29 · Gabriel

Die Schlepper versehen ihren Dienst wie Ackerbüffel. Sie ziehen die Furchen, die Arbeit ist schwer, aber sie können sich kein anderes Leben vorstellen. Der Horizont beginnt sich aufzuhellen, die Sterne verlieren ihren Glanz. Venus, im Sternbild Zwilling, eilt der Sonne voraus, Mars steht im Zenit. Sie breiten ein blaues Tuch aus und legen darauf, was sie mitgebracht haben, Brot mit getrockneten Tomaten, dazu Schafskäse und die abgelaufenen Oliven aus der Küche. Die Arbeiter bringen starken, beinahe dickflüssigen Kaffee, den sie mit Milchkaramell servieren. Keine besonderen Vorkommnisse, sagen sie, alles ist nach Plan gelaufen. Während Benedita den Kaffee einschenkt, steht Gabriel an der Reling und steckt sich eine Zigarette an.

Sie hat ein paar Sachen in der Wohnung gefunden, einen Aktenordner mit den Unterlagen zu Jannes Scheidung, Marikes Schulzeugnisse, Schnittmuster in Kindergröße. Gabriel fragt sich, warum er sich für diese Dinge interessiert, warum er den Geschichten der Schwestern so aufmerksam gelauscht hat. Er hat sich immer als jemand gesehen, der außerhalb der Familie stand. Als hätten sie ihn damals ins Internat zurückgebracht und vergessen. Er schien einfach nicht Teil ihrer Planung zu sein. Tovo war der Erbe, Tovo wurde gebraucht. Gabriel, der nie Schwierigkeiten machte und immer gute Noten nach Hause brachte, konnte tun und lassen, was er wollte. Gabriel ist ein Selbstläufer, hat Gustavo einmal gesagt, und das bedeutete, dass es keinen Grund gab, sich um ihn und seine Bedürfnisse zu kümmern.

Später, wenn er auf dem Meer war, war er von allem abgetrennt. Er war nicht erreichbar, sie ließen ihn in Ruhe, niemand kam auf die Idee, ihn in Familienangelegenheiten oder geschäftliche Entscheidungen einzubinden. Nur als Anna starb, beauftragte Tovo jemanden, ihn zu finden, ein ganzes Heer von Amateurfunkern machte sich auf die Suche, die Relaisstationen brummten. Man fand ihn in Levuka, einem alten Piratennest, wo er sich mit einer Frau namens Suva eingelassen hatte, die tagsüber mit ihren beiden Kindern an Bord kam, und nachts mit einer Flasche Cognac. Sie nannte ihn Skip oder Stardust, sie küsste seinen braungebrannten Körper und schmiegte sich an ihn. Einmal schnitt sie ihm unter dem Gelächter der Kinder auf dem Steg die Haare.

Anna war nach einem Sturz aus dem Haupthaus getragen worden. Sie wurde durchleuchtet, der schwere Körper war voller Metastasen. Sie fiel ins Koma, ein paar Wochen später war sie tot. Ihr gesamtes Erbe fiel an ein Heimatmuseum in einem Küstendorf bei Geest, das in zwei Auswanderungswellen nahezu entvölkert und bei zwei Sturmfluten beinahe fortgespült worden war. Der einzige Zweck dieser Vorkehrung war, ihre Schwester vollständig und unwiderruflich vom Erbe auszuschließen. Anna verfügte nicht nur, dass Janne nichts erhalten sollte, sie verbot ihr ausdrücklich auch, nach ihrem Tod den Hof zu betreten oder an der Beerdigung teilzunehmen.

Auch Gabriel war nicht dabei. Die Flugverbindungen waren unregelmäßig, die Reise hätte mehrere Tage in Anspruch genommen, er hatte nicht einmal die Möglichkeit, einen Anzug zu kaufen. Es genügte, dass Tovo die Familie aus Nam Van vertrat. Gabriel trauerte auf seine Weise. Er füllte den Wassertank, verabschiedete sich von Suva und den Kindern und lief aus. Anna und Ricardo waren die einzigen gewesen, die ihm damals beigestanden hatten, die einzigen, die ihn je gefragt hatten, wie es ihm nach dem Tod seiner Mutter ergangen war. Weder in Nam Van noch im Internat hatte sich irgendjemand für seinen Schmerz interessiert.

Gabriel war gerade zehn Jahre alt geworden und bereitete sich auf den Umzug ins Internat vor, als sich Janne für den Sommer in der Suite installierte und keine Anstalten machte, nach Geest zurückzukehren. Sie erkannte, dass Gabriel reif genug war, um ihre Geschichte zu verstehen, aber noch nicht alt genug, um sie abzutun. Er befand sich in dem kurzen Zeitfenster zwischen Kindheit und Pubertät, in dem sie ihn auf ihre Seite ziehen konnte. Sie nutzte die Gelegenheit, lud ihn immer wieder zu sich ein und erzählte ihm schlaglichtartig, wie sie die schwierigen Kriegsjahre erlebt hatte und welchen Weg Marike, die ein begabtes und hübsches Mädchen gewesen war, in der Zeit des Wiederaufbaus gegangen war. Tatsächlich gelang es ihr mit diesen Erzählungen, seine Neugier zu wecken.

Als sie schließlich doch abreiste, fragte er seine Mutter aus. Warum hat sie sich damals scheiden lassen? Was ist da vorgefallen? Er hatte die Auslassungen in Jannes Erzählungen gespürt, die Pausen, in denen sie geräuschvoll die Luft einsog, als wollte sie sich ihres eigenen Körpers versichern.

»Das verstehst du noch nicht«, antwortete Marike. Sie saß in einem pfauengemusterten Yukata auf dem Sofa hinter der goldenen Fassade. Sie sah aus dem Fenster, bis ihr die Tränen kamen. Sie wandte sich ab und schickte ihren Sohn fort. Doch in den folgenden Tagen und Wochen kehrte sie immer wieder zu der Geschichte zurück, bis sie ihm schließlich alles erzählt hatte.

Es war Frühling, und sie frühstückten am Dock, und als sich Magnus, der als Schweißer arbeitete, gerade über seine Butterbrotdose beugte, fiel ihm ein pfundschwerer Schäkel in den Nacken. Der Betriebsarzt schrieb ihn krank und schickte ihn weiter zum Kollegen beim Militär, denn wer nicht arbeiten kann, eignet sich ja vielleicht noch für den Krieg. Der Kollege befand, noch am selben Tag, dass der Schweißer wehrtauglich sei. Magnus durfte zwei Wochen seinen Nacken auskurieren. Er zog das Gartentor hinter sich zu und marschierte mit seinem Seesack zur Kaserne. In der Ausbildung kam er ein paar Mal zu Besuch, trank lustlos seinen Tee und wechselte die Wäsche. Dann schickten sie ihn mit dem Zug an die Front.

Im September nahm Janne das Kind und fuhr ins Mittelländische, Magnus lag mit Durchschuss im Lazarett. Sie nahm ein Zimmer in der Stadt, das keinen Ofen hatte, arbeitete für die Wirtsfamilie und blieb, bis es zum Nähen zu kalt wurde. Zuerst bekam die Wirtin ihr bunt geblümtes Ausgehkleid und eine Jacke mit versteckten Innentaschen. Dann nähte sie Anzüge für den Vater und seinen fünfzehnjährigen, beinahe schon ausgewachsenen Sohn, und blaue Kniehosen, dazu zwei weiße Hemden, für den Nachzügler, einen Jungen, den sie Poppie nannten und der sich nachts die Schläfen blutig kratzte. Als die Kleidung fertig war, kümmerte sich Janne um die Hauswäsche: Bettbezüge, Tischdecken, Vorhänge. Das Tuch, das sie hatten, war von bester Qualität, der Anzugstoff, der auch noch für ein Jäckchen für den Kleinen reichte, war echter Cavalry-Twill, ein Stoff, den Janne nicht einmal in der Ausbildung zu Gesicht bekommen hatte.

Anfangs ging sie täglich mit Marike zum Lazarett, wo die Männer auf ihren Betten saßen, rauchten und Karten spielten. Der Saal, eine ehemalige Orangerie, war groß und hell, das Herbstlicht fiel golden durch die riesigen Bogenfenster.

Die Männer freuten sich, wenn Janne kam, sie freuten sich über den Tabak, den sie mitbrachte, und über das hübsche Kind, das sie auf die Knie nehmen und kitzeln konnten und das niemals Widerworte gab. Einige wollten mehr von Janne, sie hinkten ihr, wenn sie zur Arbeit zurückging, über den Lazaretthof hinterher, während Magnus schon wieder Karten spielte. Vor dem Schweißer hatten sie keine Angst. Komm her, riefen sie ihr nach, lass mich mal deine blonden Haare riechen, und bring mir morgen auch was mit, einen Wecken oder Schokolade! Aber sie brachte ihnen nichts. Was sie hatte, reichte gerade für sie und das Kind und für die zahlreichen Bedürfnisse des Schweißers.

Manchmal, wenn Janne in ihrem Zimmer blieb, weil sie die Näharbeit am Abend nicht geschafft hatte, ging Marike allein zum Lazarett, sie blieb dort bis zur Mittagszeit, wurde von den Männern verwöhnt und verhätschelt und fand allein den Weg zurück zu ihrer Mutter.

Ein paar Monate später, als sich der Schweißer zum zweiten Mal in den Arm schoss und nach Hause kam, wurde die Stadt beinahe täglich bombardiert. Beim Voralarm stand Janne von ihrer Nähmaschine auf und nahm das Kind an die Hand. Magnus blieb am Küchentisch sitzen, vor ihm lagen Stift und Papier. Er rauchte gemächlich und rührte sich nicht.

»Komm mit«, rief Janne, »komm schon, wir müssen in den Keller.«

»Geht, wenn ihr wollt, aber lasst mich in Frieden«, sagte der Schweißer. Was für ein Ausdruck: In Frieden!

»Aber was wird denn so wichtig sein, dass du nicht mitkommst?«, fragte sie gereizt. Die Sirenen heulten, auf der Straße hallten Rufe, Türen knallten.

»Ich schreibe etwas.«

Janne stürzte in die Küche zurück und entriss ihm den Brief. Viola, meine kleine Braut, las sie, was für eine Dreistigkeit, am Küchentisch, bei Frau und Kind. Sie waren auf einer Kirmes gewesen, Viola und er, er schrieb von einem Spiel, das sie zusammen gespielt hätten, er nannte es ›Verstecken‹. Offenbar hatten sie miteinander geschlafen. Wo? In einem Pensionszimmer? Hinter einem Kirmeszelt? Im Gebüsch? Jedenfalls kehrten sie danach auf den Festplatz zurück. Er schoss ihr eine Rose, einarmig, wie er sich im Brief stolz erinnerte.

Janne hatte längst geahnt, dass Magnus im Mittelländischen eine Freundin hatte. Sie reichte die Scheidung ein, der Richter stellte fest, dass Magnus die Ehe durch seine Beziehung schuldhaft zerrüttet habe, wie es damals hieß, Viola, die als Hilfsschwester im Lazarett arbeitete, war sechzehn Jahre alt. Janne war frei. Magnus verließ die Stadt und heiratete seine Geliebte, die schwanger war. Janne verbot der kleinen Marike jeglichen Kontakt zu ihrem Vater.

An dem Tag, als der Richter das Urteil fällte, wurden in der Stadt drei Schulen getroffen. Die städtische Krankenanstalt wurde zerstört, die St. Annenkirche, das Diakonissenhaus. Wenn Janne von diesem Tag sprach, dann klang es wie ein Triumphzug. Sie ging quer durch die Stadt nach Hause, Brandbomben fielen, Flammen schlugen aus Fenstern und einstürzenden Dächern. Die Menschen rannten kreischend, tatsächlich mit zerrauften und von Staub und Asche ergrauten Haaren über die Straßen und wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten. Janne, in ihrem besten Kleid, blickte zu den Geschwadern am Himmel hinauf, lachte und kehrte nach Hause zurück.