28 · Dita

Man kann Annas Hof besuchen, es gibt dort einen Streichelzoo und eine sogenannte Integrative Käserei, in der Kinder jeglicher Klasse, Herkunft und Fähigkeit dem Käse beim Reifen zusehen können, wie Tobias, ihr Manchmalfreund, es einmal ausgedrückt hat. Benedita versteht, welche Rolle die Schwestern im Leben der Familie gespielt haben, sie weiß auch, dass Anna die großzügigere und warmherzigere der beiden war. Aber es ist Janne, mit der sie sich identifiziert, seit sie die Wohnung übernommen hat. Der Geist der Hundertjährigen lebt in ihren Räumen fort. Sie hat behutsam renoviert, ein weißer Kachelofen steht im Wohnzimmer, der gusseiserne Griff glänzt und erzählt seine Geschichte. Sie hat Unterlagen gefunden, sauber beschriftete Ordner. Janne hat alles dokumentiert, nichts weggeschmissen. Sie hatte einen Ordner über die Arbeit im Gefängnis, einen Ordner zu den verschiedenen Streitereien und juristischen Angelegenheiten, einen Ordner mit uralten, schon brüchigen Unterlagen über die Scheidung. Die Geschichte dieser Scheidung wurde immer wieder leicht abgewandelt, je nachdem, wer sie erzählte. Benedita, die manchmal in diesen Akten blättert, hat das Gefühl, dass sie noch nicht einmal die Oberfläche angekratzt hat. Für Janne, so Gabriel, war die Scheidung eine Befreiung, eine Selbstermächtigung gewesen. Anna dagegen säte Zweifel an der Aufrichtigkeit ihrer Schwester, manchmal schlich sich ein hämischer Ton ein, wenn sie über diese Ereignisse sprach. Sie mochte Magnus und stand auch später noch mit ihm in Kontakt.

Es gibt Tage, an denen sie abends erschöpft in die Wohnung zurückkehrt und das Gefühl hat, dass da jemand ist. Sie spürt eine Gegenwart. Und dann findet sie die Hundertjährige in ihrem Sessel vor, klein, eingefallen, verschrumpelt, eingelegt in Formaldehyd, ein Schatten der Frau, die Benedita von den Fotos kennt. Gelbe Augen, Adern, Knochen und eine Haut wie Pergament. Janne legt sofort los, ohne Gruß, ohne eine Nettigkeit, es ist, als hätte sie Tage oder Wochen oder ganze Monate auf Benedita gewartet, um ihr ihre Seite der Geschichte zu erzählen. Sie schimpft über Anna und über den ehrlosen Mann, den sie einst geheiratet hat, sie erzählt von ihrer Schneiderlehre, wie sie sich beim Kerzenschein die Augen ruiniert hat, weil sie ein Reformkleid für Anna nähen musste, die auf den Dampfer Amboyna ging, um dort Gott weiß was zu machen. Sie hat ihr das Kleid als Überraschung in den Koffer gelegt, Anna hat sich nicht einmal bedankt. Warum ich das gemacht habe? Sie konnte ja nicht im Flapperkleid, mit Pailletten und glitzernden Fransen an Bord gehen, du hättest sie sehen sollen, wie sie damals zum Tanztee erschienen ist. Janne hätte nach der Gesellenprüfung weitermachen können, der Meister hat es ihr damals angeboten, weil sie so geschickt und fleißig war. Aber sie hat Magnus geheiratet, diesen schrecklichen Mann, er hatte schon während ihrer Verlobungszeit Affären, da ist sie sicher. Wenn sie sonntags zum Tanz gingen, verschwand er manchmal, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde oder länger, wer weiß, vielleicht hatte er sogar etwas mit Anna. Also kein Meisterbrief, nach dem Krieg bewarb sie sich im Gefängnis. Immerhin konnte sie das Haus wiederaufbauen. Das waren alles Huren, vom Flittchen zur Hafenhure war es damals nur ein kurzer Weg. Arme Frauen, prekäre Existenzen? Nein, wer arbeiten wollte, fand auch Arbeit, die waren faul und bekamen, was sie verdient hatten. Chlamydien, Krätze, den ganzen Dreck, Haftstrafen von einem halben bis zu fünf Jahren. Die Wohnung ist überheizt, der Kachelofen glüht, Benedita zieht den Pullover aus und legt ihn über die Stuhllehne. Sie will aufstehen, um ein Fenster zu öffnen, aber Janne herrscht sie an. Bleib sitzen, ich bin noch nicht fertig! Vermutlich hat Janne Angst, sich zu verflüchtigen, wenn sie die frische Seeluft hereinlässt, sie ist ein Geist oder ein Gespenst und hat noch eine Menge zu erzählen. Zwanzig Jahre hat sie auf diesen Moment gewartet, um Benedita ihre Version der Geschichte zu erzählen, sie ist im Wettlauf mit der Zeit. Ein Glas Wasser? Nein. Sie ist schon bei Marikes Bestattung, eine Feuerbestattung, sie fand das geschmacklos, sie hätte es niemals zulassen sollen. Sie war die Mutter, aber niemand hat sie gefragt. Dann erzählt sie von Gustavo, der sich mit ihrer Schwester verbündet habe, um einen Keil zwischen sie und ihre Tochter zu treiben, was ihm aber nicht gelungen sei. ›Marike und ich, wir sind immer fest miteinander verbunden gewesen, trotz aller Widrigkeiten. Meine einzige Tochter. Mein Licht! Mein Engel! Ich habe das alles nur für sie getan. Die ganze Arbeit. Ich habe mir die Augen ruiniert … bis spät in die Nacht habe ich genäht, in der schweren Zeit, bis auch der letzte Mantel und das letzte Kleid repariert waren.‹

Benedita hat Durst, sie hat Hunger, sie würde jetzt gern in die Küche gehen, um sich ein Butterbrot zu machen, sie weiß aber nicht, wie sie ihre tote Urgroßmutter unterbrechen soll, die von Thema zu Thema hetzt, bis sie sich verschluckt. Benedita kennt die Anatomie der Kehle, sie übt den Kehlschnitt und hat alle Details vor Augen. Kann ein Mensch zwei Mal sterben? Könnte es sein, dass uns alle hundert Jahre ein neuer Tod zugedacht ist? Schließlich geht die Klingel, es ist Tobias, der noch immer keinen Schlüssel hat, sie hat es nicht angeboten, und er hat es nicht gefordert. Sie sieht zur Tür und möchte aufstehen, und als sie wieder zum Sessel hinüberschaut, um die Erlaubnis dieser unfassbar verbitterten Frau einzuholen, die sie nie kennengelernt hat, ist der Geist verschwunden.