sie als junge Frau in Nam Van kennengelernt hatte. Sie mischte alles zu einem einzigen, großartigen Potpourri, die katholischen Elemente, das Fremde, das Andere. Sie praktizierte eine Art hausgemachte Santería. Weil es nach dem Krieg nichts gab, weil man natürlich auch aus Nam Van nichts bekommen konnte, improvisierte sie. Sie stellte Räucherkerzen aus Wacholder und Salbei her, sie verabreichte Laudanum und Pilze in winzigen Dosen und entwickelte ihre eigene Sprache der Beschwörung, ihr eigenes Abrakadabra. Aber bei all dem nahm sie sich selbst niemals zu ernst. Sie half und diente, wo sie konnte, sie war eine echte Menschenfreundin.

Janne hatte im Gefängnis die Frühschicht, sie holte Marike nach der Arbeit von der Schule ab. An einem Freitag kurz nach dem Krieg, Marike ging in die zweite Klasse, verspätete sie sich, die Fähre war ausgefallen. Marike hatte die Anweisung, in diesem Fall am Tor zu warten. Es hatte immer wieder Berichte gegeben von Kindern, die in den Trümmern herumgeklettert waren, die sich verletzt hatten oder gar verschüttet worden waren. Also wartete sie, eine halbe Stunde lang, dann wurde ihr kalt, sie hatte Hunger und Angst. Sie ging durch die Trümmer allein nach Hause.

Janne hetzte zur Schule, traf aber niemanden mehr an. Nicht einmal den Hausmeister. Das Tor war verschlossen. Sie lief nach Hause, auch dort fand sie Marike nicht. Sie suchte die halbe Stadt nach ihrer Tochter ab, rannte panisch durch das Viertel. In der Bäckerei schließlich sagte jemand, sie solle es bei den Baracken bei Anna versuchen. Janne hatte keine Ahnung, wo Anna war, was sie machte. Sie rannte zu den Baracken und scheuchte alle möglichen Leute auf, Opiumsüchtige, Flüchtlinge, Prostituierte und ihre Freier, bis sie endlich in Annas kleiner, abgedunkelter Kammer stand. Anna saß auf einem großen roten Kissen, sie trug einen roten Umhang und eine Goldmünze auf der Stirn. Räucherstäbchen, ein kleiner, plätschernder Zimmerbrunnen in der Ecke. Janne war fassungslos, und Anna war es auch.

»Was ist los?«, fragte Anna. »Was machst du hier?«

»Das frage ich dich.«

»Ich arbeite.«

»In einem Hurenhaus?«

»Ich arbeite. Es geht dich nichts an.«

Janne interessierte sich für Annas Lebenswandel nur insofern, als sie Geld mit nach Hause brachte, das Schulgeld für Marike und den Anteil für die Haushaltskasse. Anna hatte ihr nie erzählt, was sie tat, und Janne hatte, vermutlich weil sie vom Schlimmsten ausging, nie gefragt.

Jetzt stand sie da in dem kleinen Zimmer und sah auf ihre Schwester herab, auf diese absurde Inszenierung.

»Wo ist meine Tochter??«, brüllte sie.

»Beruhig dich, es ist alles in Ordnung«, sagte Anna.

Anna verstand den Vorfall als Bestätigung für etwas, das sie schon lange gespürt hatte – dass Marike zwar Jannes Tochter war, dass sie aber unter ihrem eigenen Schutz stand und in ihre Obhut gehörte. Janne war nicht fähig, ein Kind dieses Alters zu behüten und zu versorgen, weder in praktischer Hinsicht noch in emotionaler. Sie war fleißig und mutig – immerhin hatte sie sich mitten in der Katastrophe scheiden lassen – ihre Hände waren rau vom Nähen und Schrubben, doch das reichte nicht einmal annähernd aus, um ein kluges und sensibles Mädchen wie Marike, das Wertvollste, das sie beide nach dem Krieg noch hatten, großzuziehen. Außerdem liebte Marike nicht ihre Mutter, sondern Anna, die wärmere der beiden Schwestern, sie liebte es, in ihrem Schoß zu sitzen, sich an die große Brust zu lehnen wie an ein weiches, duftendes Kissen, und ihren Geschichten zu lauschen. Anna war gebildeter als ihre Schwester, die mit fünfzehn in die Lehre gegangen war, sie hatte mehr gesehen. Sie erzählte von der sagenhaften Stadt Nam Van, von ihrer Zeit dort, von Papa Chou, dem Mann, an den sie mit neunzehn ihr Herz verloren hatte. Janne besaß kein Herz, sie war hart, knochig und verbissen, es war unmöglich, sie zu lieben oder Zuflucht und Wärme bei ihr zu suchen. Selbst das kleine, achtjährige Mädchen, das ihre leibliche Tochter war, konnte sich ihr nicht anvertrauen.

Marike war allein aus der Schule gekommen, sie kannte den Weg, und es war nichts passiert. Anna, die zur Arbeit musste, hatte sie auf der Straße getroffen und mitgenommen. Jetzt saß das Kind bei dem Ehepaar, das die Baracken vermietete, am Küchentisch und aß Haferplätzchen. Gute Leute, Leute, denen Anna vertraute.

Möglich, dass dies der Punkt war, an dem das, was die Schwestern einst verbunden hatte, in diesen bitteren, unauslöschlichen Hass umschlug. Janne stürmte hinaus, lief über die Straße und holte ihre Tochter aus dem Haus des Vermieters.

»Ich bin die Mutter!« Sie bedankte sich nicht, sie verabschiedete sich nicht, sie zerrte ihre Tochter, die noch den Keks in der Hand hatte, einfach am Arm aus der Küche.