30 · Dita

Die Straßen von Geest sind glatt. Splitt liegt auf den Bürgersteigen, Weihnachtsschmuck hängt in den Fenstern. Ein orangefarbener Schriftzug verheißt Südfrüchte. Als sie die kräftigen Farben im Fenster sieht, den himmelblauen Fensterrahmen und die Plakate, die das süße Obst ihrer Heimat anpreisen, wird sie von einem nie zuvor verspürten Heißhunger gepackt. Die Papayas, die roten Bananen und das saftige, triefende Fleisch der Mangos fallen ihr ein, die sie in der Kindheit gegessen hat, das Wasser läuft ihr im Mund zusammen. Hundertmal ist sie auf dem Weg zur Straßenbahn an diesem Laden vorbeigekommen, er hat sie immer ungerührt gelassen. Jetzt tritt sie zum ersten Mal ein.

Eine ältere Dame, die gerade zwei rotwangige Birnen in der Hand wiegt, sieht sie an, reißt die Augen auf und wendet sich staunend zu der jungen Verkäuferin, die hinter einem weiß lackierten Ladentisch steht. Sie sieht mehrmals von Benedita zur Verkäuferin und zurück, sie mustert die beiden, als wären sie Gespenster. Als die Verkäuferin Benedita anspricht und fragt, ob sie helfen könne, ruft die Kundin: »Aber ihr seid doch … ihr seid doch … Zwillinge!«

Benedita sieht die Verkäuferin an. Grünlich schimmernde Augen, der sanfte Schwung des Nasenrückens, die glatte, hohe Stirn. Selbst ihre Frisuren ähneln sich.

»Ihr seid wie … wie … ein und dieselbe Person!«

»Stimmt das?«, fragt die Verkäuferin, bevor Benedita etwas sagen kann. »Sehen wir uns so ähnlich?«

»Aber ja!«, ruft die Kundin.

»Tut mir leid«, sagt Benedita und weiß selbst nicht, ob die Entschuldigung der Verkäuferin oder der Kundin gilt. »Wir kennen uns nicht.«

»Aber das ist unmöglich. Ich kann euch beide kaum auseinanderhalten«, sagt die Frau. »Ihr seid … wie die beiden Birnen hier!« Sie zeigt der Verkäuferin das Obst, das sie noch immer in der Hand hält.

Benedita lacht laut auf und tritt an die Ladentheke. Die Verkäuferin stellt sich vor, sie heißt Raphaela. Sie ist zwei Monate jünger als Dita und wohnt in einer Neubausiedlung im Norden der Stadt. Als weitere Kunden in den Laden treten, tauschen sie schnell die Telefonnummern aus. Letztendlich ruft Benedita nicht an, und auch ihre Doppelgängerin meldet sich nicht. Vermutlich würden sie nach kurzem Gespräch herausfinden, dass sie beide Nachfahren des Werftarbeiters sind, der sein Erbgut versprüht hat wie die Funken seines Schweißgeräts. Gabriel hat ihr erzählt, dass Viola, das Mädchen von der Kirmes, einen Sohn zur Welt brachte. Als der Junge zwei Jahre alt war, ließ Magnus seine ›kleine Braut‹ sitzen und kehrte nach Geest zurück. Er arbeitete wieder auf der Werft, heiratete ein drittes Mal und bekam weitere Kinder, deren Abkömmlinge nun die Stadt und ihre Vororte bevölkern und an der Strecke zur Straßenbahnhaltestelle Südfrüchte verkaufen.

Benedita hat in der Scheidungsakte einen von Magnus’ Briefen an Viola gefunden. Ob er ihn jemals abgeschickt hat, vielleicht in Reinschrift, weiß sie nicht. Er klingt so bedrohlich, dass es ihr beim Lesen eiskalt den Rücken herunterläuft, trotz – oder gerade wegen – des beinahe kindlichen Tons: ›Du musst mir ganz fleißig schreiben‹, schrieb er, ›damit ich ganzes Vertrauen zu dir habe. Wenn du nicht schreibst, komme ich auch nicht. Ich kann auch sehr böse sein, lass es nicht drauf ankommen. Du hast mir das Herz gestohlen, vergiss das bitte nicht. Du hast es alles so gewollt. Jetzt musst du natürlich sehen, wie du mit mir fertig wirst, denn es liegt alles nur an dir und wie du mich behandelst. Ich bin ja kein kleiner Junge mehr.‹

Es ist vor allem dieser letzte Satz, der Benedita so verstört. Möglicherweise bereut Viola, mit ihm geschlafen zu haben. Sie ist sechzehn, hat ihre Unschuld verloren an einen verheirateten Mann, der beinahe doppelt so alt ist wie sie. Jetzt verweigert sie sich ihm, vielleicht hat sie es ihm geschrieben, möglich auch, dass sie es beim Abschied gesagt hat. Aus seiner Sicht spielt sie ein perfides Spiel. Sie nimmt ihn als erwachsenen Mann nicht ernst, unterschätzt seine Kraft und seinen Willen. Er ist kein kleiner Junge mehr, mit dem man spielen kann. Er ist ein Tier. Er handelt nach dem Instinkt, den sie in ihm geweckt hat, seine Bedürfnisse müssen unbedingt gestillt werden. Sie hat den Anfang gemacht, jetzt muss sie sich fügen und unterwerfen.

Und wie ist er mit Janne umgegangen? Was hat er ihr angetan, dass sie so hart, so bitter wurde? Hat er sie ebenfalls bedroht? Als Janne den Schweißer kennenlernte, war sie nicht viel älter als dieses Mädchen. Sie hatte gerade erst die Schneiderlehre abgeschlossen, sie war naiv und leicht zu beeindrucken. Magnus, ein junger, kräftiger Hafenarbeiter, hat sie sich einfach genommen. Er hat mit ihr gemacht, was er wollte. Ich bin ja kein kleiner Junge mehr.